In einer zentralen Gedenkstunde am Freitag, 1. März 2024, gedachte der Landtag gemeinsam mit der Landesregierung der Millionen Menschen, die durch das nationalsozialistische Regime entrechtet, verfolgt, gequält und ermordet wurden. Zu der Gedenkstunde hatten Landtagspräsident Dr. Gunnar Schellenberger und Ministerpräsident Dr. Reiner Haseloff gemeinsam eingeladen. Sie hatte ursprünglich am Holocaustgedenktag (27. Januar) stattfinden sollen, die aber aufgrund einer parallel auf dem Domplatz angemeldeten und später zurückgenommenen Versammlung nicht wie geplant hatte durchgeführt werden können.
Die Gedenkstunde thematisierte in diesem Jahr insbesondere die Gruppe der Sinti und Roma, die in der Zeit des Nationalsozialismus systematisch diskriminiert, verfolgt und ermordet wurden. Reden hielten in diesem Rahmen Jana Müller vom Stadtarchiv Dessau-Roßlau und Mario Franz von der auch für Sachsen-Anhalt zuständigen Niedersächsischen Beratungsstelle der Sinti und Roma.
Aufklärung, Sensibilität und Orientierung
Auschwitz sei ein Ort des Terrors, ein Ort der Vernichtung von Menschen gewesen, erinnerte Landtagspräsident Dr. Gunnar Schellenberger. Der Gedenktag nehme Millionen Menschen in den Fokus, die unter dem nationalsozialistischen Regime gelitten hätten und ermordet worden seien, derer zu gedenken sei man verpflichtet. Auch Sachsen-Anhalt sei in die Deportationsgeschichte während der NS-Zeit eingebunden. So habe beispielsweise die Stadt Magdeburg am 4. März 1935 die Errichtung eines sogenannten Zigeunerlagers beschlossen, das schließlich am 1. März 1943 aufgelöst worden sei. Die dort gesammelten Menschen waren anschließend nach Auschwitz deportiert und zum Großteil ermordet worden. „Freiheit und Würde gelten nicht nur für jeden allein, sondern auch für den Menschen neben uns“, sagte Landtagspräsident Schellenberger. Er forderte in Sachen NS-Vergangenheit kontinuierliche Aufklärung, Sensibilität und Orientierung – nur sie könnten zum „Nie wieder!“ führen.
Wer sind die Redenden der Gedenkstunde?
Jana Müller befasst sich seit vielen Jahren intensiv mit der Aufarbeitung und Dokumentation des Lebens und der Verfolgung von Sinti und Roma auf dem Gebiet des heutigen Landes Sachsen-Anhalt. Sie hat zahlreiche Projekte mit Kindern und Jugendlichen zu diesem Thema umgesetzt und themenspezifische Ausstellungen entwickelt. Jana Müller ist für ihr Engagement weit über die Grenzen Sachsen-Anhalts hinaus bekannt und gefragt.
Mario Franz, selbst Sinto, ist Geschäftsführer und gehört dem Vorstand der Niedersächsischen Beratungsstelle für Sinti und Roma an. Diese fungiert als Interessenvertretung der Sinti und Roma. Die Beratungsstelle verfolgt als Ziel, die soziale Lage der Sinti und Roma zu verbessern, bei der Durchsetzung rechtlicher Ansprüche zu unterstützen sowie Diskriminierung und Vorbehalte abzubauen. Dabei versteht sie sich insbesondere als Mittler zwischen Betroffenen einerseits sowie Behörden und Institutionen andererseits.
Eine abrupt beendete Geschichte
Die jahrhundertealte Geschichte der Sinti und Roma in Mitteldeutschland habe auf abrupte Weise durch den Völkermord an ihnen geendet, sagte Jana Müller. Zuvor schon seien Sinti und Roma wie Juden nach den Nürnberger Prozessen als „Wesen artfremden Blutes, die aus der Volksgemeinschaft auszuschließen“ seien, bezeichnet worden. In mehreren Orten Sachsen-Anhalts seien Zwangslager errichtet, seien Menschen in die Konzentrationslager deportiert worden. Kriminalpolizei und Rassenforschung hätten Hand in Hand gearbeitet. Am 16. Dezember 1942 habe Heinrich Himmler (Reichsführer SS) angeordnet, alle Sinti und Roma aus dem Deutschen Reich nach Auschwitz zur deportieren. Jana Müller erinnerte exemplarisch an die Morde an Kindern, Frauen und Männern aus Sachsen-Anhalt. Von den wenigen überlebenden Sinti und Roma aus Sachsen-Anhalt seien nach Ende des Krieges nur einzelne auf dem Gebiet des Landes geblieben.
Demokratie-Demos sind ein „fragiles Hoffnungslicht“
Mario Franz‘ Familie stammt aus Sachsen-Anhalt, von hier aus sei sie auch nach Auschwitz deportiert und ermordet worden. 1938 seien seine Großeltern und sein Vater verhaftet worden, 30 seiner Verwandten hätten die Befreiung durch die Rote Armee nicht mehr erleben dürfen. Die Opfer der Vernichtung hätten kein Grab, ihre Asche sei als Dünger auf den Feldern gelandet oder dem Vergessen der Flussläufe überlassen worden, sagte Franz. „Ich habe meine kleinen Cousins und Cousinen, allesamt Kinder, niemals kennenlernen dürfen, und dennoch fehlen sie mir.“
Diese Morde seien „nicht vom Himmel gefallen“, sondern stünden in einer Kontinuität, die bis heute anhalte. Mit dem Tod der Sinti, die so gern auch in Magdeburg und Umgebung gelebt hätten, sei der Klang der Sprache der Sinti erloschen – „bis heute“, sagte Mario Franz und sprach ein Klagegebet in eben jener Sprache, das von der Geschichte der Verfolgung erzählt: „Alle Zeiten tragen wir in uns ... Wie viele sind gestorben, wie viele werden noch sterben, bis wir uns in deiner Hand wiederfinden, oh Herr?“ Wir mahnten „Nie wieder“ und doch erlebten wir, wie sich langsam, aber stetig ein Remake eben jener menschenfeindlichen Politik ereigne, monierte Franz.
Die Sinti und Roma setzten sich nachhaltig für das Zusammenwirken aller Demokratinnen und Demokraten gegen die AfD und die Rechte ein, betonte Franz. Diskriminierung dürfe keinen Platz in der Gesellschaft haben, dem Demokratiemissbrauch müsse sich entgegengestellt werden. Dass Tausende in Deutschland gegen Rechtsextremismus demonstrieren, zeige ein fragiles Hoffnungslicht für eine offene Gesellschaft. Die Ausgrenzung von Sinti und Roma habe nicht erst 1933 begonnen und 1945 nicht geendet, mahnte Mario Franz.
Musik und jugendliche Gäste
Musikalisch umrahmt wurde die Gedenkfeier durch das Romani Weiss Swingtett und Cole Chandler. Gäste der Gedenkveranstaltung waren auch Schülerinnen und Schüler aus der Sekundarschule Fliederweg aus Halle (Saale) und aus dem Friedrich-Schiller-Gymnasium in Calbe/Saale. Letztere hatten im Anschluss die Gelegenheit, in einem Gespräch mit Jana Müller und Musiker Manolito Steinbach ihre noch vielen offenen Fragen zu besprechen.
Alle Gäste erhielten am Ende der Veranstaltung eine weiße Rose, die an einem Gedenkort ihrer Wahl abgelegt werden sollte.