Tagesordnungspunkt 3
Teilhabe aller so schnell wie möglich umsetzen. Bürgergeld jetzt. CDU-Blockade beenden.
Antrag Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Drs. 8/1862
Die Redezeit beträgt zehn Minuten pro Fraktion. Wir beginnen mit den GRÜNEN. Frau Sziborra-Seidlitz hat als Antragstellerin das Wort.
Susan Sziborra-Seidlitz (GRÜNE):
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! 54 830! 54 830 Menschen in Sachsen-Anhalt lässt die CDU aktuell im Regen stehen; denn alle diese Menschen leben im Oktober 2022 von Hartz-IV-Leistungen.
(Tobias Rausch, AfD: Oh! Schämt euch!)
Das sind 54 830 Menschen, die aktuell nicht nur jeden Cent zweimal umdrehen müssen, sondern sogar drei- oder viermal, die sich am Monatsende überlegen müssen, ob sie sich die Soße zu den Nudeln noch leisten können, die damit hadern, ob die eigentlich zu kleinen Schuhe ihrer Kinder vielleicht nicht doch noch einen Herbst lang reichen,
(Tobias Rausch, AfD: Wie wäre es mit Arbeiten!)
die mit Schrecken Nachrichten lesen über den drohenden Aufnahmestopp von Tafeln und denen das nahende Weihnachtsfest nicht Vorfreude, sondern Sorgen beschert, weil es unfassbar schwierig ist, Kinder glücklich zu machen in einer Welt, in der Weihnachtsglück eben teuer ist, wenn man selbst wenig hat.
(Beifall bei den GRÜNEN)
Trotz dieser im Moment überall diskutierten prekären Situation für viele Menschen, insbesondere auch in unserem Land, scheut sich die CDU nicht davor, auf dem Rücken eben dieser Menschen ihr Parteiprofil schärfen zu wollen.
Ihr Parteivorsitzender, bekannterweise Mitglied der Mittelschicht samt Privatflugzeug,
(Oh! bei der CDU - Tobias Rausch, AfD: Da sind sie wieder, die Neiddebatten!)
spricht sich gerade jetzt vehement gegen die absolut dringende grundsätzliche Reform des SGB II aus, weil Wirtschaft halt irgendwie ...
(Minister Sven Schulze: Wir wollten doch die Regelsätze erhöhen! Wir haben noch einen Antrag gebracht!)
Er, und nicht nur er, zeichnet schamfrei das alte Bild der Sozialschmarotzer und faulen Armen,
(Tobias Rausch, AfD: Arbeiten gehen! Sollten sie einmal versuchen! Das ist so!)
spielt Geringverdiener gegen Arbeitslose aus. Dabei ging es gestern noch gegen den Mindestlohn, heute halt gegen das Bürgergeld.
(Guido Heuer, CDU: Beides ist falsch!)
Um die Menschen, 54 830 Menschen in Sachsen-Anhalt, ging es dabei nie. Dann malen Sie das Zerrbild einer Leistungsgerechtigkeit, bei der Menschen fürs Faulsein Geld bekommen, während andere ehrenwert zur Arbeit gehen. Das ist faktisch falsch.
(Oliver Kirchner, AfD: Warum denn?)
Etwa eine Million Menschen in Deutschland, die Leistungen nach dem SGB II beziehen, gehen einer Beschäftigung nach und verdienen schlicht für sich und ihre Familien zu wenig.
(Zustimmung bei den GRÜNEN)
Daher müssen sie ihr Einkommen mit Hartz IV aufstocken. Oft sind das alleinerziehende Eltern. Das sind die ökonomisch Deklassierten in unserer Gesellschaft. Faul ist niemand von denen.
Auch die im Niedriglohnsektor, die keinen Anspruch auf Aufstockungsleistungen haben, werden mit verschiedenen Leistungen unterstützt und liegen so beim Gesamteinkommen immer über dem, was Hartz-IV-Empfänger erhalten. Ihr polemisches und polarisierendes Bild vom hart arbeitenden Niedriglöhner und faulen, vom Sozialstaat verhätschelten Hartz-IV- bzw. Bürgergeldbeziehenden ist faktisch falsch und längst widerlegt. Moralisch ist es schlicht erbärmlich.
(Beifall bei den GRÜNEN - Tobias Rausch, AfD: Das sind Tatsachen!)
Sie scheinen nicht verstanden zu haben, dass neben der direkten materiellen Not, die mit Hartz IV einhergeht, gerade das einseitige institutionalisierte Misstrauen gegen die Menschen in den Fluren der Jobcenter das eigentliche Problem sind.
