Tagesordnungspunkt 4
Arbeitsweise der Sozialagentur ungenügend? - Träger der Eingliederungshilfe schlagen Alarm
Antrag Fraktion DIE LINKE - Drs. 8/2380
Wir haben eine Zehnminutendebatte, wie eben auch schon. Es hat zunächst die Antragstellerin das Wort. - Frau Anger, bitte schön.
Nicole Anger (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem Bundesteilhabegesetz sollten nicht nur mehr und vor allen Dingen bessere Möglichkeiten der Teilhabe für Menschen mit Behinderung geschaffen werden.
Es sollten ihnen auch mehr Selbstbestimmungsrechte eingeräumt werden. Das ist auch richtig so; denn gemäß der UN-Behindertenrechtskonvention ist es - ich zitiere :
„Zweck dieses Übereinkommens [ist es], den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die Achtung der ihnen innewohnenden Würde zu fördern.“
So ist zumindest auch die Vorstellung des Bundesgesetzgebers. Aber wie läuft es hier bei uns im Land seit dem Jahr 2020, dem eigentlich scharfen Start des Bundesteilhabegesetzes? Klappt das mit der Beteiligung? Welche Mitsprache haben Menschen mit Behinderung in Bezug auf ihre Bedarfe und auch in Bezug auf ihre Wünsche? Wie läuft es denn bei der Kommunikation zwischen den Sozialämtern und der Sozialagentur? Wer entscheidet was, wann und wie?
Es sind scheinbar ganz einfache Fragen, meine Damen und Herren. Aber darauf gibt es nur eine Antwort: Katastrophal läuft es. Deswegen ist es an der Zeit, dass wir hier darüber reden. Der Fakt ist, die Selbstvertretungen, Verbände und Leistungserbringer der Eingliederungshilfe schlagen Alarm. Die Menschen mit Behinderung werden abgehängt, Teilhabe und Selbstbestimmung adé. Das Bundesteilhabegesetz ist in diesem Land nur heiße Luft.
(Zustimmung bei der LINKEN)
Beginnt der Prozess der Gesamtplanung auf kommunaler Ebene durch die Sozialämter noch partizipativ mit den Leistungsberechtigten, scheitert die Beteiligung dann, wenn die Sozialagentur es auf den Tisch bekommt oder, besser gesagt, es sich auf den Tisch zieht, und das bei rund 27 000 Leistungsberechtigten in diesem Land.
Und die Sozialagentur zieht sich jeden Fall auf den Tisch; denn diese deklariert augenscheinlich jeden der 27 000 Leistungsberechtigten zu einem komplexen Einzelfall. Das geschieht ohne jede gesetzliche Grundlage und gegen den Willen des Bundesgesetzgebers. Menschen mit Behinderung, ihre Betreuer*innen und auch die Einrichtungen, die ihr Zuhause sind, erfahren von der Sozialagentur nur wenig bis gar keine Beteiligung an ihren Verfahren, geschweige denn Wertschätzung für die wichtige Arbeit.
Vor Ort, in den Kommunen, engagieren sich in der Regel qualifizierte Mitarbeitende der Sozialagentur im Gesamtplanverfahren. Sie wenden das Elsa-Verfahren an und kreuzen dabei Checklisten ab. Nachdem dann von den Sozialämtern einzelne Hilfebedarfe bestimmt wurden, stellt das Sozialamt eine Hilfebedarfsgruppe fest. Diese, meine Damen und Herren, darf jedoch nur mit Bleistift oder Klebezettel an den Gesamtplan angeheftet werden. Und warum? - Weil die Sozialagentur der Entscheidungskompetenz der Sozialämter augenscheinlich nicht traut - eine Machtasymmetrie, die ihresgleichen sucht.
(Zustimmung bei der LINKEN)
Ergo: Die Sozialämter müssen für alle Leistungsberechtigten alle Akten nach Halle schicken. Was für eine Kultur des Misstrauens herrscht hier vor? In Halle prüft man dann alles noch einmal, aber bitte nicht in Gesprächen mit den Leistungsberechtigten. Das Motto „Nichts über uns ohne uns“ scheint der Sozialagentur gänzlich unbekannt zu sein.
Da wird vom Schreibtisch aus mal eben die Hilfebedarfsgruppe 8 in eine Hilfebedarfsgruppe 6 verändert. Übersetzt heißt das: Nicht mehr 19,5 Stunden netto in der Woche bekommt die leistungsberechtigte Person, sondern nur noch 13 Stunden pro Woche. Oder - lassen Sie mich das einfach einmal provokant formulieren - soll der Hilfebedarf das Stullenschmieren sein oder die Dusche? Ich meine, das ist ja auch irgendwie Ausdruck von Selbstbestimmung. Die leistungsberechtigte Person darf jetzt entscheiden, wo ihr eben nicht geholfen wird. Eines von beiden muss sie dann eben allein machen.
Ob es geht oder nicht: Es werden in diesem Land ohne Weiteres einfach die Hilfebedarfsgruppe und die Unterstützung abgesenkt. Es wird also weniger Unterstützungsbedarf gewährt, ohne die Person auch nur einmal getroffen zu haben.
So, meine Damen und Herren, ist es mit dem Bundesteilhabegesetz aber nicht gemeint; denn es heißt ja Teilhabegesetz und nicht Entscheide-dich-Gesetz. Die zuständige Behörde, die die Aufgaben des Landes erfüllen soll und dabei das Wort „sozial“ im Namen trägt, stellt hier Ökonomie vor das Wohl der Menschen. Das ist unsäglich. Nicht Eingliederungshilfe ist das, was die Sozialagentur tut, sondern Ausgliederungshilfe.
Meine Damen und Herren! Auch die Leistungserbringer beklagen sich über diesen unhaltbaren Zustand. Ja, sie schlagen Alarm, und das zu Recht. Die Träger als Leistungserbringer sind nicht nur verantwortlich für die Menschen, die die Einrichtungen ihr zu Hause nennen. Sie sind auch verantwortlich für ihre Mitarbeitenden. Und mit der Umstellung des Bundesteilhabegesetzes stehen personenzentrierte Leistungen im Fokus. Dennoch muss der Personalschlüssel funktionieren und vor allen Dingen auch ausfinanziert sein. Doch das gelingt nicht.
Die Leistungserbringer verhandeln über ihre Vergütungsvereinbarung mit der Sozialagentur. Dazu bleiben nach Aufforderung drei Monate Zeit. Meistens wird Ende September aufgefordert, damit Ende Dezember alles abgeschlossen sein könnte und ab 1. Januar die neue Vergütung dann erfolgen könnte. Jedoch wurden sowohl im letzten Jahr als auch in den Vorjahren so gut wie keine Verhandlungen abgeschlossen, geschweige denn in der gesetzlichen Frist überhaupt begonnen.
In der letzten Woche vor dem 31. Dezember des letzten Jahres war die Sozialagentur zudem auch noch geschlossen. Es war niemand zu erreichen. Also reichten die Träger erneut Schiedsverfahren ein, um die Fristen zu wahren. 466 neu eingereichte Verfahren wurden deswegen zu Beginn dieses Jahres gezählt. Das, meine Damen und Herren, zeugt von mangelndem Vertrauen der Vertragspartner*innen. Aber noch viel mehr zeugt es von Arbeitsverweigerung bei der Sozialagentur.
(Zustimmung bei der LINKEN)
Die Leistungserbringer bekommen als Antwort auf ihre Anträge stets zu hören, dass Unterlagen fehlten, es nicht vollständig sei oder Akten nicht da seien. Es ist schon merkwürdig, wenn man das immer wieder von allen Trägern hört, unisono. Das kann doch nicht an den Leistungserbringern liegen.
Meine Damen und Herren! Sie erinnert das alles so ein bisschen an den Passierschein A 38 bei Asterix. - Mich auch, nur ist es eben nicht im Geringsten komisch. Es ist die bittere Realität in diesem Land für Menschen mit Behinderung.
(Zustimmung bei der LINKEN)
Insgesamt sind im Bereich der Eingliederungshilfe seit dem Jahr 2017 mehr als 700 Verfahren in der Schiedsstelle offen. Das ist eine Anzahl, die nie und nimmer auch nur annähernd in kurzer Zeit abarbeitet werden kann. Es ist zu erwarten, dass die Anzahl weiter steigen wird. Das geschieht dann, wenn die Verhandlungen über die neuen Vereinbarungen und über den neuen Rahmenvertrag erst so richtig beginnen. Und nein, an dieser Stelle muss ganz klar betont werden, dass die Leistungserbringer verhandeln wollen. Blockieren tut dies allein die Sozialagentur.
(Zustimmung bei der LINKEN)
Die immense Anzahl der Verfahren in der Schiedsstelle, die fehlenden Neuvereinbarungen, die einseitig von der Sozialagentur bestimmte Einzelkostenübernahme und ungezählte Rechtsmittelverfahren sind nur Folgesymptomatiken. Das, was hier vorliegt, ist ein Systemversagen, und zwar eindeutig bei der Sozialagentur.
Wer von Ihnen, meine Damen und Herren, bei der letzten Sitzung des Landesbehindertenbeirates dabei war, konnte sich selbst gut davon überzeugen, wie die Sozialagentur sich selbst sieht und wie sie agiert. Zu meinem Bedauern wurde sie dabei auch noch vom Landesbehindertenbeauftragten unterstützt, weil dieser die Kritik vor Ort einfach nicht zuließ. Als Ansprechpartner für Menschen mit Behinderung stelle ich mit das Agieren eines Landesbehindertenbeauftragten deutlich anders vor.
Nicht die Behörde muss vor den Menschen geschützt werden, sondern die Menschen von der behördlichen Willkür. Wie kann es sein, dass eine Behörde derart die Arbeit verweigert? Viel schlimmer: Hier werden Menschen mit Behinderung ihre gesetzlich verbrieften Rechte und Leistungen vorenthalten. Es ist ein Mega-Tanker der Verhinderungspolitik anstatt ernsthafte Teilhabesicherung.
Man muss sich wirklich fragen, welche Grundhaltung in der Sozialagentur vorliegt. Wurde das Anliegen des Bundesteilhabegesetzes dort überhaupt verstanden?
Die Träger, die eine wertvolle gesellschaftliche Aufgabe erfüllen, bekommen ihre Leistungen nicht refinanziert. Aktuell geht es um die steigenden Energiekosten und um die steigenden Kosten für Lebensmittel und externe Dienstleistungen. Wir sprachen darüber schon in verschiedenen Zusammenhängen. Das betrifft die Wohneinrichtungen, die Assistenz im eigenen Wohnraum, die Werkstätten für Menschen mit Behinderung, die verschiedenen Tagesstrukturen.
Die Sozialwirtschaft ist in unserem Land in Gefahr. Die Inflationsrate liegt bei rund 10 %. Die Träger wollten nachgewiesene Mehrkosten in Höhe von 8,17 % ersetzt haben. Die Sozialagentur hat letztlich Leistungssteigerungen in Höhe von 1,8 % für das Jahr 2023 angeboten. Das wurde von den Trägern abgelehnt. Das versteht sich von selbst. Letztlich müssen die Träger jetzt die Betriebskosten und tariflichen Personalkosten abdecken und die Ausgaben gerade vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels sicherstellen und überlegen, an welchen anderen Stellen sie Einschnitte vornehmen. Diese gehen dann zulasten der Teilhabe der Bewohnerinnen. Das Land muss dafür dankbar sein, wenn die Träger unter diesen Umständen nicht morgen ihre Türen abschließen.
Meine Damen und Herren! Das Agieren der Sozialagentur produziert nicht nur viel Bürokratie und Frust bei Leistungsberechtigten und Leistungserbringern, sondern auch Widerspruchs-, Klage und Schiedsverfahren alles Verfahren, welche oftmals über Jahre dauern, kostenintensiv sind und gleichzeitig die Umstellung auf den neuen Rahmenvertrag erheblich und grob fahrlässig, wenn nicht gar vorsätzlich verzögern sowie auch Mediationsverfahren, welche von den Beteiligten eher als Tribunal statt als Einigungsprozess empfunden werden. In so einer Runde wird dann seitens der Sozialagentur auch schon einmal mit einer Heimunterbringung gedroht unsäglich!
Hinzu kommen persönliche Vorwürfe an Leistungsberechtigte und Leistungserbringer. Die Sozialagentur rechnet den Leistungsberechtigten gern schon einmal vor, was jemand im eigenen Wohnraum das Land gekostet habe. Wie unmenschlich und herabwürdigend ist denn bitte so eine Rechnung?
(Beifall bei der LINKEN)
Die Art des Umgangs lässt mich sehr an der persönlichen Haltung der Leitung der Sozialagentur zweifeln. Diese ist im Land ein Bremser, Verhinderer, Verweigerer. Ihre Aufgabe wäre es, den Menschen mit Hilfebedarf jede Hilfe zukommen zu lassen, ihnen maximale Teilhabe zu ermöglichen und mit den Leistungserbringern auf Augenhöhe zu verhandeln. Das scheint jedoch Wunschdenken zu sein.
Wir haben das Jahr 2023. Es ist höchste Zeit, meine Damen und Herren, die Ziele des BTHG endlich auch hier in Sachsen-Anhalt umzusetzen. - Vielen Dank.
(Beifall bei der LINKEN)