Die Enquete-Kommission „Öffentliche Verwaltung konsequent voranbringen – bürgernah und zukunftsfähig gestalten“ wurde im März 2012 vom Landtag eingesetzt. Sie beschäftigt sich mit der Modernisierung der Verwaltung in Sachsen-Anhalt. Einer der Schwerpunkte ist die Erarbeitung von Handlungsempfehlungen im Bereich Schaffung und Erweiterung von Barrierefreiheit. Dazu führte die Kommission am Freitag, 13. Juni, eine öffentliche Anhörung durch. Dass für die Gleichbehandlung von Menschen mit Behinderung oder anderen Einschränkungen noch sehr viel Handlungsbedarf besteht, machten die Äußerungen der geladenen Experten deutlich.
Gleichwertige Teilhabe für alle Menschen
Sandra Osterberg machte als Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft der Hauptschwerbehindertenvertretungen und Schwerbehindertenvertretungen der obersten Landesbehörden des Landes Sachsen-Anhalt mit ihren Ausführungen den Anfang der Anhörung. Sie gab an, dass es 2500 Menschen mit Behinderung als Beschäftigte im Landesdienst gebe. Damit werde knapp die Pflichtquote von fünf Prozent erfüllt. Neueinstellungen gebe es aber nur sehr selten. Es gebe zwar eine Reihe von Gesetzen, dass bei der Besetzung von Stellen auch Menschen mit Behinderung in Betracht gezogen werden müssten, die Gesetze würden allerdings – auch vor dem Hintergrund fehlender Sanktionen – nicht immer umgesetzt, so Osterburg. Dabei sei die gleichwertige Teilhabe von Menschen mit Behinderung in Arbeit, Alltag und Freizeit in der Landesverfassung hinterlegt.
Osterburg wies auf die Schwierigkeiten hin, mit denen Behinderte jeden Tag konfrontiert würden: Steile Treppen, enge Türen, kontrastlose Farbgestaltung, fehlende Warnsysteme, keine DIN-gerechten Parkplätze, fehlende Aufzüge und Leitsysteme. Laut Aktionsplan „Einfach machen“ (auf Basis der UN-Behindertenrechtskonvention) solle Barrierefreiheit in Sachsen-Anhalt bis zum Jahr 2020 erreicht werden. In einigen Bereichen werde das allerdings nicht gelingen, mutmaßte Osterburg. Eines aber sei sicher: „Auch wenn einige Maßnahmen ohne großen finanziellen Aufwand umgesetzt werden könnten, Barrierefreiheit zum Nulltarif gibt es nicht.“ Osterburg wies im Arbeitsbereich des öffentlichen Dienstes auf die zukünftig barrierefreie Gestaltung des Webauftritts des Landes hin – versehen mit leicht verständlichen Texten, Formularen und Erläuterungen. Arbeitsplätze müssten so geschaffen sein, dass sie problemlos mit behinderten Menschen besetzt werden könnten, die barrierefreie Aus-, Fort- und Weiterbildung von Beschäftigten müsse sichergestellt werden. Die Berufsschulen im Land seien nicht ohne Barrieren, was zu Schwierigkeiten für Lehrkräfte und Schüler führe. Aber auch Veranstaltungen und Druckerzeugnisse müssten so gestaltet werden, dass sie auch von Menschen mit Behinderung problemlos zu besuchen beziehungsweise zu verwenden seien. Verantwortliche sollten gern Informationen beim Kompetenzzentrum für Barrierefreiheit einholen, sagte Osterburg. Es müsse ein Umdenken stattfinden: „Barrierefreiheit beginnt im Kopf, eine Behinderung kann jeden zu jeder Zeit treffen.“
An Vielfältigkeit der Einschränkungen denken