Wenn Sie entsprechenden Studien und Schilderungen von Betroffenen einmal ein offenes Ohr schenken würden und eben nicht nur Wirtschaftslobbyisten, dann würden Sie wissen, dass dieses Gefühl, Bürgerin zweiter Klasse zu sein, die zermürbende Wirkung des SGB-II-Regimes war und ist.
Die Bundesregierung und wir GRÜNE wollen dieses entwürdigende Prinzip von Hartz IV überwinden. Wir geben Hartz-IV-Empfängern ihre Würde zurück.
(Tobias Rausch, AfD: Ihr habt das doch eingeführt! Ihr mit der SPD wart das!)
Die Bundesregierung setzt völlig zu Recht auf Respekt und Vertrauen und will den Menschen eine unbelastete Neuorientierung in Zeiten von Arbeitslosigkeit ermöglichen, kein möglichst schnelles Vermitteln in zur Not miese Jobs, um die Statistik zu verbessern. Dagegen setzen wir die Vertrauenszeit in den ersten Monaten, den Schutz der Wohnung und die Abschaffung des Vermittlungsvorgangs. Diese Maßnahmen sind Ausdruck eines Bürgerrechts auf ein soziokulturelles Minimum, sind Ausdruck dafür, auf Vertrauen, Eigenverantwortung und, ja, auch auf Freiheit zu setzen.
(Tobias Rausch, AfD: Da gibt es doch keine Eigenverantwortung! Die kriegen alles in den Arsch gesteckt!)
Wer dann gleich an Sozialbetrug und Trittbrettfahrer denkt, bringt damit nur sein grundsätzliches Misstrauen gegenüber einer bestimmten Gruppe von Mitmenschen zum Ausdruck und eine völlig verquere Weltsicht.
Es ist natürlich nicht von der Hand zu weisen, dass der Anreiz, in mies bezahlten Jobs zu arbeiten, sinken könnte, aber das liegt doch dann vor allem an der miesen Bezahlung dieser Jobs. Wenn sich für diese schlecht bezahlten Jobs niemand mehr finden sollte, dann müssen diese Jobs schlicht und ergreifend besser bezahlt oder halt delegiert werden, delegiert an Maschinen und Algorithmen
(Tobias Rausch, AfD: Ja!)
oder an Kunden selbst, wie es z. B. in Fast-Food-Restaurants,
(Zuruf von Tobias Rausch, AfD)
an Supermarktkassen und auch am Flughafen bei der automatischen Passkontrolle oder beim automatisierten Aufgeben von Koffern per Kamera schon passiert.
Fleißige Arbeit muss sich lohnen. Das sagen Sie. Aber für Menschen mit Billiglohn lohnt sich Fleiß eben nicht, und zwar egal, wie viel oder wie wenig Arbeitslose bekommen.
Sie haben recht, Leistung muss sich lohnen, aber wir müssen bei denen anfangen, die Sie meist nicht meinen, wenn Sie von den Leistungsträgern in unserer Gesellschaft sprechen, bei der Busfahrerin, beim Pfleger, bei der Verkäuferin sie arbeiten hart und in Schichten und auch an Feiertagen, wenn wir alle gemütlich unterm Baum hocken , bei den Friseuren und Hörakustikern, Bauarbeitern und Reinigungskräften.
(Tobias Rausch, AfD: Also, Hörakustiker verdienen einen Haufen Geld!)
Wir müssen bei gerechten und auskömmlichen Löhnen beginnen und nicht damit, Menschen gegeneinander auszuspielen.
(Beifall bei den GRÜNEN)
Gegen einen gerechten Mindestlohn kämpfen Sie aber auch. Das konnten wir erst in der letzten Woche auch in Sachsen-Anhalt wieder den Zeitungen entnehmen.
(Guido Heuer, CDU: Wenn Sie das Abstandsgebot nicht berücksichtigen!)
Ich würde mir von Ihnen eine Ehrlichkeit wünschen, liebe CDU, und auch liebe Unternehmerverbände. Sprechen Sie es doch aus: Wir sind gegen das Bürgergeld, weil wir Menschen in ökonomischen Zwangslagen brauchen für unseren Niedriglohnsektor. Dafür finden wir nämlich sonst niemanden mehr. Das ist nämlich das, was Sie meinen. Dann sagen Sie es auch und verstecken sich nicht hinter Arbeitsethos und einer Gerechtigkeitsschimäre.
Wir GRÜNEN fragen uns dagegen: Wie können wir ein Mindestmaß an würdevollem Leben für alle gewährleisten? Wie können eine Teilhabe sichernde Sozialleistungen aussehen, die eben auch Motivation und echte Perspektive bieten?
(Tobias Rausch, AfD: Ach, Mann!)
Sie fragen sich anscheinend: Wie können wir weiter auf billige Arbeitskräfte zugreifen? Wie können wir den Zwang zum Verkauf der Arbeitskraft möglichst hochhalten, damit niemand aus der Reihe tanzt?
