Der Europaradweg R1 führt von der Atlantikküste Frankreichs bis nach St. Petersburg an der Ostsee. Dabei kommen die Langstreckenradler durch neun Länder Europas. Ein Teilstück der über 3500 Kilometer langen Strecke quert auch Sachsen-Anhalt (von Ilsenburg über Wernigerode, Bernburg und Staßfurt, vorbei an Köthen und Dessau-Roßlau bis nach Lutherstadt Wittenberg). In jüngster Zeit gab es vermehrt Klagen und kritische Stimmen über den Zustand des Radweges insbesondere im Landkreis Harz. Im Ausschuss für Landesentwicklung und Verkehr fand deshalb am Donnerstag, 10. August 2017, ein öffentliches Fachgespräch dazu statt.
Deutliche und schnelle Verbesserungen nötig
Dirk Michelmann vom Landkreis Harz (Fachbereichsleiter Strategie und Steuerung) erklärte, anfangs hielt er die Kritik am Europaradweg R1 für übertrieben. Nachdem er jedoch selbst auf anderen Radwegen in Deutschland unterwegs gewesen sei, müsste er feststellen, dass man im Vergleich zu anderen nicht mithalten könne. „Wenn es nicht bald gelingt, das Ruder rumzureißen, dann sollte man den R1 nicht mehr bewerben“, so Michelmann weiter. Denn sonst würden bei den Besuchern Erwartungen geschürt, die nicht erfüllt werden könnten, zumindest für die 78 Kilometer, die durch den Harz führten. Deutliche und schnelle Verbesserungen seien nötig.
Seiner Ansicht nach seien die Zuständigkeiten für den Radweg sehr komplex und damit auch der Rückgriff auf einzelne Fördertöpfe. Es wäre schön, wenn die Koordination verbessert werden könnte, zum Beispiel über einen beim Land angesiedelten Radwegekoordinator.
Seine Mitarbeiterin Renate Schulz lobte die im Koalitionsvertrag festgelegten Ziele des Landesradverkehrsplans. Dort werde immer wieder auf die Bedeutung von Radwegenetzen hingewiesen, dies könne sie aus ihrer Praxiserfahrung nur unterstreichen. Allerdings müssten die Koordinierung und die Förderung in vertikaler und horizontaler Richtung verbessert werden.
Schlechte Streckenabschnitte bleiben hängen
Daneben sei der Wegezustand in manchen Abschnitten „wirklich nicht schön“. So gebe es kurze Abschnitte mit teils heftigen Schlaglöchern, andere seien zwar gut asphaltiert, führten dafür aber entlang einer viel befahrenen Straße. „Die schlechten Eindrücke stellen bei manchen Radtouristen dann die langen positiven Streckenabschnitte in den Schatten“, konstatierte Schulz. Sie schätzte, dass die Bedeutung des R1 für Touristen aus der Region sehr viel höher sei als für klassische Fernradtouristen.
Zwar hätte es in den vergangenen Jahren viele Bemühungen gegeben, um die Situation zu verbessern, der große Wurf sei jedoch bisher ausgeblieben. Unser Ruf als fahrradtouristische Region ist nicht so toll“, so Schulz. Es gebe beispielsweise kein funktionierendes Gesamtwegenetz und in den Kommunen fehle es an der Identifikation mit Radprojekten. Wenn es einzelne Aktivitäten gibt, seien die meist nicht abgestimmt.
Die wichtigsten Verbesserungsvorschläge:
- bauliche Instandsetzung einzelner Teilabschnitte
- Lückenschlüsse innerhalb des R1 unter Beachtung des Naturschutzes
- Reduzierung von Zugangshürden für Fördermitteln
- Aktualisierung der Beschilderung inklusive Wegweisung zum ÖPNV
- mittelfristig Prüfung von Umtrassierungen
- kurzfristige Umleitungen für besonders geschädigte Streckenabschnitte
- Verbesserungen des Gastgeberbewusstseins vor Ort
Außerdem schlug der Landkreis Harz vor, die Planung und den Ausbau der Radwegenetze generell in die Hände der Landkreise zu geben und nicht wie bisher beim Ministerium anzusiedeln. Die Vermarktung des Europaradweges sollte dagegen weiterhin beim Land bleiben, in dieser Hinsicht hätte man gute Erfahrungen gemacht. Wünschenswert wäre zudem eine landesweite Koordination beim Radverkehrskoordinator mit kontinuierlicher Rückkopplung zum Landesradverkehrsplan.
ADFC: Beschilderung zentral regeln
Volker Preibisch, vom Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club e. V. Sachsen-Anhalt kritisierte, dass die Zuständigkeiten im Radtourismus zu kleinteilig seien. Viele Kommunen hätten kein Geld oder würden keinen direkten Vorteil in den Landesradwegenetzen sehen, seien aber dennoch für ihren Ausbau zuständig. Zudem gebe es enorme Defizite in puncto einheitlicher Beschilderung. In Bundesländern, in denen dies zentral vom Land geregelt werde, funktioniere es deutlich besser (z.B. Thüringen, Brandenburg) Preibisch plädierte daher dafür, die bundeseinheitlichen Maßstäbe auch hier im Land verbindlich einzuführen.
