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Plenarsitzung

Transkript

Tagesordnungspunkt 28

Beratung

1. Mai - gewerkschaftliche Kämpfe um gute Arbeits- und Lebensbedingungen sind Voraussetzung für gute wirtschaftliche Entwicklung

Antrag Fraktion DIE LINKE - Drs. 8/2529

Alternativantrag der Koalitionsfraktionen - Drs. 8/2575


Einbringen wird den Antrag der LINKEN Herr Gallert.


Wulf Gallert (DIE LINKE):

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir hätten diesen Tagesordnungspunkt heute auch im Verbund mit dem ersten Tagesordnungspunkt, nämlich mit der Debatte über die wirtschaftliche Entwicklung des Landes Sachsen-Anhalt, behandeln können. Das war, ehrlich gesagt, unser Ziel. Leider hat sich die CDU diesem Ansinnen offensichtlich verweigert. Das gibt mir die Möglichkeit, ein Stück weit einen geschichtlichen Rückblick auf diesen Tag 1. Mai zu machen. Dann habe ich eben zweimal eine Redezeit von zehn Minuten im Landtag.

Lassen Sie mich kurz darauf eingehen. Eine der wichtigen historischen Quellen des Feiertages, der bei uns   relativ wertneutral   nur Tag der Arbeit heißt, ist die nordamerikanische Arbeiterbewegung. Dort gab es im Jahr 1886 eine große Bewegung von Arbeitern, die sich tatsächlich zusammengefunden haben, gemeinsam ihre Interessen artikuliert haben, und zwar gegen die Unternehmer, sich über Betriebe hinweg verbunden haben, um einen entsprechenden Kampftag Anfang Mai 1886 zu realisieren.

Interessanterweise war Gegenstand der Auseinandersetzung schon damals nicht die Höhe des Lohns; vielmehr betraf die zentrale Auseinandersetzung die Länge der Arbeitszeit. Es wurde die Forderung aufgemacht, den damals zwölfstündigen Arbeitstag auf acht Stunden zu reduzieren, und zwar per Gesetz und nicht nur in einem ganz bestimmten Betrieb.

Das heißt, die historischen Quellen dieses Tages liegen eigentlich in einer politischen Auseinandersetzung und damals vor allen Dingen in Chicago in einer politischen Streikbewegung für eine gesetzliche Regelung zur Reduzierung der Arbeitszeit. Das ist vielleicht wichtig, weil die deutsche Lesart inzwischen, zumindest im Hinblick auf das Streikrecht, eine völlig andere ist.

Ich will auf den 1. Mai zurückkommen. Drei Jahre später hat die Zweite Internationale diesen Tag als Kampftag der Werktätigen definiert. Kampftag der Werktätigen war im wahrsten Sinne des Wortes gemeint; denn in Nordamerika, später weltweit und auch in Deutschland ist am 1. Mai für die Rechte von Arbeitern und Arbeiterinnen gestreikt worden. Es ist demonstriert worden und man ist auf die Straße gegangen.

Wenn ich „Kampftag“ sage, dann war das ein Kampftag. Allein im Jahr 1929 sind in Deutschland, und zwar in Berlin, 33 Demonstranten ermordet worden, und zwar von der Polizei - übrigens, um auch das zu sagen, auf Befehl eines sozialdemokratischen Polizeipräsidenten. Der Begriff „Kampftag der Werktätigen“ ist in vielen Ländern, und zwar auch in Deutschland, mit Blut geschrieben worden. Wir fühlen uns dieser Tradition der Arbeiterbewegung verpflichtet. Für uns ist der 1. Mai ein Kampftag. Ein Kampftag für die Durchsetzung der Interessen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern.

(Beifall bei der LINKEN)

Allerdings   das will ich dazu sagen   gibt es eine etwas umfangreichere und kompliziertere Geschichte in Deutschland. Am 1. Mai 1933 wurde der Tag von den Nazis zum „Tag der nationalen Arbeit“ umbenannt. Der Sinn ist völlig entleert worden. Jetzt ging es nicht mehr darum, die Interessen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitern durchzusetzen und gegen ihre Ausbeutung vorzugehen, sondern jetzt steht der Dienst an der deutschen Volksgemeinschaft im Vordergrund bzw. sollte er damit gewürdigt werden. Im Grunde genommen genau die Umkehrung.

Damals ist der 1. Mai umdefiniert worden, und zwar in einen Tag, an dem die Ausbeutung der Arbeiter im Interesse eines Terrorregimes und eines Regimes, das den Zweiten Weltkrieg vorbereitet hat, gefeiert werden sollte. Dies ist eine absolute Verkehrung der Tradition und der historischen Entwicklung dieses 1. Mai.

Jetzt kommen wir zu der logischen Konsequenz. Was passierte am 2. Mai? - Nazischergen stürmten die Gewerkschaftshäuser, schlugen Gewerkschaftssekretäre krankenhausreif, verhafteten sie, brachten sie zum Teil um und die Gewerkschaftshäuser und alles Eigentum der Gewerkschaften sind beschlagnahmt worden. Das sind ebenfalls Traditionen. Das sind auch historische Wahrheiten, und zwar bittere Wahrheiten, an die an diesem Tag erinnert werden soll.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich bin übrigens froh   das will ich sagen  , dass die Gewerkschaften in Sachsen-Anhalt am 2. Mai sowohl in Halle als auch in Magdeburg Gedenkveranstaltungen zum 90. Jahrestag der Erstürmung der Gewerkschaftshäuser durch Nazis veranstalten.