Eine bürgernahe Verwaltung müsse für alle Menschen auf die eine oder andere Weise erreichbar sein, erklärte Adrian Maerevoet, Beauftragter der Landesregierung von Sachsen-Anhalt für die Belange der Menschen mit Behinderungen. Deshalb müssten auch alle Menschen in die zukünftigen Planungen einbezogen werden. Die öffentliche Verwaltung müsse als verlässlicher, kalkulierbarer und transparenter Arbeitgeber beispielgebend sein. Laut UN-Konvention soll Menschen mit Behinderung eine unabhängig Lebensführung und gleiche Teilhabe zukommen, es handele sich also um eine alle Lebensbereiche betreffende Anweisung. Barrierefreiheit bedeute aber weit mehr als nur abgesenkte Bordsteine und breitere Türen, so Maerevort. Man müsse an die Vielfältigkeit der Einschränkungen denken und welche Konsequenzen sie nach sich zögen. Sehbehinderte benötigten gut lesbare Schriften, Hörmedien, die Brailleschrift, Hinweise auf Gefahren, tastbare Schilder und vieles mehr. Hörbehinderte gegenüber müsse man hingegen besonders auf die eigene gut verständliche Sprechweise achten, Induktionsschleifen für den Empfang störungsfreier Audiosignale installieren und gegebenenfalls die Hilfe von Gebärdensprachdolmetschern anbieten. Intellektuell/psychisch Beeinträchtigte benötigten eine verständliche Sprache, Hilfe bei der Kontaktaufnahme, Piktogramme oder auch einen Assistenten, mit dessen Hilfe Anliegen erörtert würden. Vor allem werde Toleranz und Hilfsbereitschaft bei den Beschäftigten im Öffentlichen Dienst (und freilich darüber hinaus) erwartet, so der Landesbehindertenbeauftragte.
Durch den demographischen Wandel steige die Zahl der Betroffenen in der Bevölkerung an, so Maerevort. Barrierefreiheit ermögliche es auch und vor allem alten Menschen, länger selbstständig zu wohnen. Nicht zuletzt würden alle Menschen von Maßnahmen der Barrierefreiheit (Orientierungshilfen, breite, sich selbst öffnende Türen, abgesenkte Bordsteine, einfach zu bedienende Automaten) profitieren – von den Eltern mit Kinderwagen, über den Senior mit Rollator bis zum Urlauber mit Rollkoffer, um nur wenige ganz offensichtliche Vorteile zu nennen. „Barrierefreiheit wurde vor einigen Jahren noch nicht der heute akzeptierte Stellenwert eingeräumt“, resümierte Maerevort. Neben der Umsetzung von DIN-Normen bei Neu- und Umbauten müssten auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Umgang mit Menschen mit Behinderung geschult werden. Auch die Idee des „universellen Designs“ von Gebrauchsgegenständen und Dienstleistungen sei weiterzuverfolgen, so der Behindertenbeauftragte des Landes. Wichtig sei, mit den Betroffenen nötige Änderungen, Bedürfnisse und Vorschläge abzusprechen.
Auf sensorische Anforderungen eingehen
Prof. Dr. Christian Bühler vom Forschungsinstitut Technologie und Behinderung an der Technischen Universität Dortmund konstatierte zu Beginn seines Redebeitrags, dass die Behindertenquote im Zuge des demographischen Wandels ansteige. Barrierefreiheit sei daher von großem Nutzen. Als barrierefrei gelten Infrastruktur und Geräte, wenn sie „normal“, das heißt grundsätzlich ohne besondere Erschwernisse und ohne fremde Hilfe nutzbar seien. Deutschland habe die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert und müsse nun sukzessive dafür sorgen, dass notwendige Standards auch umgesetzt würden. Gehe man vom inklusiven Ansatz an den Sachverhalt heran, gelte, dass „nicht alle gleich, aber alle gleichberechtigt“ seien; es gehe nicht um Durchschnittswerte, sondern um die Bandbreite der Menschen mit und ohne Behinderung. Beim barrierefreien Bauen (zunächst öffentliche Gebäude) müsse darauf geachtet werden, die DIN-Normen sowohl für die Besucher als auch für die Mitarbeiter einzuhalten. Gezielt müsse auf sogenannte sensorische Anforderungen eingegangen werden – also Warnen, Informieren, Orientieren und Leiten. Dazu zählen Bühler zufolge unter anderem Bodenleitsysteme, Rampen, Aufmerksamkeitsfelder, aber auch niedrige Empfangstresen, kontrastreiche Markierungen von Glasflächen und Induktionsschleifen. Wert auf Verständlichkeit müsse auch bei der Beschriftung von Schildern gelegt werden – beispielsweise, indem die Pyramidenschrift, die Brailleschrift oder simple Symbole eingesetzt würden.
