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Plenarsitzung

Transkript

Sebastian Striegel (GRÜNE):

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eiseskälte und kein Ausweg. Geflüchtete, unter ihnen auch Familien, Frauen, Kinder, Väter, durchgefroren, hungrig, verzweifelt im Winterödland der Grenze, vor ihnen Stacheldraht und Sperreinrichtungen, gesichert von Grenzpolizei und Armee, hinter ihnen belarussische Bewaffnete mit unklaren und   ja   auch gefährlichen Absichten.

Neben der Ausweglosigkeit vor Ort sind diese Menschen, unter ihnen   das ist deutlich geworden   auch viele Betroffene des Völkermords an den Jesiden, Spielball und zynisches Erpressungskapital des gewissenlosen Lukaschenko-Regimes. Die Situation und die Bilder sind dramatisch. Wer angesichts dieser Zustände ohne Mitleid ist, dessen Herz ist kalt wie die Temperaturen vor Ort.

Wohl wissend, dass der Verursacher genau dies beabsichtigt und diese Menschen lediglich zum Mittel für seine Vergeltungspläne macht, so wie er die Macht der Bilder nutzt, kann uns weder die Lage der Menschen dort noch die Herausforderung für die Europäische Union egal sein; im Gegenteil.

Herr Gallert, ich glaube, man muss das auch schon geostrategisch als solches benennen. Dazu braucht es Ehrlichkeit. Es hilft nicht, darum herumzureden.

(Zustimmung)

Polen ist nicht allein. Gesamteuropäische Solidarität als Antwort und zur Lösung ist angezeigt. Europa darf sich um die bewusst herbeigeführte Lage weder spalten noch erpressen lassen. Auf der einen Seite gilt es, die europäischen Grundwerte der Humanität zu leben und das geltende EU-Migrationsrecht umzusetzen, so wie es auf der anderen Seite eben auch gilt, nicht von der Verurteilung des illegitimen und diktatorischen Lukaschenko-Regimes abzuweichen.

Zur dramatischen Situation in der Grenzregion muss die EU, insbesondere das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen, präsent sein und die polnische Regierung bei der Ankunft mit Migrantinnen und Migranten unterstützen. Die polnische Regierung wiederum sollte das auch nutzen.

Die Menschenwürde aller Ankommenden muss gewährleistet werden. Dazu gehört unmittelbare Hilfe gegen Hunger und Kälte wie natürlich auch die Möglichkeit, Asylanträge zu stellen. Illegale Pushbacks müssen eingestellt, der reguläre Zugang zum Asylsystem muss möglich sein.

Zugang ist auch für jene, die Nothilfe leisten können, unmittelbar nötig. Auch Journalistinnen und Journalisten müssen vor Ort ihrer Arbeit nachgehen können. Polen muss dies im Rahmen seiner rechtstaatlichen Verpflichtung gewährleisten. Auf belarussischer Seite ist die Presse eingeschränkt und Teil der eiskalten Strategie des Regimes.

Die heute von der rechtsextremen AfD zu Waffen umgeschmiedeten Bilder sind Teil des Kalküls.

Denn verantwortlich für die Lage ist der belarussische Diktator Lukaschenko mit Billigung des russischen Präsidenten Putin. Moskau und Minsk instrumentalisieren diese Menschen in ihrem Kampf gegen die EU und die Demokratie. Erpressung und hybride Kriegsführung, wie wir sie von Putin und Lukaschenko sehen, dürfen nicht zum Erfolg führen. Der Diktator aus Minsk will spalten und Unfrieden zwischen Deutschland und Polen sowie innerhalb der EU schüren. Das darf ihm nicht gelingen. Sein Druckmittel darf keines mehr sein. Auf eine unmittelbare Lösung, ihm dieses aus der Hand zu nehmen und für die Menschen vor Ort die Falle zu öffnen, hat auch Wolfgang Schäuble gestern, wie ich finde, richtigerweise hingewiesen. Unsere Aufgabe ist es, etwas zu dieser Lösung beizutragen.