Hätte das Bundesverfassungsgericht die Sanktionen nicht für rechtswidrig erklärt, Sie wären die Ersten gewesen, die weiterhin nach 100 % Sanktionen schreien würden. Von Sanktionen bis hin zum sozialen Pflichtdienst, die autoritäre Attitüde kommt immer wieder zum Vorschein,
(Michael Scheffler, CDU: Das ist ja wohl! - Guido Kosmehl, FDP: Gilt das auch für die grüne Landtagsfraktion?)
die Versuche der Modernisierung in der CDU hin oder her.
(Tobias Rausch, AfD: Ist eine Rede voller Doppelmoral!)
Einmal abgesehen vom moralischen Furor, der mich packt, wenn ich dieser Diskussion in der CDU an vorderster Front zuhöre, auch wenn man kühl und nüchtern die Maßnahmen evaluiert wie Sanktionen und Vermittlungsvorrang, sie bringen Menschen nicht nachhaltig in Arbeit. Ganz im Gegenteil: Sanktionen sorgen dafür, dass gerade jungen Menschen den Kontakt zum Jobcenter abbrechen. Der Vermittlungsvorrang führt dazu, dass prekäre Jobs statt einer nachhaltigen Aus- oder Weiterbildung Menschen in ihrer Erwerbsbiografie auf das Abstellgleis führen.
Ich selbst hatte im Jahr 2005 das Glück, dass das Ausbildungsentgelt in der Pflege in Berlin auch im ersten Jahr über dem Hartz-IV-Satz lag. Ich hatte schon ein Jahr lang Leistungen bezogen und das Amt war grundsätzlich nur zur Vermittlung von Jobs bereit, nicht zur Unterstützung während der Ausbildung. Wäre ich auch nur unterstützend auf Hartz IV angewiesen gewesen, dann hätten die ganz rechts wieder einmal eine Story, ich wäre nämlich bis heute ohne Ausbildung und müsste meine Kinder ungelernt über Wasser halten. Das sind die Biografien, die das Hartz-IV-System produziert hat.
(Beifall bei den GRÜNEN - Tobias Rausch, AfD: Aha!)
Aber selbst wenn Sie diese Maßnahmen an ihren eigenen Zielen messen, sollten Sie zur Kenntnis nehmen, sie sind einfach nicht zielführend. Die FDP hat das getan und unterstützt daher die Pläne des Bürgergelds; denn Freiheit ich sage es noch einmal bedeutet auch die positive Freiheit eines ermöglichenden Sozialstaats, der auf Vertrauen und Eigenverantwortung setzt, statt auf Zuckerbrot und Peitsche, ein Sozialstaat, der eben auch vergangene Leistungen würdigt und daher Schonvermögen, Eigentum und Wohnung schützt, zumindest für eine Weile. Auch das war ein Skandal der Hartz-IV-Gesetzgebung, dass nach einem langen Arbeitsleben erst so gut wie alle Ersparnisse aufgebraucht werden mussten, bevor der Anspruch auf Arbeitslosengeld II bestand.
Im Rahmen der SGB-II-Reform im Zuge der Coronapandemie haben übrigens Sie als CDU die Erhöhung des Schonvermögens auf 60 000 € mit beschlossen. Damals betraf es aber eben auch Ihre Klientel.
(Guido Heuer, CDU: Ach, Sie machen das für Ihre Klientel! Das ist ja einmal ein Satz! - Zuruf von Cornelia Lüddemann, GRÜNE)
In Sachen Schonvermögen kam Ihnen die Bundesregierung bereits entgegen in den ersten Verhandlungen. Das begrüße ich ausdrücklich; denn über Details und konkrete Regelungen kann man immer offen diskutieren und sollte man immer offen diskutieren können, aber nicht über das grundsätzliche Ziel der Überwindung von Hartz IV und der Neuausrichtung der Grundsicherung hin zu Vertrauen, Respekt und Wertschätzung.
(Oliver Kirchner, AfD: Bei Corona war euch das vollkommen egal!
Das ist der große sozialpolitische Wurf dieser Bundesregierung,
(Beifall bei den GRÜNEN)
nicht die Erhöhung, die viel größer sein müsste, was objektiv schon berechnet worden ist, nein, die Tatsache, dass wir auch 54 830 Menschen in Sachsen-Anhalt ihre Würde zurückgeben. - Vielen Dank.
(Beifall bei den GRÜNEN)
Präsident Dr. Gunnar Schellenberger:
Frau Sziborra-Seidlitz, es gibt zwei Fragen, einmal von Herrn Heuer und einmal von Herrn Gallert.
