Die zentrale Gedenkstunde zum Holocaustgedenktag fand in diesem Jahr in der Magdeburger Staatskanzlei statt. Die Gedenkrede hielt der Historiker Prof. Dr. Michael Wolffsohn, Experte in Fragen der deutsch-jüdisch-israelischen Beziehungen, zum Thema „Zukunft der Erinnerung“. Zuvor waren am Mahnmal MAGDA, an der Stelle eines früheren Außenlagers des Konzentrationslagers Buchenwald, in Magdeburg-Rothensee Gedenkworte gesprochen und Kränze niedergelegt worden.
Statement des Landtagspräsidenten
Landtagspräsident Dr. Gunnar Schellenberger hatte am Rande der Veranstaltung in einem Statement geschrieben: „Es ist unsere Verantwortung, die Erinnerung wachzuhalten, aus der Vergangenheit zu lernen und uns gemeinsam gegen Antisemitismus, Rassismus und jede Form von Diskriminierung einzusetzen. Unsere demokratische Grundordnung und alles Handeln im Landtag sind getragen vom ‚Nie wieder!‘. Nie wieder Rassenwahn, nie wieder Nationalismus. Am heutigen Tag ist auch Gelegenheit, auf das letzte Jahr zurückzuschauen und selbstkritisch zu fragen, ob wir dieser Verantwortung im parlamentarischen Alltag stets gerecht geworden sind.“
„Nicht wegsehen, sondern Anteil nehmen“
Der Holocaustgedenktag sei ein Tag des Nachdenkens über unsere Geschichte, erklärte Ministerpräsident Dr. Reiner Haseloff am 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau, wo allein mehr als eine Million Menschen von den Nazis und ihren Helfern systematisch ermordet worden waren. „Bis heute kennen wir viele Namen der Opfer nicht, der Gedenktag gibt den Opfern ihre Würde zurück.“ Die Zugänge zur Geschichte des Landes verändere sich über die Generationen, nicht aber das Interesse daran. „Unsere jungen Menschen beschäftigen sich intensiv mit dieser Zeit“, sagte Haseloff. Als Teil unserer Gesellschaft müssten auch die Menschen mit Migrationshintergrund, die einen anderen Blick auf die deutsche Erinnerungskultur hätten, in eben jene Kultur eingebunden werden. Es gelte, Gegenwart und Zukunft nach menschlicheren Grundsätzen zu gestalten; Geschichte sei kein Strom ohne Lenkung. „Demokratie ist auch Ausdruck einer inneren Einstellung, wir dürfen nicht wegsehen, sondern müssen Anteil nehmen“, so der Ministerpräsident.
Über die „Zukunft der Erinnerung“
Antisemitismus habe in Deutschland auch nach Kriegsende 1945 über die Jahrzehnte hinweg Konjunktur – durch links- wie rechtsextremistische oder islamistische Terroristen, weltweit sei die Liste von Jüdinnen und Juden lang, die von Veranstaltungen ausgeladen würden, vielerorts bangten jüdische bzw. israelische Studentinnen und Studenten nach dem 7. Oktober 2023 um ihre Sicherheit. Es werde zwar keinen zweiten Holocaust geben, sagte Wolffsohn, aber reiche nicht auch nur ein Teil davon?
Das Ende des Zweiten Weltkriegs habe durchaus zur Befreiung der Deutschen und der Welt vom Nationalsozialismus geführt, die Befreier – zumindest die sowjetischen – seien allerdings nur kurzfristig Befreier gewesen. Die Willkommenskultur der Deutschen nach Kriegsende gegenüber jüdischen Rückkehrenden sei „mehr schmerzlich als herzlich“ gewesen. Ebenso wenig herzlich seien die britischen und französischen Besatzer gegenüber Juden im Westen Deutschlands gewesen. Schon während des Krieges hätten die in Deutschland und Europa verfolgten Juden vor verschlossenen Toren der Staaten weltweit gestanden, die deren Aufnahme verweigerten. Es zeige sich seit zweitausend Jahren jüdischer Geschichte in Europa: „Jüdisches Leben war, ist und bleibt eine Existenz auf Widerruf“, Wolffsohn sprach von „funktionaler Toleranz“.
Das wiedervereinigte Deutschland habe sich zur Aufgabe gemacht, jüdisches Leben zu schützen, aber „Wollen und Können sind hier nicht identisch“, so Wolffsohn, es sei ein Zeichen eines jahrzehntelang vernachlässigten Sicherheitsthemas. Die wehrhafte Demokratie müsse wieder wehrhaft werden, sonst könne man die Juden in Deutschland – und „Juden“ sei hier eine Chiffre für Minderheiten – nicht beschützen, mahnte der Historiker.
Die meisten Deutschen nach 1945 seien dieselben gewesen wie die bis 1945, andere Deutsche habe es nicht gegeben. Deutschlands Wende vom Nationalsozialismus hin zur Demokratie sei kriegsbedingt gewesen, die Deutschen hätten sich nicht aus eigener Kraft befreit – „manchmal lösen nur Kriege Probleme und bringen die Befreiung“.
Fast zwanzig Prozent der antisemitischen Vorfälle in Deutschland hätten sich in den vergangenen Jahren ausgerechnet im Bildungsbereich vollzogen. Dabei solle doch gerade die Bildung dazu beitragen, Vorurteile abzubauen.
Die nachkommenden Generationen seien nicht schuld am Holocaust, sie stünden allerdings in der Tradition der Täterinnen und Täter – sowohl in Deutschland als auch in muslimischen Ländern und Völkern, die mit Nazi-Deutschland einst kollaboriert hätten und deren Nachkommen nun neue Bürgerinnen und Bürger von Deutschland seien. Die Aufarbeitung der gemeinsamen Geschichte von Deutschland und der muslimischen Welt – dies sei eine wichtige Aufgabe für alle Deutschen. Erst seit es Israel gebe, könnten Jüdinnen und Juden wehrhaft sein, so Wolffsohn, an diese Rolle hätten sich viele noch nicht gewöhnt. Dabei sei Israel das einzige Land, in dem Juden nicht vom Wohlvollen anderer abhängig seien. Achtzig Jahre nach Kriegsende müsse wohl weniger gegen das Vergessen, als über mehr Wehrhaftigkeit geredet werden.
Die Gedenkstunde wurde von Khalida Fradkin (Klavier) und Vera Kagan (Violine) von der Synagogengemeinde zu Magdeburg musikalisch begleitet.