Sven Schulze (Minister für Wirtschaft, Tourismus, Landwirtschaft und Forsten):
Sehr geehrter Herr Landtagspräsident! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! „Wir sind das Volk“ klang es vor 35 Jahren am 2. Oktober 1989 entschlossen auf den Straßen in Leipzig, der Wiege der friedlichen Revolution. Es folgten - viele im Saal können sich daran erinnern - die Demonstrationen am 9. Oktober in Leipzig, am 26. Oktober in Halle, hier in Magdeburg, in Wittenberg, in Dresden, Karl-Marx-Stadt und vielen anderen Orten der DDR.
Was war das Motiv der friedlichen Demonstranten? - Es ging in erster Linie um die Freiheit, um die ganz persönliche Zukunft der Bürgerinnen und Bürger. Es ging um die Perspektive für unsere Heimat, für Ostdeutschland.
Ich war zu dieser Zeit, im Herbst 1989, zehn Jahre alt. Sie können jetzt sagen: Der Sven Schulze war doch damals noch viel zu jung. - Ich sage Ihnen: Die Emotionen, das Gefühl von Aufbruch, der Mut, die Zuversicht, die damals in den Gesprächen mit meinen Eltern und Großeltern zu spüren waren, habe ich als zehnjähriger Junge direkt miterlebt. Das hat einen Eindruck hinterlassen. Diese entscheidenden Wochen, meine Damen und Herren, haben unsere Mentalität hier im Osten maßgeblich geprägt.
(Beifall bei der CDU)
Für das, was man anstrebt, einstehen. Auseinandersetzungen nicht scheuen, sondern bewusst führen. Den Mut sammeln und den Mund aufmachen, wenn es um etwas geht. So waren die Menschen 1989 gestrickt und so ticken wir - und das ist auch gut so - auch heute.
(Beifall bei der CDU)
Die friedlichen Demonstranten in Ostdeutschland waren Macher. Denn den Drang nach Freiheit kann man nicht dauerhaft unterdrücken. Diese DDR-Bürger drückten ihn entschlossen aus. Am Ende triumphierten der Mut und der Wille der Menschen. Mit ihrer friedlichen Revolution stießen sie die Tür zur Gestaltung einer neuen Gesellschaft auf. Die Freiheit siegte und der 3. Oktober 1990 ist ohne jeden Zweifel das größte Glück für unser Land.
(Beifall bei der CDU - Zustimmung bei der FDP)
Zu einem Rückblick nach 35 Jahren gehört aber auch ein kritischer Blick. Natürlich verlief nach 1990 nicht alles optimal. Ich finde, auch darüber müssen wir öfter sprechen. Für die meisten Bürgerinnen und Bürger in den alten Bundesländern änderte sich kaum etwas. In den Biografien von vielen Ostdeutschen kam es hingegen zu nachhaltigen Veränderungen und Brüchen. Diese wirken zum Teil bis heute nach. Der Verlust des Arbeitsplatzes war eine solche Zäsur. Enttäuschungen über die soziale Marktwirtschaft und die politischen Institutionen der alten Bundesrepublik blieben nicht aus. Hoffnungen und Brüche in den Biografien waren bisher zu selten Thema in den öffentlichen Debatten. Und wenn sie es waren, dann fehlte es oft an Empathie. Viele Menschen empfanden das als mangelnden Respekt gegenüber ihren Lebensleistungen.
Regelmäßig begegne ich DDR-Nostalgie. Ganz sicher: Nicht jeder DDR-Bürger führte ein unzufriedenes Leben, trotz aller Einschränkungen. Auch ich habe viele schöne Erinnerungen an meine ersten Lebensjahre in meiner Heimat, dem Harz. Aber Mauer, Stacheldraht, der Schießbefehl, die Repressionen gehörten zur Realität dieses Staates. Wir müssen das klar benennen: Die DDR war ein diktatorisches Regime, seine Macht gründete auf Gewalt und Gewaltandrohung.
(Beifall bei der CDU - Zustimmung bei der FDP)
Die Partei- und Staatsführung stellte ihre Ideologie und ihre Moral über das Recht auf Individualität und Vielfalt. Die Merkmale einer freien Gesellschaft akzeptierte sie nicht. Gewaltenteilung und Pluralismus gab es nicht. In der DDR herrschte die Diktatur der SED über das Volk.
(Beifall bei der CDU - Zustimmung bei der FDP)
Lehren aus der Zeit der Wiedervereinigung gibt es reichlich. Eine, die heute mehr denn je gilt: Auf komplexe Fragen gibt es keine einfachen Antworten. Das geeinte Deutschland ist kein Ergebnis aus dem Denken in Schwarz und Weiß. Dieser Prozess erforderte die Berücksichtigung verschiedener Umstände und Interessen und schließlich die Abwägung zwischen mehreren Handlungsoptionen, dabei immer im Hinterkopf: Was ist für die Mehrheit der Bevölkerung am besten, was können wir mit unseren Werten am ehesten vereinbaren?
Mit dieser Politik der Vernunft erntete man damals und erntet man heute natürlich nicht nur Applaus. Helmut Kohl kostete seine Entschlossenheit auch einmal Eier und Tomatenflecken auf dem Hemd. In der heutigen Zeit müsste er womöglich mit einem Shitstorm bei Social Media rechnen.