Guido Heuer (CDU):
Sehr geehrte Frau Sziborra-Seidlitz! Die CDU/CSU-Fraktion im Bundestag hat einen Antrag eingebracht, die Regelsätze sofort zu erhöhen. Wieso haben Sie dem nicht zugestimmt?
(Zustimmung bei der CDU - Zuruf von Tobias Rausch, AfD)
Susan Sziborra-Seidlitz (GRÜNE):
Das kann ich Ihnen genau erklären das habe ich gerade schon in meiner Rede getan : weil diese Erhöhung grundsätzlich viel zu gering ist und weil sie daran geknüpft ist
(Guido Heuer, CDU, lacht - Guido Kosmehl, FDP: Das ist genau dieselbe Höhe wie beim Bürgergeld!)
- Genau, und sie ist zu gering. Das ist objektiv berechnet.
(Lachen bei der CDU)
Aber das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist ein anderer. Es war daran geknüpft, das Bürgergeld grundsätzlich mindestens auf die lange Bank zu schieben, aber das Bürgergeld das habe ich gerade betont ist grundsätzlich und in seiner Struktur und durch die grundsätzliche Veränderung der große Wurf, und das ist das, was jetzt notwendig ist.
(Beifall bei den GRÜNEN - Lachen bei der CDU)
Präsident Dr. Gunnar Schellenberger:
Danke. - Eine Nachfrage.
(Marco Tullner, CDU: Wir versuchen es beim nächsten Mal noch einmal! Vielleicht klappt es!)
Guido Heuer (CDU):
Also, ganz ehrlich. Weil es Ihnen zu gering ist - ich glaube, das war der Vorschlag der Ampel, den Sie vereinbart haben. Wir haben die gleichen Sätze genommen.
Susan Sziborra-Seidlitz (GRÜNE):
Sie wissen
Guido Heuer (CDU):
Also positionieren Sie sich hier gegen Ihre eigene Ampel in Berlin? Habe ich das richtig vernommen?
(Beifall bei der CDU)
Susan Sziborra-Seidlitz (GRÜNE):
Sie haben richtig vernommen, dass mir das zu gering ist. Sie können gern die Sozialverbände nach der Berechnung dazu fragen.
(Guido Heuer, CDU: Das ist nicht meine Frage!)
- Genau, ich bin ja auch noch nicht fertig mit meiner Antwort.
Sie selber wissen, wie Koalitionen funktionieren.
(Guido Kosmehl, FDP: Oh!)
Dann gucken Sie sich bitte einmal die Entwicklung dieser Erhöhung an. Es waren nicht die GRÜNEN, die diese Erhöhung vorgeschlagen haben.
(Zustimmung bei den GRÜNEN - Tobias Rausch, AfD: Ach! Das war die FDP! Wie könnt ihr nur!)
Präsident Dr. Gunnar Schellenberger:
Es gibt eine weitere Frage. - Herr Gallert, bitte.
Wulf Gallert (DIE LINKE):
Frau Sziborra-Seidlitz, Sie können sich sicherlich vorstellen, dass meine Frage nicht in die Richtung geht, die leider heute hier auch in den Zwischenrufen zum Ausdruck gekommen ist, nämlich einer ungeheuren Arroganz und Zynismus gegenüber Menschen, die auf diese Gelder angewiesen sind.
(Beifall bei der LINKEN - Zustimmung bei den GRÜNEN)
Ich habe mich tatsächlich gemeldet, als Sie das Bürgergeld in dieser Art und Weise verteidigt haben, ohne das haben Sie erst ganz am Ende getan dass Sie gesagt hätten, dass die Höhe dieses Geldes eigentlich nichts anderes ist als der Inflationsausgleich gegenüber dem, was wir bisher als Hartz IV hatten, vor dem Hintergrund einer zehnprozentigen Inflation. Deswegen frage ich Sie noch einmal, und zwar ganz bewusst, weil ich es gern hören möchte.
(Tobias Rausch, AfD: Als ob jeder Angestellte 10 % mehr Geld kriegt! Das ist doch Schwachsinn!)
Ich kenne die Berechnungen auch. Was wäre denn der Vorschlag gewesen von BÜNDNIS 90/GRÜNE ob der Höhe eines solchen Bürgergeldes?
(Zuruf von der CDU: 3 000 €! - Lachen bei der CDU)
Susan Sziborra-Seidlitz (GRÜNE):
Ich habe es nicht aufgeschrieben. Ich bin in Zahlen ganz schlecht. Ich kann es Ihnen tatsächlich nicht sagen. Sie können aber sicher sein, dass sich das grundsätzlich an den Berechnungen der Sozialverbände und in den Diskussionen immer an den tatsächlichen Bedürfnissen orientiert hat und nicht ausschließlich am Inflationsausgleich.
(Zustimmung bei den GRÜNEN)