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Plenarsitzung

Transkript

Susan Sziborra-Seidlitz (GRÜNE): 

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Kein Mensch ist behindert. Menschen werden behindert. Es sind die Umstände, politische Barrieren, Barrieren in den Köpfen, in Gebäuden, in der Sprache. Es sind Vorurteile, die Menschen mit körperlichen oder geistigen Besonderheiten von einem selbstbestimmten Leben mitten in der Gesellschaft abhalten. 

Ja, bei besonderen Bedürfnissen braucht es für ein möglichst selbstgestaltetes Leben besondere Hilfe. Genau diese leisten engagierte Fachkräfte und Träger seit Jahrzehnten. Deshalb möchte ich zuallererst meinen herzlichen Dank an ein Hilfesystem richten, das in seiner modernen Ausprägung den Menschen in den Mittelpunkt stellt, und an all diejenigen, die beruflich oder als Angehörige für das gute Leben all der Menschen mit speziellen Bedürfnissen arbeiten. 

(Zustimmung bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Das Hilfesystem für Menschen, die behindert werden, ist in Deutschland historisch gewachsen. Lange Jahre geprägt von einem defizitorientierten, paternalistischen Blick, in düstersten Zeiten bestenfalls verwahrt, schlimmstenfalls ermordet, behielten Einrichtungen für diese Menschen lange Anstaltscharakter, der sich selbstverständlich heute nicht nur im Namen der Träger, sondern auch in ihrer Haltung gegenüber den Bewohnerinnen längst fundiert verändert hat. 

Die UN-Behindertenrechtskonvention, die Deutschland im Jahr 2009 ratifiziert hat, verpflichtet uns jedoch dazu, das Ziel der Inklusion in der Gesellschaft auch   das ist wesentlich   politisch und gesetzlich zu verankern. Deshalb muss man fachpolitisch feststellen, um die UN-Behindertenrechtskonvention auch in Sachsen-Anhalt verbindlich umzusetzen, braucht es tatsächlich einen neuen, überarbeiteten Landesrahmenvertrag zur Umsetzung des SGB IX, 

(Zustimmung von Cornelia Lüddemann, GRÜNE)

des Sozialgesetzbuchs, das die Unterstützung für Menschen mit besonderen Hilfebedarfen regelt. 

Der seit dem Jahr 2019 vorliegende Vertrag hatte von Anfang an nur vorläufigen Charakter. Schließlich wurden in dessen Anlage 15 zahlreiche Übergangsregelungen vereinbart. Ursprünglich angedacht waren sie für ein Jahr, wurden schließlich aber fortgeschrieben bis zum Jahr 2024, bis das Ministerium für alle überraschend die Notbremse zog und den Vertrag einseitig kündigte. Wie es bei plötzlichen Vollbremsungen ist, sorgte das erst einmal für Unordnung. Diese überraschende Vollbremsung hat erheblichen Schaden angerichtet: Schaden für die Vertrauenskultur, Schaden für eine verlässliche Arbeit der Träger und der Einrichtungen, tiefe Verunsicherung bei den Menschen mit Behinderungen und bei deren Angehörigen. 

Zur Wahrheit gehört aber auch: Für eine solche Vollbremsung braucht es politischen Mut. Denn die Gegenrede, die öffentlichen Demonstrationen gegen diesen Schritt, die waren absehbar. Es war nicht der leichte Weg, den Vertrag zu kündigen. Man hätte das in dieser Legislaturperiode auch einfach weiterlaufen lassen können - es wäre medien- oder öffentlichkeitswirksam nicht viel passiert. Die Träger hätten weiterhin arbeiten können, wie gehabt. Routinen hätten weiterhin für Sicherheit und Erwartbarkeit gesorgt. Das Provisorium der Übergangsregeln wäre peu à peu zum Status quo geworden. Und wir hätten nach wie vor die Nichtverankerung der Inklusion in Gesetzen und Regeln in Sachsen-Anhalt.

(Zustimmung von Katrin Gensecke, SPD)

Die Kündigung hat dies aufgebrochen und allen Seiten das Leben erst einmal schwergemacht. Das ist möglicherweise gerechtfertigt, aber nur dann   das möchte ich an dieser Stelle betonen  , wenn wir wirklich sehr zeitnah einen neuen Landesrahmenvertrag vorliegen haben. Denn es geht um nicht weniger als die Durchsetzung und Umsetzung von basalen Menschenrechten; es geht aber eben auch um Verlässlichkeit, um Planbarkeit und um auskömmliche Finanzierung.

Die UN-Behindertenrechtskonvention geht in ihr 17. Jahr. Das Bundesteilhabegesetz ist vor acht Jahren in Kraft getreten. Ziel war es, Menschen mit Behinderungen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen und die Eingliederungshilfe als Leistungssystem neu zu ordnen. Dafür ist die Eingliederungshilfe aus dem Fürsorgesystem der Sozialhilfe herausgelöst worden.

Die Gewährleistung von Teilhabe ist jetzt das erste Ziel; denn Teilhabe ist ein Menschenrecht. Eine Gesellschaft für alle, das ist die Aufgabe von Politik.

Für die Leistungserbringung heißt das: Die Unterstützung von Menschen, die behindert werden, hängt nicht mehr von den Angeboten bestimmter Einrichtungen ab, sondern Ausgangspunkt sind jeweils die individuellen Bedürfnisse und Wünsche der Menschen; statt Leistungen von der Stange maßgeschneiderte Angebote.

(Zustimmung von Cornelia Lüddemann, GRÜNE, und von Katrin Gensecke, SPD)

Für die Organisation der Eingliederungshilfe auf der Landesebene, für Träger und Betroffene ergeben sich daraus natürlich erhebliche Veränderungen. Denn den Menschen mit seinen Bedürfnissen und Wünschen auch bei den Konzepten und Abrechnungen in den Mittelpunkt zu stellen, statt die Einrichtung, das erfordert für die Träger eben auch neue Abrechnungsmodelle und neue Konzepte.

(Unruhe)


Vizepräsidentin Anne-Marie Keding: 

Frau Sziborra-Seidlitz, einen Augenblick. - Wir kriegen hier langsam einen starken Geräuschpegel. Ich habe das jetzt schon zweimal gesagt, aber es wird nicht richtig besser.

(Ulrich Thomas, CDU: Ich habe sie gut verstanden!)

Und wenn dann hier noch Telefonate geführt werden,

(Ulrich Thomas, CDU: Ich habe sie verstanden!)

die wirklich untersagt sind   ich sehe das jetzt an zwei Stellen  , dann wird es langsam wirklich kompliziert. Bei Telefonaten wird man automatisch lauter. Telefonate werden hier im Raum nicht geführt. Das ist keine Bitte, sondern das ist eine Festlegung der Hausordnung. - Frau Sziborra-Seidlitz, jetzt sind Sie wieder an der Reihe.


Susan Sziborra-Seidlitz (GRÜNE): 

Vielen Dank. - Damit rücken der Lebensmittelpunkt der Personen und eine neue Unabhängigkeit von Wohnort und Leistungsart in den Fokus. Es gilt nun der Grundsatz, dass Leistungen überall in Anspruch genommen werden können. Früher war zuerst das Angebot der Einrichtung da und die Bewohnerinnen mussten sich dann irgendwie orientieren und für eine Einrichtung entscheiden.

Heute, in Zeiten der Personenzentrierung, gilt: Die Unterstützung wird individuell an den Lebensentwurf und an die Ziele der betroffenen Personen angepasst. Leistungen werden unabhängig von Wohnformen erbracht. Menschen können frei wählen, ob sie in einer Wohngruppe, allein oder mit Angehörigen oder Freundinnen leben wollen. Unterstützung wird nach persönlichen Wünschen gestaltet, bspw. durch ambulante Assistenz, die unabhängig von einer Einrichtung organisiert wird.

Dieser Ansatz läuft auch unter dem Begriff   der fiel heute schon   der Deinstitutionalisierung. Eine solche ist dringend nötig. Sachsen-Anhalt hat die bundesweit höchste Dichte an stationären Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen und ein vergleichsweise geringes Angebot an ambulanten Leistungen. Mit 4,7 von 1 000 volljährigen Einwohnern leben in Sachsen-Anhalt so viele Menschen in besonderen Wohnformen   so heißen die Heime jetzt   wie nirgends sonst in der Bundesrepublik.

(Unruhe - Hendrik Lange, Die Linke: Hallo!)

Nur knapp 38 % der Menschen mit Hilfebedarf werden bei uns ambulant betreut. Viele Westbundesländer erreichen Quoten von weit über 60 %, selbst die anderen Ostländer tendieren in Richtung 50 %.

Wir Grünen wollen, dass alle Menschen in Sachsen-Anhalt möglichst selbstbestimmt ihren Wohn- und Lebensraum wählen können. Das können besondere Wohnformen sein, aber alles andere eben auch.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wir wissen, dass die Träger in Sachsen-Anhalt engagiert auf dem Weg sind, neue Wohn- und Unterstützungsformen zu entwickeln. Genau dafür braucht es mit einem neuen Landesrahmenvertrag sehr zügig den politischen Rahmen. Die hohe Quote an besonderen Wohnformen und die niedrige Quote an ambulanten Leistungen in unserem Land sind für alle Beteiligten alles andere als zufriedenstellend.

Wir möchten mit unserem Antrag die Perspektive der Betroffenen und der Angehörigen starkmachen. Die Träger und Einrichtungen können gut für sich selbst sprechen; das haben wir bei den Demonstrationen und auch im Ausschuss schon häufig erlebt. Das ist gut und das ist wichtig.

Aber in den öffentlichen Debatten und den Verhandlungen zwischen Kostenträgern und Leistungserbringern läuft die Perspektive und laufen die Bedarfe derer, um die es eigentlich geht, die Menschen mit Behinderungen, Gefahr, auf der Strecke zu bleiben. Auch darum die ausdrückliche Aufforderung in unserem Antrag, die Selbstvertretungsgremien und den Landesbeauftragten für Menschen mit Behinderungen direkt einzubeziehen.

(Zustimmung von Cornelia Lüddemann, GRÜNE, und von Sebastian Striegel, GRÜNE)

Klar, formal sind diese nicht Vertragspartner beim Landesrahmenvertrag. Aber in der Konsequenz werden die Menschen mit Behinderungen die Folgen des Landesrahmenvertrages unmittelbar in ihrem Lebensalltag erfahren - im Guten wie im Schlechten. Der bekannte Satz der Behindertenrechtsbewegung „Nichts über uns ohne uns“ gilt auch hier.

Inklusion ist kein Gnadenakt, Inklusion ist keine Utopie, sondern sie ist Menschenrecht und sie ist politische Verpflichtung, und zwar die aller Beteiligten. Es ist hoffentlich das von Land, Trägern und Betroffenen geteilte Ziel, die UN-Behindertenrechtskonvention auch hierzulande zumindest an dieser Stelle ernst zu nehmen. Das sollten die Verhandlungen in den nächsten Wochen ausrichten, allen Schwierigkeiten und Zerwürfnissen bei einzelnen Fachfragen zum Trotz.

Damit dies gelingt und beide Verhandlungspartner sich gleichberechtigt einbringen können, greifen wir den Vorschlag auf, die Moderation der Verhandlungen in die Hände neutraler Dritter zu legen. Es ist bei dem aktuell hohen Maß an Zerwürfnissen und gegenseitigen negativen Zuschreibungen sicherlich hilfreich, hierbei moderierend zu unterstützen. Es ist sicherlich auch der Verbindlichkeit von Absprachen in den Verhandlungen zuträglich, wenn ein unparteiischer Dritter quasi als Zeuge bisherige Einigungen dokumentiert.

In den vorangegangenen Ausschussberatungen ist das Ziel genannt worden, über den Landesrahmenvertrag im ersten Quartal dieses Jahres final zu verhandeln. Auch das greifen wir gern auf. Wir möchten an alle Beteiligten appellieren: Tragen Sie das Ihre dazu bei, das Ganze Ende März über die Ziellinie zu tragen. Uns als Land, als Kostenträger, muss dabei klar sein: Menschenrechte stehen nicht unter Finanzierungsvorbehalt.

(Zustimmung von Cornelia Lüddemann, GRÜNE)

Der Rotstift kann und darf bei Vertragsverhandlungen zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention nicht federführend sein. Es mag sein, dass es Finanzreserven im System gibt. Es mag stimmen, dass eine höhere Flexibilisierung der Leistungen auch Einsparungen mit sich bringen kann. Ich bin nicht überzeugt davon, dass das der Regelfall ist, aber dort, wo das der Fall ist - bitte gern, aber nicht als Primärziel, nicht als eigentlicher Zweck der ganzen Übung, sondern dann als gern zur Kenntnis genommene Nebenfolge.

Wir als Landtag stehen nur an der Seitenlinie. Den Landesrahmenvertrag verhandeln nicht wir. Aber als klares Bekenntnis zu einer Gesellschaft für alle, als klares Bekenntnis zur umfänglichen Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention werbe ich um Zustimmung zu unserem Antrag, damit gerade die Menschen mit Behinderungen im Land wissen: Wir stehen an ihrer Seite; ihre selbstbestimmte Teilhabe, die Inklusion ihres Lebens in die Gesellschaft ist unser aller Auftrag. - Vielen Dank.