Genauso wenig dürfen wir nachgeben. Wir müssen die undemokratischen Zustände, das Niederschlagen und das Wegsperren der pro-demokratischen Zivilbewegung in Belarus weiterhin anprangern. Ich bin deshalb dankbar, dass Swetlana Tichanowskaja am vergangenen Wochenende wenige Meter von hier entfernt mit dem Lothar-Kreyssig-Friedenspreis der EKD geehrt werden konnte. Ihr und den anderen Oppositionellen gilt unsere Solidarität.

(Zustimmung)

Die sich immer weiter verschlechternde Menschenrechtslage in Belarus bleibt bittere Realität. Die Zahl der politischen Gefangenen dort wächst täglich. Auch dies versucht der Machthaber mit der Eskalation an der belarussisch-polnischen Grenze ins Abseits der Wahrnehmung zu drücken.

Auf beiden Ebenen muss deshalb die Botschaft lauten: Wir lassen uns nicht erpressen - nicht von Minsk und nicht von Moskau. Diese Ansage gilt aber weit über die aktuell zugespitzte Situation hinaus. Aus eben diesen Gründen darf auch Nord Stream 2 nicht an den Start gehen.

(Lachen)

Denn auch Putins Erdgaspolitik birgt ein ähnliches Erpressungspotenzial.

Notwendig ist jetzt also weiterhin spürbarer Druck auf den Diktator. Insoweit ist es richtig, dass die EU ihre Sanktionen gegen das Regime und relevante Wirtschaftssektoren weiter verschärft. Leider ist es weiterhin nicht so, dass die EU bereits eine Verschärfung von Wirtschaftssanktionen beschlossen hätte. Das Schließen der Lücken im Kali-, Öl- und Finanzsektor hätte Wirkung, fehlt aber noch.

Richtig ist, dass die EU am Montag einen rechtlichen Rahmen für diese Sanktionierung von Personen und Unternehmen geschaffen hat, die an der staatlichen Schleusung und Instrumentalisierung von Schutzsuchenden beteiligt sind. Das begrüßen wir ausdrücklich. Aber wir fordern darüber hinaus, die Wirtschaftssanktionen weiter auszuweiten, nämlich genau auf die Bereiche, in denen es dem Regime tatsächlich wehtut und wirkt.

Der Umgang mit Diktatoren darf auch nicht durch die Hintertür deren Regime legitimieren. Polen hat zu Recht darauf hingewiesen, dass das aktuelle deutsche Vorgehen über seinen Kopf hinweg geschieht. Die deutsche Überheblichkeit ist ein Problem. - Herr Gallert, ich habe sie leider auch bei Ihnen herausgehört. Die PiS-Regierung findet meine Unterstützung nicht, aber ich glaube, es ist eine ungute Tradition, wenn wir aus deutscher Perspektive versuchen, über die Köpfe der Polen hinweg Politik zu betreiben.

(Zustimmung)

Man braucht ein abgestimmtes deutsches und europäisches Vorgehen. Unter keinen Umständen darf Europa Lukaschenko als Präsidenten von Belarus anerkennen oder diesen durch andere Handlungen legitimieren.

Dass von Moskau und Minsk systematisch Druck aufgebaut wirkt, zeigt sich auch an dem derzeitigen Manöver des russischen Militärs mit Belarus nahe der polnischen Grenze. Russlands Verantwortung in dieser bewussten Eskalation muss deutlich gemacht werden. Unsere Antwort bleibt eine gesamteuropäische Solidarität. Die EU steht geschlossen gegen Versuche, sie oder ihre Mitgliedstaaten einzuschüchtern. Gerade der EU-kritischen polnischen Regierung wie auch den Polinnen und Polen gilt es jetzt, den Wert und die Entschlossenheit der EU zu vermitteln.

(Ulrich Siegmund, AfD: Polinnen und Polen! - Lachen)

Für die Menschen vor Ort, die lediglich als Spielball für die kalten Interessen Putins und Lukaschenkos missbraucht werden, braucht man eine schnelle Lösung.

(Ulrich Siegmund, AfD, lacht)

- Ja, Herr Siegmund, es gibt Polinnen und Polen.

(Lachen)

Das wird Sie vielleicht irritieren, aber auch die polnische Bevölkerung besteht etwa zur Hälfte aus Frauen.

(Zuruf: Gibt es auch Deutschinnen und Deutsche? - Zuruf: Ich bin für „Deutschinnen“! - Lachen)

Aus humanitären wie auch aus strategischen Gründen muss die unwürdige Lage beendet werden und damit auch das Aggressionsmittel Lukaschenkos wegfallen. Die Situation aufrechtzuerhalten, würde nur wunschgemäß dessen Absichten nach Spannung, Spaltung, Unruhen und schlimmen Bildern in die Hände spielen.

Wenn also die frierenden Menschen vor Ort versorgt und Asylsuchende ordentlich registriert worden sind, dann kann über eine Verteilung gesprochen werden. Ja: An einer Verteilung von Asylsuchenden auf weitere EU-Mitgliedstaaten muss sich Deutschland, muss sich auch Sachsen-Anhalt beteiligen.

Genauso wie vor Ort eine rechtsstaatliche und humanitäre Situation hergestellt werden muss, müssen die Flüge, mit denen Menschen beispielsweise aus dem Irak oder Syrien nach Belarus gebracht werden, beendet werden. Das ist zum Teil schon passiert. Offensichtlich führen sie die Betroffenen absichtlich in eine Sackgasse. Sie werden zu Werkzeugen einer Erpressung und finden sich in einer Situation wieder, in der sie eben nicht mehr über sich selbst bestimmen können.

Die zuvor genannten harten Sanktionen gegen das Regime wie auch die Sanktionen gegen beteiligte Fluglinien und Unternehmen sind notwendig. Zusätzlich muss direkt in den Herkunftsländern vor dem falschen Spiel und den falschen Versprechungen Lukaschenkos gewarnt werden.

Statt sich von Erpressern Wind unter die Flügel einer Politik der Inhumanität und der Angstmache zu erhoffen   ich sage auch, einer Politik des Rassismus, wie sie die AfD hier verbreitet  , müssen wir der gegenwärtigen Situation mit der Solidarität verantwortungsvoller Politikerinnen und Politiker begegnen und eben nicht darauf eingehen. - Vielen herzlichen Dank.

(Zustimmung)


Vizepräsidentin Anne-Marie Keding:

Herr Gallert ist zu einer Intervention an das Mikrofon getreten.


Wulf Gallert (DIE LINKE):

Herr Striegel, ich wollte Sie nur auf eine interessante Parallele aufmerksam machen. Sie meinten, was ich zur polnischen PIS-Regierung gesagt habe, sei Ausdruck einer deutschen Überheblichkeit. Sie meinten, man sollte nicht über die Köpfe der Polen hinweg urteilen.

Vor dem Hintergrund des Charakters der PiS-Regierung und in Anbetracht dessen, was sie innenpolitisch tut, will ich Ihnen etwas sagen. Wissen Sie, Herr Striegel, ich kenne eine solche Argumentation, wie Sie sie in Bezug auf die polnische Regierung gerade vorgetragen haben, sehr wohl auch aus der eigenen Partei. Nur dort bezieht sie sich auf Russland. Eigenartigerweise werden hier im Grunde genommen dieselben Wahrnehmungen und Bilder bedient. Es ist auch eine Frage von Glaubwürdigkeit, wenn man gegenüber Russland ein solches Kriterium anführt, gleichzeitig aber sagt, die Kritik an der polnischen Regierung sei Ausdruck deutscher Überheblichkeit. Ich glaube, das ist in sich nicht kohärent, Herr Striegel.


Sebastian Striegel (GRÜNE):

Herr Gallert, ich will Ihnen ausdrücklich widersprechen. Denn ich habe die polnische Regierung nicht von Kritik ausgenommen. Bei dieser gäbe es jede Menge zu kritisieren. Vielmehr geht es um die Frage, ob man Politik aus deutscher Perspektive über die Köpfe der Polinnen und Polen hinweg betreiben sollte.

(Zuruf: Er hat es wieder gesagt!)

Das sollte man ausdrücklich nicht tun.


Wulf Gallert (DIE LINKE):

Aber auch ich habe nur die Regierung kritisiert, Herr Striegel.