Weltweit sind derzeit mehr als 100 Millionen Menschen auf der Flucht, informiert das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) anlässlich des Weltflüchtlingstags. Die Fluchtursachen sind vielseitig: Kriege, Menschenrechtsverletzungen, Verfolgungen, Umweltkatastrophen und Hungersnöte. Jedes Jahr am 20. Juni erinnert die Welt an diese mutigen Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten und gezwungen waren, woanders neu anzufangen.
Seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine sind auch etwa 8 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer auf der Flucht, das entspricht rund einem Drittel der Gesamtbevölkerung. Etwa 30.000 Menschen haben vorübergehend in Sachsen-Anhalt Schutz gefunden. Eine von ihnen ist Liudmyla Kapustina, die das Schicksal mit ihren beiden Kindern nach Zeitz geführt hat. Anlässlich des Weltflüchtlingstags haben wir sie dort besucht.
Wie gefällt es Ihnen in Zeitz? Was haben Sie im vergangenen Jahr erlebt?
Liudmyla: Es ist eine besondere Erfahrung, würde ich sagen. Früher habe ich nicht in so einer Kleinstadt gelebt, ich komme aus Kyjiw. Aber ich denke, dass man in Zeitz immer wieder etwas Neues und Erstaunliches entdecken kann. Ich finde es gut, dass man (fast) alles zu Fuß erledigen und meine Tochter zum Beispiel allein in die Schule gehen kann. Ich habe kein Auto, für mich ist das daher super praktisch.
Haben Sie schon Kontakt zu Bewohnern der Stadt geknüpft?
Liudmyla: Für mich war es nicht so schwierig, weil ich Deutsch spreche, das ich an der Uni gelernt habe. Ich bin auch eine ganz offene Person und habe immer Interesse an meinen Mitmenschen. Daher kenne ich schon ganz viele Menschen aus Zeitz. Es ist so, wie es in einer Kleinstadt sein muss, du gehst durch die Straße und triffst an jeder Ecke Bekannte. (lacht)
War es schwer für Sie und ihre zwei Kinder, eine Wohnung zu finden?
Liudmyla: Nein, denn ich hatte das Glück, dass es bereits eine vollausgestattete Wohnung gab. Wir hatten Kontakt zu einer Familie aus Zeitz, die hat das alles arrangiert und erst danach sind wir aus Kyjiw gekommen. Ich kenne aber auch andere ukrainische Familien, für die es deutlich schwieriger war. Aber ich weiß, dass die Unterstützung der Bürgerinnen und Bürger aus Zeitz im März 2022 riesengroß war und alle geholfen haben, wo sie konnten.
Wie ist die Stimmung in der Stadt, in der ja mittlerweile rund 1000 ukrainische Flüchtlinge untergebracht sind?
Liudmyla: Also mir geht es gut und ich fühle mich nicht wie ein Flüchtling oder eine Schutzsuchende. Ich kenne die Stadt und die Leute, ich kann mich hier zurechtfinden. Natürlich ist es hier schwieriger für mich als zuhause, manche kulturellen Unterschiede verstehe ich vielleicht nicht so gut… Trotzdem habe ich nicht das Gefühl, dass ich hier völlig fremd bin. Natürlich sind die Menschen unterschiedlich und vielleicht könnte man sagen, dass ich in einer Art „social bubble“ lebe und nur mit positiven Menschen Kontakt habe, aber ich fühle mich wohl.
Warum haben Sie sich an der Gründung des Vereins beteiligt?
Liudmyla: Ich fühlte eine gewisse Verantwortung, weil ich Deutsch kann und ich möchte mich auch nützlich machen, hier in Zeitz. Früher habe ich beim Dolmetschen geholfen, dann habe ich gemerkt, dass ich auch ganz gut organisieren kann und diese Möglichkeit genutzt. Außerdem haben wir – dank Natalijas super Talent verschiedene Menschen zusammenzubringen – so viele tolle Menschen zusammengebracht und da ging die Vereinsgründung fast von alleine und war eine ganz natürliche Folge.