Auch Menschen mit Behinderung gehörten zur modernen Informationsgesellschaft, sagte Bühler, jeder möchte von den Neuheiten im Internet profitieren. Bei der Berücksichtigung der Belange von seh-, hör-, körper- oder kognitiv behinderten Menschen sei noch einiges an Arbeit zu leisten. Beim Aufbau barrierefreier Internetseiten müssten zum Beispiel folgende Komponenten bedacht werden: Texte durch Graphiken verständlich machen, Videos untertiteln oder Transkriptionen anbieten, Gebärdensprachdolmetscher zum Einsatz bringen (zum Beispiel bei Live-Übertragungen), das Anbieten eines alternativen, leicht verständlichen Textkorpus und eine einfache Navigation durch die Inhalte der Internetseite. Bühler zeigte zudem die häufigsten Fehler auf: Textdokumente ohne erkennbare Struktur, fehlende Audiodeskription, Multimedia ohne Untertitel, schlechte Kontraste und fehlende Textalternativen. Um Barrierefreiheit zu erreichen, sei es zwingend erforderlich, auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im sich verändernden Umgang mit behinderten Menschen zu schulen.
Interkulturelle Vielfalt
Eingliederung und Gleichbehandlung von einer anderen Warte aus brachte die Integrationsbeauftragte des Landes Sachsen-Anhalt, Susi Möbbeck, ins Gespräch. Gleichbehandlung gelte nicht nur für Menschen mit Behinderung, sondern auch für Menschen mit Migrationshintergrund. Die deutsche Gesellschaft sei in den vergangenen Jahren deutlich vielfältiger geworden, das müsse sich auch in einer interkulturellen Öffnung der Verwaltung widerspiegeln, so Möbbeck. Deutschland sei zu einem Einwanderungsland geworden, 19 Prozent der Menschen hätten einen Migrationshintergrund. In Sachsen-Anhalt betrage der Ausländeranteil kleine 3,5 Prozent, der wiederum einen überdurchschnittlichen Qualifikationsgrad aufweise: 20 Prozent der im Land lebenden Ausländer hätten einen Hochschulabschluss, 60 Prozent einen Berufsausbildungsabschluss vorzuweisen. Trotz dieser hohen Quote seien sie vielmals durch Sprachbarrieren und die Nichtanerkennung ihrer Abschlüsse vom Arbeitsmarkt abgeschnitten, bemängelte die Integrationsbeauftragte. Die Zuwanderer würden dringend gebraucht, sie brächten ihr Fachwissen mit und – nicht zu unterschätzen – ihr im Durchschnitt und im Vergleich oft junges Alter. Die Vielfalt solle ressourcenorientiert betrachtet werden.
Susi Möbbeck setzt sich für die Installation einer Willkommenskultur in Sachsen-Anhalt ein – sowohl in der Gesellschaft als auch in den Behörden. Es gelte, die Behörden auf den demographischen Wandel vorzubereiten und auch die kulturelle Vielfalt anzuerkennen. Mangelnde Sprachkenntnisse und mangelhafte soziale Kompetenzen seien in den Behörden nicht länger zu akzeptieren. Es müsse ein Perspektivwechsel hinsichtlich der Migrantinnen und Migranten vonstattengehen, man müsse sich von dem Klischeebild des Ausländers endlich verabschieden, so Möbbeck. Die Landesbeauftragte sprach sich dafür aus, in öffentlichen Ausschreibungen einen Antidiskriminierungszusatz anzufügen, der die Gleichbehandlung der Menschen bei der Stellenbesetzung garantiere. Auch sollten besondere Fähigkeiten und Fertigkeiten, die die ausgeschriebene Stelle ausmachten, extra aufgeführt werden (Sprachkompetenzen, Auslandsaufenthalte). So könne es unter anderem auch gelingen, den Bedarf an mehrsprachigen Erziehern und Lehrern im Land zu decken.
Die Enquete-Kommission setzt ihre Beratungen weiter fort. Auch weitere Anhörungen stehen noch auf der Agenda.