Was ich damit sagen möchte: Stark sind wir immer dann, wenn wir einander zuhören und mit Respekt begegnen, wenn wir abwägen und die Dinge zu Ende denken, statt sie zu verkürzen, wenn wir Verantwortung übernehmen und Zuversicht vermitteln, statt kurzfristige Parolen zu schmettern.
(Beifall bei der CDU - Zustimmung bei der FDP)
Heute, 35 Jahre später, erlebe ich bei uns in Sachsen-Anhalt Zuversicht und Sorge gleichermaßen. Ohne Frage, wir stehen vor gewaltigen Herausforderungen: die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft, eine gute Zukunft für unsere Landwirtschaft, eine geregelte Migration und Integration von Zuwanderern, die Digitalisierung. Die Liste ließe sich noch ein ganzes Stück fortführen. Überall hier erwarten die Menschen Lösungen.
Und ja, wir müssen die Unzufriedenheit in Teilen der Gesellschaft ernst nehmen. Ich wiederhole mich: Mit einfachen, verkürzten Antworten auf diese Sorgen ist man vielleicht kurzfristig erfolgreich. Mit Blick auf unsere langfristige Zukunft halte ich das allerdings nicht für den richtigen Weg für unser Land.
(Beifall bei der CDU - Zustimmung bei der FDP)
35 Jahre lassen die Zeit vor 1989 in unseren Erinnerungen vielleicht hin und wieder verblassen. Machen wir uns dieses Privilegs des Öfteren bewusst. Setzen wir uns gemeinsam dafür ein, dass Freiheit Bestand hat. Zeigen wir denen, die unsere freiheitliche demokratische Grundordnung umkrempeln wollen, dass sie auf dem Holzweg sind.
(Ulrich Siegmund, AfD: Wen meinen Sie denn?)
Wir haben jede Menge Zuversicht für unser Land. Unser Land kann an einigen Stellen noch besser werden, klar. Aber das, was wir bis hierhin geschaffen haben, sollte uns stolz und dankbar machen. Verstecken müssen wir uns 34 Jahre nach der Einheit jedenfalls nicht mehr. Jemand, der nach einer guten Zukunft strebt, braucht Sachsen-Anhalt nicht mehr zu verlassen.
(Beifall bei der CDU)
Sachsen-Anhalt ist mittlerweile mehr als ein Bindestrichland. Sachsen-Anhalt ist Kulturzentrum. Sachsen-Anhalt spielt landwirtschaftlich ganz vorn mit. Sachsen-Anhalt ist auch bei erneuerbaren Energien Vorreiter. An Sachsen-Anhalt kommt man, anders als in den 1990er-Jahren, auch wirtschaftlich nicht mehr vorbei.
(Beifall bei der CDU - Zustimmung bei der SPD)
Letzteres wird nicht nur an dem Interesse internationaler Großkonzerne deutlich. Das merken wir vor allem auch an der Entwicklung unseres Mittelstandes. Ich nenne Ihnen einmal ein kleines Beispiel. Diejenigen von Ihnen, die hier in der Magdeburger Börde groß geworden und aufgewachsen sind, verbinden etwas mit der Region Helmstedt. Vor der Wende war Helmstedt etwas Besonderes: die Stadt auf der anderen Seite, direkt an der Grenze, ganz nah und doch so unerreichbar. Heute, meine Damen und Herren, sucht Helmstedt den Kontakt zu uns, möchte wirtschaftlich enger mit uns zusammenarbeiten, möchte von dem, was wir hier auf den Weg gebracht haben, profitieren. Das soll in keiner Weise hämisch klingen, im Gegenteil: Ich bin sehr stolz darauf. Im Übrigen bin ich auch stolz darauf, dass viele Menschen aus den alten Bundesländern heute in Sachsen-Anhalt leben und am Erfolg unserer Heimat mitarbeiten. 35 Jahre nach der friedlichen Revolution schaut man endlich wertschätzend auf Sachsen-Anhalt, auf das, was wir hier bewegen. Auch das stimmt mich sehr zuversichtlich.
Wir in Ostdeutschland haben eine eigene Mentalität, sagte ich am Anfang meiner Rede. Freiheit schätzen, zuversichtlich bleiben - darauf kommt es an. Wenn es darum geht, unser Land voranzubringen, sollten wir mehr ermöglichen, statt zu verhindern. Ich bin für einmal weniger Ängste schüren und einmal mehr abgewogen und pragmatisch vorgehen. Das gilt für Großinvestitionen, das gilt für soziale Fragen, das gilt für vernünftige Lösungen bei gesellschaftspolitischen Themen.
In den kommenden 35 Jahren haben wir viel zu tun. Das geht nur, wenn wir in der Mitte der Gesellschaft zusammenstehen. Denken wir öfter an 1989 zurück: entschlossen Mut sammeln und den Mund aufmachen, wenn es um etwas geht, aber immer auf den Grundfesten unserer Demokratie. Ich bin überzeugt von und zuversichtlich für Sachsen-Anhalt, für unsere Heimat. - Herzlichen Dank.