Was ist das Ziel des Vereins?
Liudmyla: Eigentlich sagt der Name des Vereins schon alles:„Ukrainisches Zentrum für Integration und Kulturaustausch e. V.“ Wir arbeiten mit Ukrainerinnen und Ukrainern zusammen und versuchen sie zu aktivieren, um etwas für die Gemeinschaft zu machen. So gibt es zum Beispiel eine Künstlerin aus Lviv, die regelmäßig einen Kunstkurs für Kinder leitet. Das wollen wir demnächst auch für Erwachsene anbieten – gern in einer gemischten Gruppe aus Einheimischen und Flüchtlingen.
Ein anderes Vereinsmitglied hat vorher in unserer Heimat in einem Amateurtheater gespielt, sie leitet jetzt einen Theaterworkshop für Erwachsene, in denen sie kurze Stücke in deutscher Sprache einstudieren. Und sie haben sogar schon ihre ersten Auftritte gehabt und sehr viel Spaß zusammen. Außerdem gibt es noch einen Sprachclub, in dem die deutsche Sprache geübt wird und regelmäßige Märchenlesungen in der Stadtbibliothek.
Was ist für die Zukunft geplant?
Liudmyla: Gerade sammeln wir Spenden für die Menschen in Cherson, die von der Flutkatastrophe rund um den Kachowka-Staudamm betroffen sind. Außerdem sind wir dabei, einen Brief an das Bildungsministerium zu schreiben. Es ist ein gemeinsamer Brief ukrainischer Vereine in Deutschland, dabei geht es darum, dass wir vorschlagen wollen, Ukrainisch als mögliche zweite Fremdsprache an den Schulen zu ermöglichen. Denn mittlerweile gibt es so viele Ukrainer in Deutschland, da wäre es sehr schön, wenn Ukrainisch diesen Status auch bekommen und an der Schule unterrichtet werden könnte. Und… Anfang Juli wollen wir im Kloster Posa bei Zeitz ein ukrainisches Sommerfest veranstalten.
Welche Bedeutung hat der Verein für Sie?
Liudmyla: Mir bringt es sehr viel Spaß, wenn sich die Menschen treffen und dann diesen „Wow-Moment“ haben, in dem sie merken, was sie alles gemeinsam bewirken können und wer welches Talent einbringen kann. Und wenn wir das Projekt dann umsetzen, alles läuft und wir ein gutes Feedback bekommen, macht mir das sehr viel Spaß.
Außerdem bin ich selbst sehr an Kultur interessiert und es macht mir immer Freude, wenn ich mich mit Deutschen unterhalte und sie etwas Neues über die Ukraine lernen. Denn ich habe bemerkt, dass die Menschen hier nicht so viel über die Ukraine wissen. Und es sollte nicht so sein, dass die Ukraine in ihrem Kopf immer nur mit Krieg verbunden ist. Wir haben eine tausend Jahre alte Geschichte und eine sehr reiche Kultur – auch das wollen wir gern zeigen und den Menschen hierzulande näher bringen. Das alles bringt mir sehr viel Spaß!
Abgesehen von Geldspenden, wie kann man Ihren Verein unterstützen?
Liudmyla: Wir suchen immer Deutsche, die gern mit Ukrainern zusammenkommen. Alle sind herzlich eingeladen, zum Beispiel zu unserem Sprachclub oder als ehrenamtliche Deutschlehrerinnen und Deutschlehrer. Natürlich können Sie auch eine Führung durch die Stadt anbieten, wir sind sehr offen gegenüber der Kultur unseres Gastlandes und freuen uns, neue Orte in Sachsen-Anhalt zu entdecken. Vor ein paar Wochen waren wir zum Beispiel in Magdeburg, haben den Landtag besucht und waren zu Gast beim Solidaritätskonzert des „Dudaryk-Chors“ aus Lviv.
Vielen Dank für das Gespräch und alles Gute für die Zukunft!