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Plenarsitzung

Transkript

Tagesordnungspunkt 32

Beratung

Die Situation von Menschen mit ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue Syndrom) in Sachsen-Anhalt ernst nehmen und verbessern

Antrag Fraktion DIE LINKE - Drs. 8/3051

Alternativantrag Fraktionen CDU, SPD und FDP - Drs. 8/3101


Die Abg. Frau Anger wird den Antrag einbringen.


Nicole Anger (DIE LINKE):

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Meine Damen und Herren! Chronische Entkräftung, extreme Erschöpfung und Grippesymptome nach jeder kognitiven oder körperlichen Bewegung, Schmerzen im ganzen Körper, Lichtempfindlichkeit, Geräuschempfindlichkeit, starke Konzentrationsstörungen, Magen-Darm-Beschwerden, eine Fehlbalance des Nervensystems, die zu Herzrasen und Blutdruckentgleisungen führt, das, meine Damen und Herren, ist ME/CFS, Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue Syndrom.

Wir befinden uns im 54. Jahr, in dem die Betroffenen falsch diagnostiziert, falsch behandelt, ignoriert und als psychisch krank abgestempelt werden, und das, meine Damen und Herren, obwohl diese Erkrankung von der WHO bereits im Jahr 1969 als neuroimmunologische Erkrankung eingestuft wurde, also vor genau 54 Jahren.

Warum werden Betroffene noch immer allein gelassen? - Weil die Medizin bisher versagt hat, weil es null Therapien gibt, weil biomedizinische Forschung fehlt, um die Grundlagen dieser Krankheit, die viele Menschen an das Bett fesselt und aus dem sozialen Umfeld reißt, zu verstehen     

(Unruhe)


Vizepräsidentin Anne-Marie Keding:

Frau Anger, einen Augenblick bitte. - Ich glaube, Ermüdungserscheinungen greifen auch hier langsam um sich. Ich bitte darum, den Geräuschpegel etwas zu senken. Das wäre besser für uns alle.


Nicole Anger (DIE LINKE):

Wobei es eine ganz andere Art der Ermüdung ist, die hier um sich greift. Danke. - Weil das bisherige Wissen weder in der Bevölkerung noch bei dem medizinischen Fachpersonal genügend ankommt, weil eine breite Aufklärungskampagne fehlt, weil wir wegschauen.

Lassen Sie uns dieses Wegschauen heute bitte beenden und die Situation für Menschen mit ME/CFS in Sachsen-Anhalt verbessern.

Meine Damen und Herren! Fatigue, also Erschöpfung oder Müdigkeit, so die Übersetzung, ist keineswegs das, was wir alle unter Erschöpfung verstehen. Der Begriff verharmlost, was Betroffene durchmachen; denn diese Erschöpfung kann Monate anhalten, wird durch Ruhe kaum besser und kann sogar irreversibel werden. Betroffene sind nicht zu müde, um etwas zu tun, sondern schlichtweg nicht in der Lage, weil sämtliche Körperfunktionen bestenfalls auf Sparflamme laufen oder nahezu gänzlich streiken. Der Körper kann keine Energie für alltägliche Tätigkeiten mehr produzieren. ME/CFS ist die schwerste Form infolge von Long Covid und kann sich auch nach Impfungen entwickeln.

(Zuruf von der AfD: Ach!)

Rund 20 % der Long-Covid-Fälle entwickeln sich unumkehrbar zu ME/CFS weiter. Es kann auch durch andere Virusarten ausgelöst werden, etwa das Epstein-Barr-Virus. In selteneren Fällen wird ME/CFS auch durch Unfälle, Verletzungen der Halswirbelsäule oder Traumata ausgelöst.

Meine Damen und Herren! Es handelt sich also nicht um eine neue Erkrankung, sondern vielmehr steht dieser Begriff für einen postviralen Zustand. Etwa 25 % der Erkrankten sind bettlägerig und damit zu 100 % pflegebedürftig, 60 % sind arbeitsunfähig. Sie alle leiden unter zahlreichen Einschränkungen.