(Zustimmung bei der LINKEN)

Zur kritischen Geschichtsreflexion gehört allerdings auch, dass der 1. Mai in der DDR zwar „Kampf- und Feiertag der Arbeiter“ genannt worden ist, aber mit diesem Inhalt überhaupt nichts zu tun hatte. Der 1. Mai in der DDR war eine Demonstration, und zwar meist im wortwörtlichen Sinne, der Arbeiterklasse in Verbundenheit zu ihrer Führung, die von sich selbst behauptete, dass sie die Führung der Arbeiterklasse war. Das eine war genau wie das andere ein Fake; das muss man ganz klar sagen. Es war kein Kampftag, wie er in der DDR genannt worden ist, sondern es war ein Tag der Treue zur politischen Führung, den die meisten haben über sich haben ergehen lassen; denn am Ende gab es schließlich eine Bockwurst.

Dazu sage ich ganz deutlich: Dies war eine vollkommene Verfälschung des 1. Mai und seiner Historie, und es hatte mit dem, worum es bei dem 1. Mai als Kampftag für die Durchsetzung der Interessen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ursprünglich ging, nichts zu tun.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich will darauf hinweisen, dass es auch in diesem Jahr eine Reihe von Veranstaltungen der Gewerkschaften am 1. Mai gibt, und zwar unter dem Motto „Ungebrochen solidarisch“. Dies ist, glaube ich, das zentrale Element, die zentrale Aussage des 1. Mai. Es ist die Solidarität von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Es ist die Solidarität von Beschäftigten, sich zusammenzuschließen, sich nicht auseinanderdividieren zu lassen und gemeinsam für ihre Interessen einzutreten: für gute Arbeit, für ein gutes Leben, für Arbeitszeitverkürzung, für Tariflöhne. Darum geht es an dieser Stelle. Insofern, finde ich, haben die Gewerkschaften mit ihrem Motto „Ungebrochen solidarisch“ sehr gut auf den historischen Kontext des 1. Mai reagiert.

(Beifall bei der LINKEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht bei dem Kampf der Gewerkschaften, der am 1. Mai im Mittelpunkt steht, nicht nur um die elementaren Interessen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Wir brauchen starke Gewerkschaften. Wir brauchen starke Gewerkschaften mit einem starken Streikrecht; denn nur dann, wenn Gewerkschaften in der Lage sind, diese Interessen   übrigens auch mit deutlichen Streiks   zu artikulieren, sind sie in der Lage, den gesellschaftlichen Reichtum so verteilen, dass die soziale Schere in unserem Land nicht immer weiter auseinandergeht.

Das war heute die erste Debatte. Es gab in den letzten drei Jahren in der Bundesrepublik Deutschland und auch in Sachsen-Anhalt Wachstumsraten, wenn auch nur geringe. Aber es gab wieder drei Jahre hintereinander einen Reallohnverlust. Im Jahr 2022 gab es den absoluten größten Reallohnverlust seit 20 Jahren, und zwar mit minus 4 %. Unter diesen Bedingungen ist es geradezu notwendig, dass wir kampfbereite Gewerkschaften haben, die mit Streiks bessere Löhne erzwingen; denn ansonsten geht die soziale Schere immer weiter auseinander.

(Beifall bei der LINKEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das ist aber leider nicht Konsens in unserer Gesellschaft; denn sobald es einige Streiks gegeben hat, sobald wieder etwas mehr Kampfbereitschaft vorhanden war, kamen die üblichen Verdächtigen sofort auf die Bühne.

Die CDU-Mittelstandsvereinigung regte sich darüber auf, das gestreikt wird: Man müsse das viel radikaler einschränken. Erstens müsse man es vier Tage vorher anmelden. Zweitens könnte es nur genehmigt werden, wenn es niemanden störe. Drittens sollte man in bestimmten, und zwar in den meisten Bereichen, eine Zwangsschlichtung abwarten. Was bitte, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist das, wenn nicht die Infragestellung des Streikrechts als eines der elementaren Rahmenbedingungen?

Natürlich fehlt dann auch nicht der Geschäftsführer des Arbeitgeberverbandes, der sagt: Wir brauchen jetzt endlich ein Gesetz, das den Streik in Deutschland zu einem Ausnahmetatbestand macht.

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt Erhebungen darüber, wie viele Arbeitstage in dieser Bundesrepublik Deutschland durch Streiks betroffen sind. Das sind pro 1 000 Arbeitnehmer pro Jahr 18 Tage. Wenn Sie sich überlegen, dass ein Arbeitnehmer etwa 180   machen wir es an der Stelle so einfach   Arbeitstage hat, dann kommen auf 180 000 Arbeitstage 18 Streiktage. Im Durchschnitt einer von 10 000 Arbeitstagen fällt in den letzten zehn Jahren laut der Böckler-Stiftung wegen eines Streiks aus. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was ist das, wenn nicht schon jetzt die absolute Ausnahme?

In Frankreich, in Belgien, in Kanada   das sage ich ausdrücklich   sind es vier- bis fünfmal so viele. Dort wird so gestreikt, wie es hier eigentlich sein sollte, und hier wird gejammert. Das ist eigentlich ein Phantomschmerz.

Deswegen sagen wir als LINKE ganz klar: Diesen Angriffen auf das Streikrecht, diesen Angriffen, die letztlich auch Angriffe auf Gewerkschaften sind, gehört klar eine Absage erteilt. Nein, werte Kollegen der CDU-Mittelstandsvereinigung, nein, liebe Kollegen vom Arbeitgeberverband, das Beschneiden des Streikrechts, das Verbieten von Streiks, das Beschneiden von Rechten der Gewerkschaften, wird politisch nicht stattfinden   nicht mit uns. - Danke.

(Beifall bei der LINKEN)