Das Halle-Forum der Gedenkstätte „Roter Ochse“ widmet sich in diesem Jahr dem Thema „Zersetzung. Psychologie im Auftrag der Staatssicherheit. Folgen – Aufarbeitung – Rehabilitierung“. Es wurde am Donnerstag, 21. Oktober 2021, im Mitteldeutschen Multimediazentrum (MMZ) eröffnet. Zur Begrüßung sprachen Anne-Marie Keding (Vizepräsidentin des Landtags von Sachsen-Anhalt), Birgit Neumann-Becker (Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der SED-Diktatur) sowie Maik Reichel (Direktor der Landeszentrale für politische Bildung). „Das Halle-Forum ist für alle Kooperationspartner ein wichtiger Teil der Bildungsarbeit“, erklärte Maik Reichel. Es gehe darum, das gesammelte Forschungs- und persönliche Wissen an die jüngeren Generationen weiterzugeben.
Impulse in den politischen Raum schicken
Die heutigen Grundrechte könnten auch als „Abwehrrechte gegen den Staat“ verstanden werden, so Anne-Marie Keding. Sie dienten dem Einzelnen zum Schutz gegen die Willkür eines staatlichen Apparats (wie in der DDR). Genauer als mit dem diesjährigen Thema des Halle-Forums könne man nicht vor Augen führen, wie sich die Staatsräson gegen den Einzelnen stelle. Keding warb dafür, weiterhin Impulse in die Öffentlichkeit und in den politischen Raum zu schicken, wie wir heute mit der DDR-Zeit umgehen und diese aufarbeiten sollten. Man müsse sich fragen: Haben wir alle Punkte erfasst, in denen Unrecht geschehen ist? „Die vertanen Lebenschancen können wir nicht zurückgeben“, so Keding, aber man könne das Unrecht benennen, das Opfer anerkennen und öffentlich machen.
Maßnahmen der Zersetzung
Es gehe um Wahrheit und Lüge und staatliche Gewalt, aber auch um Vertrauen und Hoffnung, erklärte Birgit Neumann-Becker zu den sogenannten Zersetzungsmaßnahmen der Staatssicherheit der DDR. Wer diese selbst erlebt habe, habe vielerlei im Leben infrage gestellt – denn nie konnte man sicher sein, ob Ereignisse von der Stasi gewollt oder zufällig gewesen seien.
Beim diesjährigen Halle-Forum wolle man sich mit den Vorgängen der Zersetzung befassen. Neumann-Becker sei selbst Opfer von Zersetzungsmaßahmen gewesen, sagte sie. Im Januar 1984 sei eine operative Personenkontrolle angesetzt worden, ein operativer Vorgang dann 1985 – wegen angeblicher „staatsfeindlicher Hetze“ und als „vorbeugende Verhinderung einer politischen Untergrundarbeit“. Ziel sei gewesen, die Person als solche emotional zu destabilisieren und so unschädlich zu machen – „das war keine smarte Feindbekämpfung“, so Neumann-Becker.
Das Thema sei mit Scham und Schande behaftet, nur durch Offenlegung könne das Gift der Staatssicherheit neutralisiert werden; dies müsse jedoch sehr sensibel gehandhabt werden. Denn niemand solle bereits erfahrenes Unrecht noch einmal durcherleben müssen.
Hintergrund: Neue „operative Vorgänge“
Am Januar 1976, vor 45 Jahren, setzte das Ministerium für Staatssicherheit der DDR die interne Richtlinie Nr. 1/76 „zur Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge“ in Kraft. Darin war erstmals von „Zersetzung“ als strategischer Maßnahme gegen „feindlich-negative Elemente“ die Rede. Es wurden verschiedene Methoden aufgelistet, die das ausgefeilte Vorgehen des DDR-Geheimdienstes dokumentieren.
Vor diesem historischen Hintergrund richtet sich der Fokus des diesjährigen Halle-Forums der Gedenkstätte „Roter Ochse“ Halle (Saale) auf die „Operative Psychologie des Staatssicherheitsdienstes“, mit der sich seit 2019 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an der Siegmund Freud Privat-Universität in Berlin in einem vierjährigen Forschungsprojekt befassen.
Programmschwerpunkte des Halle-Forums
Über den aktuellen Forschungsstand informiert der Leiter des Projekts, Prof. Dr. Dr. Martin Wieser. Einen Schwerpunkt der Operativen Psychologie bilden die „Zersetzungsmaßnahmen“ des MfS, worüber die Kuratorin der gleichnamigen Ausstellung, Dr. Sandra Pingel-Schliemann, referiert. Lothar Rochau, dessen autobiografisches Buch „Marathon mit Mauern. Mein deutschdeutsches Leben“ gerade im Mitteldeutschen Verlag erschienen ist, spricht aus eigenem Erleben über die perfiden Strategien des MfS.
Am zweiten Veranstaltungstag steht die Thematik der Bewältigung politischer Traumatisierung im Mittelpunkt des Halle-Forums, zudem Fragen zur Novellierung der SED-Unrechtsbereinigungsgesetze.
Das Halle-Forum der Gedenkstätte „Roter Ochse“ Halle (Saale) in der Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt agiert in Zusammenarbeit mit der Konrad-Adenauer-Stiftung e. V., dem Politischen Bildungsforum Sachsen-Anhalt, der Beauftragten für die Aufarbeitung der SED-Diktatur in Sachsen-Anhalt, der Vereinigung der Opfer des Stalinismus in Sachsen-Anhalt e. V., dem Verein Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V. und der Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt.
Das zweitägige Halle-Forum 2021 wird auch in einemLivestream übertragen.