Wulf Gallert (Die Linke):
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man merkt bereits im Auditorium die überschwänglichen Emotionen bei diesem Thema im Verhältnis zu den anderen Themen, die wir vorher hatten.
(Ulrich Thomas, CDU: Entschuldigung!)
Das hat natürlich eine gewisse Rationalität; denn 90 % der Diskussionen um Bürokratie sind Schattenboxen. Damit hat man etwas, wogegen jeder ist, und dann kann man sozusagen ordentlich draufhauen. Das hat allerdings relativ wenig Substanz, wenn man einmal genauer schaut, was dahintersteht.
(Zustimmung von Olaf Meister, GRÜNE)
In den allermeisten dieser Debatten geht es nämlich eigentlich nicht um Bürokratie, sondern es geht darum, dass man sich über Dinge aufregt, die für einen selbst, aus der eigenen Perspektive heraus, überflüssig sind, die eigentlich weggehören, die eigentlichen niemanden zu interessieren haben.
Man muss keine Diagnose des Zeitgeistes abliefern, wenn man sich einmal genauer anguckt, worum es geht. Die allererste Debatte dreht sich immer um Arbeitnehmerinteressen: Werden bestimmte Schutzmechanismen eingehalten, Mindestlohn usw.? Diese Berichtspflichten haben sofort zu verschwinden. Häufig auch Naturschutz und Planungsrecht, natürlich auch die Frage von globaler Gerechtigkeit, wenn es um Lieferketten geht - all diese Berichtspflichten haben erst einmal sofort zu verschwinden. Wenn man sich mit Unternehmern über solche Dinge unterhält, hört man häufig: Das ist doch alles überflüssig, das brauchen wir nicht, das ist Misstrauen.
(Zustimmung bei der Linken)
Es gibt übrigens auch völlig andere Debatten. Diejenigen, die hier Bürokratie beklagen, fordern an anderer Stelle massiv einen Aufbau von Bürokratie, z. B. bei der Bezahlkarte für Asylbewerber. Da kann es gar nicht genug Bürokratie geben.
(Zustimmung bei der Linken und bei den GRÜNEN)
Oder nehmen wir die Kontrolle von Bürgergeldempfängern - da muss wirklich das Allerkleinste bis in den letzten Millimeter hinein kontrolliert und dokumentiert werden. Dabei sieht man überhaupt kein Problem mit Bürokratie.
Deswegen sage ich: Schaut euch immer sehr genau an, wer welche Bürokratie beklagt, und dann wisst ihr, wessen Interessen er vertritt. Deswegen haben wir darauf tatsächlich eine andere Perspektive.
(Beifall bei der Linken - Zustimmung bei den GRÜNEN)
Nun hat die SPD ausgerechnet nach den Berichtspflichten für Unternehmen gefragt. Es ist tatsächlich so: Fast jede Antwort lautet, dass es keine landesspezifischen Berichtspflichten gebe, oder nur in ganz wenigen, bestimmten Fällen. Wenn wir keine oder so gut wie keine landesspezifischen Berichtspflichten haben, dann frage ich, wann der nächste Landtagswahlkampf zum Bürokratieabbau losgeht. Wenn wir hier eine Antwort haben, in der steht, wir hätten in diesem Bereich im Grunde genommen kaum Stellschrauben, dann frage ich, ob der nächste Landtagswahlkampf sich wieder zu 30 % um Bürokratieabbau und um Berichtspflichten drehen wird. Da sehen wir doch schon, welches Missverhältnis an dieser Stelle herrscht.
Nein, wir haben hier relativ wenig Spielraum, und es ist eigentlich völliger Blödsinn, so zu tun, als könnten wir massiv etwas machen. Diese Dinge liegen tatsächlich in anderen Regionen, unter anderem auch bei der EU. Das stimmt zweifellos.
Dann stellt sich die Frage: Gibt es bei den Unternehmen auch aus der Perspektive von Linken tatsächlich reale Probleme? Dafür will ich einmal die Geschichte mit dem Lieferkettengesetz aufnehmen, übrigens auch im Zusammenhang mit der Frage, welche Berichte, in denen CO2-Bilanzen abverlangt werden, Unternehmen realisieren müssen, wenn sie bestimmte Importe von außerhalb der EU realisieren. Ich sage ausdrücklich: Sowohl beim Lieferkettengesetz als auch in diesen Bereichen entlastet sich der Staat von der eigenen Kontrolle, indem er Unternehmer Dinge unterschreiben lässt, die sie überhaupt nicht beurteilen können.
Ich sage ausdrücklich: Nein, ich will das Lieferkettengesetz nicht abschaffen, aber die Kontrolle darüber, ob ein importiertes Produkt irgendwo durch Kinderarbeit hergestellt wurde oder andere ILO-Kernarbeitsnormen verletzt, kann ich nicht dem letzten Abnehmer, dem letzten Kleinunternehmer aufbürden. Denn der ist überhaupt nicht in der Lage dazu, das zu kontrollieren. Aber eine Europäische Union, die z. B. Zollbestimmungen realisiert, könnte das genauso machen wie die Bundesrepublik, wenn sie es denn will, mit eigenen Gesetzen.
Deswegen finde ich es sehr wohl richtig, bei solchen Diskussionen nicht darüber zu diskutieren, die Dinge abzuschaffen, sondern darüber, die richtigen Verantwortlichen zu treffen, und das wären in diesem Fall der Staat und die Europäische Union. - Danke, liebe Kolleginnen und Kollegen.
