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Plenarsitzung

Transkript

Nicole Anger (DIE LINKE):

Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine Damen und Herren!

Die Intention des uns heute hier vorliegenden Antrags ist nur verständlich: grundlegend Regelungen zu finden, um die Antragstellung im Pflegebereich abzusichern. Dennoch habe ich Zweifel daran, dass die erhofften Ziele auch die tatsächlichen Ziele in der Realität sein werden, bzw. ich frage mich, wem hier wirklich geholfen werden soll.

Frau Dr. Schneider, es freut mich in der Tat, dass die Koalition nach der fehlenden Fachdebatte zum WTG, dem Wohn- und-Teilhabegesetz, jetzt mit den Fachverbänden geredet hat. Aber ich hätte mir in der Tat gewünscht, dass Sie das nicht allein tun, sondern dass wir das gemeinsam, möglicherweise auch im Sozialausschuss, tun. Dafür bleibt uns jetzt leider keine Zeit mehr; denn der 30. Juni steht vor der Tür.

Aber ich habe zu Ihrem Antrag kurzfristig mit Fachverbänden gesprochen, und das hat mich davon überzeugt, dass wir doch eher mit ihnen gemeinsam eine Runde hätten finden sollen; denn die Infos sind nicht ganz deckungsgleich.

Ihr Antrag wirkt reflexartig. Reflexartig wird auf das Auslaufen einer pandemiebedingten Bundesregelung reagiert, ohne wirklich zu berücksichtigen, ob die Landesgegebenheiten dies auch in vollem Umfang ermöglichen - Stichwort: Digitalisierung, oder besser: Internetverbindung.

Die Digitalisierungsministerin hat verkündet, sie wolle 5G an jeder Milchkanne haben. Aber so weit ist es noch längst nicht. Wir haben erhebliche Lücken im Breitbandausbau und beim Handyempfang zwischen Arendsee und Zeitz. Wir haben in unserem Flächenland extrem unterschiedliche Bedingungen im Hinblick auf den Netzanschluss und das ist Ihnen nicht neu. Nicht jeder Haushalt verfügt über eine hochwertige und stabile Anbindung, sodass ein reibungsloser Ablauf von digitalen Begutachtungen gewährleistet wäre. Insofern habe ich mit Blick auf das Prinzip der Chancengleichheit erhebliche Bedenken.

Dabei rede ich noch nicht einmal von den Kosten, die auf Einzelpersonen zukommen, wenn ich an Digitalisierung, Endgeräte, Telefonanschluss, Internetanschluss denke. Diesbezüglich haben wir tatsächlich noch einige Baustellen. Für digitale Begutachtungen wäre dieser Ausbau aber eine Grundvoraussetzung. Sie machen mit dem Antrag jedoch gerade den zweiten Schritt vor dem ersten.

Zudem mangelt es aus meiner Sicht auch an der Praktikabilität. Erstens: Regelungen, die aus Gründen des Infektionsschutzes im Rahmen der Pandemie erfolgten, zur generellen Norm zu machen, ist in vielen Fällen problematisch. Wir können nicht so mir nichts, dir nichts von einer Ausnahmesituation auf das Alltagsgeschäft abstrahieren.

Zweitens: Wir reden hierbei außerdem überwiegend über eine Zielgruppe, über Menschen, die älter als 70 oder 80 Jahre sind. Lediglich die Hälfte der über 70-Jährigen verfügt über einen Internetanschluss. Das heißt aber noch nicht, dass sie das Internet auch nutzen. Die andere Hälfte ist digital gar nicht erreichbar. Warum also soll die digitale Begutachtung einer persönlichen Begutachtung gleichgestellt werden? Erstbegutachtungen müssen zudem zwingend im Wohnbereich bzw. auch in der Häuslichkeit stattfinden.

Natürlich haben digitale Begutachtungen auch ökologische Vorteile. Der Medizinische Dienst ist nicht zwingend gefordert, zu jeder Person hinzufahren. Aber ich frage mich, wie das in den Einrichtungen der Altenhilfe umgesetzt werden soll. In einem Bereich, in dem pflegebedürftige Personen leben, muss das ohnehin knappe und zeitlich stark belastete Personal die Begutachtung dann technisch unterstützen, indem es entweder digitale Endgeräte bedient oder beim Telefongespräch anwesend ist und diesen Prozess aktiv durchführt.

Machen wir uns doch nichts vor; wir alle wissen nach mehr als zwei Jahren Pandemie, dass Videokonferenzen nicht das persönliche Gespräch ersetzen können.

(Zuruf von Guido Kosmehl, FDP)

Sie sind hilfreich, sie unterstützen Prozesse, aber gerade dann, wenn es um ganz persönliche Anliegen geht, ist doch das Vis-à-vis, das Miteinander das Wichtige.

Drittens   damit trage ich Ihnen gern einen weiteren Praxisblick vor  : Der Sozialverband Deutschland stellte schon im vergangenen Jahr, also unter genau dieser, der bestehenden Regelung, fest, dass es eine gestiegene Anzahl von Widerspruchsverfahren bei der Pflegebegutachtung gibt. Das ist auch auf die digitale Begutachtung zurückzuführen. Logischerweise sind gravierende Erkenntnisse erst nach einer persönlichen Begutachtung möglich und nicht immer digital. Die Folge ist eine steigende Anzahl von Widerspruchsverfahren. Wir kennen das aus der Eingliederungshilfe: Es wird oftmals oder fast immer nur vom Schreibtisch aus entschieden und die Anzahl der Widerspruchsverfahren steigt immer weiter.

Bei der Eingliederungshilfe wirken die Einordnungen in Bedarfsgruppen zum Teil willkürlich. Ich befürchte, dass wir Ähnliches bei den Pflegegraden in der Pflege, in der Altenhilfe bekommen. Hinzu kommen Verzögerung, aufwendige doppelte Prüfverfahren, Widerspruchsverfahren, Klageverfahren, Gutachterverfahren etc. pp. Das ist belastend für alle und fördert nicht den Einzelfall.

Ich bitte Sie, noch einmal zu überlegen, ob der Antrag in dieser Fassung wirklich nützlich ist. Oder müssen wir nicht doch zunächst in der Digitalisierung vorankommen? Wenn es 5G an jeder Milchkanne gibt, dann kann man noch einmal darüber nachdenken, ob wir dazu nicht gemeinsam beraten sollten und ob Sie Ihren Antrag später aufrufen sollten. Aktuell bezweifle ich sehr, dass wir uns damit einen Gefallen tun.

Wir werden uns zu diesem Antrag der Stimme enthalten, vor allen Dingen auch, weil es für mich und meine Fraktion zuvorderst wichtig ist, die Menschen in der Pflege, sowohl die Pflegebedürftigen als auch das Personal, zu erfreuen und im Blick zu haben, und nicht wie Sie, liebe CDU, zuvorderst den Finanzminister zu erfreuen. Das unterscheidet uns. - Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN - Siegfried Borgwardt, CDU: Sie haben doch gesehen, dass das ein Koalitionsantrag ist, oder?)

- Hat Frau Dr. Schneider gesprochen?

(Siegfried Borgwardt, CDU: Logisch! Aber das ist doch Quatsch!)