Harzer Strecke hat zu viele Höhenmeter
Das größte Problem auf dem Harzer Abschnitt des Europaradwegs sieht Preibisch in den Höhenmetern auf der Route. Seiner Ansicht nach müssten diese neu bestimmt werden, denn viele Fernradtouristen seien mit einem Treckingrad und Gepäck unterwegs. Für diese seien die Höhenmeter zu viel. Er schlug vor, eventuell stillgelegte Bahntrassen zu aktivieren, dafür gebe es bereits positive Beispiele aus anderen Mittelgebirgsregionen Deutschlands. Sehr positiv bewertete er die Attraktivität der Strecke, die sehr viele touristische Highlights biete. Etwas unverständlich fand er die Tatsache, dass die UNESCO-Stadt Quedlinburg umfahren werde.
Grundsätzlich sieht Preibisch durchaus Potential im Radtourismus. 2016 hatte der ADFC 150 Millionen Tagesausflügler mit dem Rad gezählt. Radfahren sei in Sachsen-Anhalt insbesondere am Wochenende sehr beliebt und überall, wo vernünftige Radwege angeboten würden, werden diese auch von der Bevölkerung angenommen.
Wie sieht ein typischer Radtourist aus?
Um Rückschlüsse auf mögliche Veränderungen und Verbesserungen ziehen zu können, skizzierte Volker Preibisch vom ADFC Sachsen-Anhalt kurz einen typischen Fernradtouristen. Demnach reisten 35 Prozent der Radtouristen mit der Bahn an, leider seien die Radfernwege wie der R1 nicht von den Bahnhöfen im Harz ausgeschildert. Das Durchschnittsalter der Radtouristen betrage 48 Jahre, davon würden 54 % mit dem Partner unterwegs sein.
Auch wenn viele ein Smartphone dabei hätten, würden die meisten nach der Routenwegweisung fahren. Diese sei im Harz teilweise sehr mangelhaft und uneinheitlich. Man merke deutlich, dass das Wegemanagement nicht funktioniere. Die typischen Radtouristen seien auch an Kultur und Wandern interessiert unterwegs, 46 Prozent würden Radfahren gerne mit einem Städteurlaub verbinden. Ein Drittel aller Radtouristen ist bereits mit Pedelecs (E-Bikes) unterwegs.
Vermarktung des Radweges läuft gut
Peggy Guszahn, WelterbeRegion Anhalt-Dessau-Wittenberg e.V. brachte ihre Erfahrungen in puncto Vermarktung des Europaradweges ein. (Seit 2008 ist das Koordinierungsbüro für den Radweg bei der WelterbeRegion angesiedelt.) „Ohne Marketing bekommen wir keine neuen Radfahrer“, sagte Guszahn. Der Radweg werde bei vielen Messen und anderen Gelegenheiten beworben, es gebe eine Zusammenarbeit mit überregionalen Zeitungen und Ende vergangenen Jahres wurde eine neue Internetseite konzipiert. Sie stellte die einzelnen Etappen des R1 in Sachsen-Anhalt vor und gibt unter anderem Hinweise zu Sehenswürdigkeiten und Übernachtungsmöglichkeiten.
Außerdem gebe es über das Koordinierungsbüro viele Anfragen zur Broschüre „Europaradweg R1 in Sachsen-Anhalt“. Guszahn führte weiter aus, sie habe das Gefühl, der Elberadweg sei abgefahren und die Bürger wollten nun eine Alternative, um durchs Land zu radeln. Man solle den R1 daher keinesfalls aufgeben, sondern das Angebot ausbauen und verbessern.
2016 etwa 6000 Radtouristen entlang der Strecke
Staatssekretär Verkehrsministerium, Dr. Sebastian Putz, teilte mit, dass zum 1. September 2017 eine Radverkehrskoordinatorin ihre Arbeit im Ministerium aufnehmen werde. Manuelle Zählungen entlang der Route bei Köthen hätten zwischen 2012 und 2014 jeweils 3500 Radtouristen im Jahr ergeben, 2016 seien 6000 Radtouristen gezählt worden. Im vergangenen Jahr wurde zudem eine sogenannte Dauerzählstelle im Wörlitzer Park eingerichtet, Ergebnisse lägen noch nicht vor. Eine weitere Dauerzählstelle im westlichen Bereich sei geplant.
Darüber hinaus räumte Putz ein, dass die Wegebaulast zwar bei den Kommunen liege, allerdings könne das Land einzelne Projekte bis zu 90 Prozent bezuschussen, um den Tourismus zu fördern. Da ein Teil des Europaradweges (Essen-Berlin) mittlerweile auch Radweg der „Deutschen Einheit“ ist, gebe es zusätzliche Fördermittel vom Bund. In dem Zusammenhang sollen auch neun „Radstätten“ (Raststätten für Radfahrer) in Sachsen-Anhalt errichtet werden, die erste noch diese Jahr in Bernburg.
Beschlüsse wurden am Ende des öffentlichen Fachgesprächs keine gefasst. Der Ausschuss wird sich in einer seiner nächsten Sitzungen erneut mit dem Thema beschäftigen.