(Beifall bei der Linken)
Präsident Dr. Gunnar Schellenberger:
Herr Gallert, Sie haben es bestimmt schon gesehen: Herr Gürth möchte Sie gern etwas fragen.
Wulf Gallert (Die Linke):
Mit Freude.
Präsident Dr. Gunnar Schellenberger:
Das war mir völlig klar.
Detlef Gürth (CDU):
Sehr geehrter Kollege Gallert, mich hat die Aussage gestört: Vielleicht ist Brüssel schuld oder der Mars oder wer auch immer, aber eigentlich können wir gar nichts machen; es kann alles so bleiben, wie es ist. Das suggeriert, wir könnten beim Thema Bürokratieabbau gar nichts machen. Dem möchte ich massiv widersprechen.
(Zustimmung von Ulrich Thomas, CDU)
Es gibt tausend Dinge, die wir machen können. Das fängt mit einer vernünftigen Fehlerkultur an. Warum muss ein Sachverhalt, der kontrolliert werden muss, noch fünfmal nachkontrolliert werden? Wenn Sie Hotelier oder Gaststättenbetreiber sind, brauchen Sie selbstverständlich Rauchmelder. Dann montieren Sie nicht nur die Rauchmelder und dokumentieren auch noch, dass das eine Fachfirma gemacht hat, sondern die Fachfirma wird dann auch von einem Gutachter begutachtet und der Gutachter wird noch einmal durch einen anderen begutachtet. Dieser Sachverhalt, der eigentlich 120 € kostet, kostet dann 400 €; denn der Prüfer wird geprüft und der Prüfer des Prüfers wird wieder geprüft und hin und her. Es gibt mehrere solche Schritte, die man, wenn man es beherzt anpackt und ein bisschen die Fehlerkultur überdenkt, vereinfachen könnte. So könnte man Zeit und Geld für viele Selbständige und Unternehmen, aber auch für Vereine, die das genauso trifft, sparen.
Das sogenannte Vergabegesetz ist Bürokratie schlechthin. Wir hätten ganz viele Mittel eingespart das freut immer den Finanzminister , die für sinnvolle Investitionen zur Verfügung gestanden hätten, wenn alle wirklich kontrolliert hätten, ob immer alles eingehalten wurde. Viele Kommunen drücken doch die Augen zu, weil sie genau wissen, dass sie gar nicht alles kontrollieren können, was nach den jetzigen Vorschriften abgefragt wird, damit man überhaupt noch einen öffentlichen Auftrag ab einer bestimmten Größenordnung bekommt.
Man mogelt sich um die Realität, um die Pflichten, die es in der Realität gibt, herum. Wenn wir solche Dinge anpacken, dann kann man sehr viel an Erleichterungen erreichen. Man muss es nur wollen. Aber dann sind wir wieder bei Ihnen - das ist politisch nicht gewollt.
(Eva von Angern, Die Linke: Du machst das jetzt seit 22 Jahren in der Landesregierung!)
Wulf Gallert (Die Linke):
Ich würde gleich antworten. - In der Tat, alle Berichtspflichten, die Arbeitnehmerschutzinteressen berühren, abschaffen, das wollen Sie, Herr Gürth. Wir wollen das nicht. Das eine ist die politische Interessenlage, die Sie vertreten,
(Detlef Gürth, CDU: Nein!)
und das andere die, die wir vertreten. Das ist der Unterschied. Darin haben Sie völlig Recht.
Punkt 2. Ich habe es klar gesagt: Das, was die Antwort erbracht hat, ist: Es gibt einen minimalen Spielraum für Landesentscheidungen darüber, wo Berichte abgegeben werden müssen und wo nicht. Das ist das, was wir in Sachsen-Anhalt beeinflussen können.
Letzter Punkt. Ich habe auch an anderer Stelle schon gesagt: Natürlich können wir Bürokratieabbau realisieren, indem wir die Schranken zwischen Institutionen, die ja alle staatliche Institutionen sind, abbauen Ihr Feuermelderbeispiel hat es ja gezeigt , indem wir nicht verschiedene staatliche Institutionen auf die gleichen Akteure zugehen lassen, die sozusagen immer die gleichen Dinge machen. Das können wir machen, das ist völlig richtig.
Die zweite große Geschichte ist: Die Leute, die sich damit auseinandersetzen, in der öffentlichen Verwaltung, in den Kontrollinstanzen, müssen Ahnung davon haben, worum es geht.
(Kathrin Tarricone, FDP: Ja!)
Das ist das zentrale Problem, an dem wir zurzeit scheitern. Gerade im Baubereich wird mir immer wieder gesagt, dass auf der anderen Seite Leute sitzen, die überhaupt nicht erkennen können, welche Berichte und welche Standards sie da abfordern. Und weil sie das nicht können, tun sie das immer wieder, weil sie zum Teil die Antwort gar nicht verstehen. Das wird sich noch verschärfen, und zwar dadurch, dass wir im Land Sachsen-Anhalt einen Einstellungsstopp haben; denn genau auf diesen Bereich wirkt der sich dann aus. Wir verschärfen also gerade die Situation, anstatt sie zu verbessern. Das ist unsere Kritik. - Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen.