„Wir verneigen uns in Demut und Trauer vor den Millionen Opfern der Kriegsverbrechen“, konstatierte Landtagspräsident Dieter Steinecke am Beginn der Gedenkveranstaltung zum Holocaustgedenktag, der jedes Jahr am 27. Januar begangen wird. Es ist dies der Tag der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau durch die sowjetische Armee im Jahr 1945.
„All dies liegt ein ganzes Menschenalter zurück – warum brauchen wir dieses Erinnern noch?“, fragte Steinecke. Weil Vergessen, Verdrängen und Übersehen nichts an den Tatsachen und an dem begangenen Unrecht änderten. Man müsse den „geschärften Blick“ behalten, denn Unrecht geschehe auch heute noch, „Unrecht, das wir nicht verhindern, das wir sogar mitverantworten“. Man müsse sich jeden Tag fragen, ob der eingeschlagene Weg der richtige sei.
Auschwitz sei nicht nur ein Ort in Polen, sondern ein jeder Ort, wo Herzlosigkeit, Fremdenhass und Diffamierungen aufträten, so der Landtagspräsident. „Wir brauchen Orte des Erinnerns und des Lernens, sie sind stete Mahnung für den Erhalt des Friedens.“ Der Gedenktag sei ein Aufruf zu Versöhnung, Frieden und Achtung vor dem Leben.
Justiz war und ist gegen eine Schlussstrichpolitik
Die justizielle Auseinandersetzung mit nationalsozialistischen Gewaltverbrechen sei im vergangenen Jahr durch den Prozess gegen den ehemaligen SS-Angehörigen Oskar Gröning vor dem Landgericht Lüneburg in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt, sagte Dr. Frank Bajohr, Leiter des Zentrums für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte München. Dem „biederen Buchhalter von Auschwitz“ sei es auch nach sieben Jahrzehnten nicht gelungen, sich vor Gericht vom NS-Sprachjargon zu befreien. „Wer so sprach und spricht, hat sich offensichtlich nie in die Perspektive seiner Opfer hineinversetzt“, erklärte Bajohr.
Der Historiker nutzte seinen Vortrag, um eine kritische Bilanz zur juristischen Verfolgung der NS-Verbrechen zu ziehen. Drei Fragen seien in der Vergangenheit immer ausschlaggebend gewesen: „Warum erst heute? Warum noch heute? Wie lange noch?“
Immer wieder hätten die Strafverfolgungsbehörden ihr Vorgehen in besonderer Weise rechtfertigen müssen, erinnerte Bajohr. Trotz der Bemühungen sei das Ergebnis insgesamt dürftig ausgefallen, teilweise beschämend. Zwar habe es in Westdeutschland Ermittlungen gegen rund 100 000 Menschen gegeben, dies führte jedoch nur zu einer Verurteilung von 6 650 Personen. Die meisten Täter seien nicht nur straffrei davongekommen, sondern seien in einer mehr oder minder geschlossenen Gesellschaft auch wieder gut reintegriert worden.
Großes Manko der Strafverfolgung sei gewesen, dass die Staatsanwaltschaft in ihren Ermittlungen nicht nur relativ alleingelassen gewesen sei, sondern gegen eine „Schlussstrichpolitik“ habe ermitteln müssen.
Positiv hob der Historiker hervor, dass die justiziellen Anstrengungen dennoch niemals aufgehört hätten – weder im Westen noch im Osten Deutschlands. Eine Gesellschaft habe da gegen sich selbst ermittelt – ein nahezu einmaliges Vorgehen in der Geschichte. In Japan oder in der Türkei beispielsweise habe es keine (so raschen Versuche der) Aufarbeitung eigener Kriegsverbrechen gegeben.
Die strafrechtlichen Ermittlungen der Justiz gelten bis heute als Teil einer umfassenden Erinnerungskultur. „Wenn die deutsche Justiz auch heute noch gegen hochbetagte ehemalige NS-Täter ermittelt, dann geht es ihr dementsprechend nicht allein um die individuelle Bestrafung der Täter; sie leistet zugleich eine Form der Erinnerungsarbeit“, erklärte Bajohr.
Man sei es den Opfern selbst, aber auch deren Nachkommen schuldig, die Strafverfolgung nicht mit einem verordneten Schlussstrich zu beenden. Prozesse gegen NS-Täter böten zudem umfassende Möglichkeiten gesellschaftlicher Selbsterkenntnis und historischer Aufklärung. „Die meisten Täter des Holocaust entstammten keiner kriminellen Randgruppe mit einschlägigem Vorstrafenregister, sondern der sozialen Mitte der Gesellschaft.“ Gerade diese Form von „Normalität“ habe es den Tätern ermöglicht, nach dem Krieg wieder unbehelligt in ihr altes Leben zurückzukehren.
Eine umfassende Gerechtigkeit im Angesicht der nicht rückgängig zu machenden Massenmorde sei durch Gerichtsprozesse nicht zu leisten, räumte Bajohr ein. Nicht alle noch folgenden Taten würden verhindert werden oder zur Anklage kommen, aber man sende das Zeichen aus: „Wenn ihr aber diese Grenze überschreitet, dann werdet ihr für den Rest eures Lebens nie mehr sicher sein, nicht doch eines Tages zur Verantwortung gezogen zu werden.“
„Keinen Hass im Herzen tragen“
Sie sei am Ende des Zweites Weltkriegs ein zweites Mal geboren worden, da sei sie von den Alliierten befreit worden und wog als Zwölfjährige nur 17 Kilogramm, erinnerte sich Sara Atzmon.
Sie und ihre Familie sollten 1944 Opfer der großen Vernichtungswelle gegen die ungarischen Juden werden. 60 Familienmitglieder starben in den Lagern, Sara Atzmon selbst überlebte durch Glück: „Es war kein Platz für uns in Auschwitz, Auschwitz war überbucht“, so sei der Zug kurzerhand nach Österreich umgeleitet worden, das Leben war zunächst gerettet. Später wurde sie ins Konzentrationslager Bergen-Belsen deportiert. Verdreckt, verlaust und fast verhungert wurde sie von den Amerikanern befreit. „Nach einem halben Jahr in Bergen-Belsen sahen wir schon nicht mehr wie Menschen aus.“
Die verbliebene Familie entschied sich dafür, nach Palästina auszuwandern. Über die Erlebnisse wurde nicht geredet. Nur zwei Jahre später befand sich der soeben ausgerufene Staat Israel im Krieg. Vor gut 30 Jahren begann die Künstlerin Sara Atzmon, weltweit Vorträge und Gespräche mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen über die Kriegserlebnisse zu führen. Mittlerweile hat sie mehr als 250 Ausstellungen und Hunderte Vorträge absolviert.
„Ich habe es mir nicht ausgesucht, eine Holocaustüberlebende zu sein, aber ich habe mich dafür entschieden, alles zu tun, um über die Geschehnisse zu berichten“, betonte die Künstlerin. „Heute komme ich hierher zu Ihnen mit der großen Hoffnung, dass es keine Generation mehr geben wird, die zu solchen Taten fähig ist“, sagte Atzmon. Man dürfe in seinem Herzen keinen Hass tragen, so seien wir frei für gute Taten.