Frauen sind doppelt so häufig betroffen wie Männer. Außerdem betrifft es vor allen Dingen jüngere Menschen zwischen 20 und 40 Jahren. Kinder und Jugendliche sind ebenso betroffen. Die am schwersten von ME/CFS betroffenen Menschen liegen rund um die Uhr in einem dunklen Raum, tragen eine Augenbinde, die das restliche Licht abhält, tragen Ohrstöpsel, um alle Geräusche zu dämpfen. Sie sitzen nicht, sie lesen nicht, sie spielen nicht mit ihren Kindern, sie schauen nicht aus dem Fenster, sie sprechen nicht. Sie ertragen keine Berührungen, ohne Schmerzen zu erfahren. Das Essen besteht aus pürierten Mahlzeiten. Einige haben eine Magensonde, weil die Kraft, den Arm zu heben, fehlt. Sie verlieren ihr Leben, ohne dabei zu sterben.

Meine Damen und Herren! PEM, das Kardinalsymptom, also Post-Exertional Malaise, ist eine ganz spezielle Belastungsintoleranz. Sie verursacht die Verschlechterung des Zustandes bereits nach geringer Anstrengung. Ein umgangssprachlicher Crash, also ein Zusammenbruch, kann allein durch Zähneputzen, Duschen oder ein kurzes Gespräch ausgelöst werden. Die Auswirkungen einer Belastung zeigen sich dann allerdings zeitverzögert. Eingangs erwähnte Symptome werden dann zeitverzögert bis zu 72 Stunden später eintreten, und das schlimmer und unerträglicher als zuvor. Das ist es, was es mitunter sehr schwer macht, die Krankheit zu diagnostizieren.

Deshalb erfordert die Belastungsintoleranz ein drastisches Umdenken. Medizinische Fachkräfte, Pflegefachkräfte, Physiotherapeut*innen und Mitarbeitende in Reha-Einrichtungen müssen dringend dafür sensibilisiert werden, dass nicht Aktivierung hilft, sondern das sogenannte Pacing. Pacing meint, seine Kräfte neu einteilen zu lernen, nie an die Belastungsgrenze zu gehen, ein individuelles Energiemanagement, um die eigene Zustandsverschlechterung zu verhindern.

Das heißt dann z. B., dass eine betroffene Person den ganzen Tag in einem abgedunkelten geräuscharmen Raum im Bett zubringt, um bspw. einen bevorstehenden Arzttermin wahrnehmen zu können. Sie dürfen nicht über ihre Grenzen gehen. Sie müssen das Verzichten akzeptieren lernen. Verzichten worauf? - Auf Freund*innen, auf Familie, auf Sport, auf Arbeit, auf Natur, kurzum Verzicht auf das ganz normale Leben. Aber sie alle wollen ihr Leben zurück.

Meine Damen und Herren! Immer wieder habe ich von Betroffenen geschildert bekommen, dass sie aus der Reha immobiler herauskamen, als sie hineingingen, also quasi auf Krücken hinein und im Rollstuhl oder gar liegend im Krankentransport wieder heraus, weil Pacing nicht beachtet wurde. Eine Reha kann in diesem Falle also dauerhafte Schäden und eine irreversible Zustandsverschlechterung verursachen. Im Reha-Bericht steht dann oftmals: Reha verweigert. Man unterstellt, die Betroffenen hätten ihre Mitwirkung nicht erfüllt. In der Folge werden Rentenbescheide abgelehnt. Betroffenen fehlt dann nicht nur das soziale Leben, sondern sie rutschen in Armut und es kommen zusätzlich belastende Existenzängste hinzu.

Hochproblematisch ist die Versorgungslage landesweit. Es gibt im gesamten Bundesgebiet nur zwei Schwerpunktambulanzen, und zwar in München und in Berlin - in München für Kinder und Jugendliche, in Berlin, finanziert durch Spendengelder, bei der Charité. Durch Überlastung sind diese beiden nur noch pro Bundesland ausgerichtet. Betroffene sind also vom Gesundheitssystem vergessen.

Laut meiner Kleinen Anfrage gab es bis heute nicht eine einzige Fort- und Weiterbildung zu ME/CFS, die von der Ärztekammer angeboten wurde. Durch fehlende spezifische Angebote an Fort- und Weiterbildungen zu ME/CFS kommt es bei Ärzt*innen und Pflegepersonal zu Unkenntnis. Zudem fehlt es an einer Anlaufstelle für Betroffene. Die Landesregierung begründet das bis dato damit, dass hierzu das Grundlagenwissen noch fehlt. Wir sind also in einem Teufelskreis. Das, meine Damen und Herren, darf so nicht weitergehen.

(Zustimmung bei der LINKEN)

Wir brauchen Forschung und Sensibilisierung, und zwar gleichzeitig. Eine Anlaufstelle ist wichtig, um ein Symptommanagement zu gewährleisten und zuvorderst eine Diagnose zu stellen und Betroffene nicht im Stich zu lassen. Fehldiagnosen, falsche Behandlungen müssen endlich ein Ende haben. Das gelingt nur, wenn wir es gemeinsam schaffen, mehr Sensibilität und mehr Kenntnisse zu diesem Krankheitsbild zu erwirken, und nicht die Verantwortung allein beim Bund sehen.

Deutschlandweit sind mehr als 300 000 Menschen betroffen; davon etwa 40 000 Kinder und Jugendliche. In Sachsen-Anhalt gehen wir aktuell von mindestens 9 000 Betroffenen, wenn nicht sogar bis zu 17 000 Betroffenen aus - Tendenz zur Verdopplung.

Eine Kleine Anfrage von mir hat ergeben, dass allein bei der AOK, also bei einer einzigen Krankenkasse, knapp 3 000 Frauen und etwas mehr als 1 100 Männer, also insgesamt 4 079 Fälle, mit ME/CFS bekannt sind. Dies sind, wie gesagt, die Zahlen einer einzigen Krankenkasse. Davon ausgehend, dass etwa ein Viertel von ihnen vollständig pflegebedürftig ist und rund zwei Drittel aller Erkrankten arbeitsunfähig sind, stehen dem verschwindend geringe Zahlen der Erwerbsminderungsrente gegenüber, und zwar genau 33 anerkannte Erwerbsminderungsrenten - 33 bei mehr als 4 000 Betroffenen. Ich wiederhole: Das sind nur die Zahlen einer einzigen Krankenkasse.

Meine Damen und Herren! Die Betroffenen, die nicht einmal die Kraft haben, einen ganz normalen Alltag zu bewältigen, sind wegen der Unkenntnis der Entscheidungsträger gezwungen, sich nun auch noch in Widersprüche, Klagen und Rechtsstreitigkeiten zu begeben. Oft nehmen Betroffene daher Ablehnungen hin, weil sie schlichtweg nicht die Kraft haben, den Klageweg zu beschreiten.

Es braucht also Aufklärung und Sensibilisierung auch bei den Mediziner*innen, aber ebenso bei Krankenkassen, Rentenversicherung, Reha-Einrichtungen, Versorgungsämtern, aber auch bei den Gutachter*innen vom Medizinischen Dienst;

(Ulrich Siegmund, AfD, lacht)

denn diese entscheiden über und behandeln die schwerkranken Menschen.

Meine Damen und Herren! Die Betroffenen sind zu krank, um allein für Hilfe zu kämpfen. Es ist unsere politische Verantwortung, hier und heute die Weichen zu stellen und den entsprechenden Weg zu gehen.

Dass die Bundesregierung die versprochenen Forschungsgelder nur mit dem vorliegenden Entwurf des Bundeshaushaltes beinahe komplett wieder kassiert, ist zusätzlich ein Schlag ins Gesicht der Betroffenen. Als Land dürfen wir nicht länger auf den Bund warten und uns darauf verlassen, dass etwas kommt. Die Betroffenen haben keine Zeit zum Warten.

(Zustimmung bei der LINKEN)

Wir müssen handeln und wir müssen die Gegebenheiten hier bei uns im Land im Interesse aller Energie ME/CFS-Erkrankten anpacken und verbessern. Dazu will unser heute vorliegender Antrag beitragen. Ich bitte um Unterstützung dafür; denn es ist unsere politische Verantwortung, die Menschen nicht aus dem System zu werfen. Wir haben es in der Hand und können viel dafür tun, dass es ihnen zukünftig besser geht. - Vielen Dank.

(Zustimmung bei der LINKEN)