Tagesordnungspunkt 2
Moderne Fehlerkultur in der Polizei Sachsen-Anhalts ermöglichen
Antrag Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Drs. 8/2254
Alternativantrag Fraktion AfD - Drs. 8/2281
Einbringen wird den Antrag für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der Abg. Herr Striegel. - Herr Striegel, bitte schön.
Sebastian Striegel (GRÜNE):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Polizistinnen und Polizisten sind Verteidiger unserer Verfassung. Sie müssen - das hat das Verwaltungsgericht Magdeburg in dieser Woche noch einmal unmissverständlich festgestellt , ich zitiere: jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung eintreten und dürfen keine Zweifel an ihrer charakterlichen Eignung hinsichtlich der Ausübung des Polizeiberufs erkennen lassen.
(Frank Bommersbach, CDU: Das machen sie doch, Herr Striegel!)
Unsere Polizisten sind nicht nur zur Einhaltung von Recht und Gesetz berufen, sie müssen die Werte unserer Verfassung hochhalten. Zu diesen Werten gehört unverbrüchlich die Wahrung menschlicher Würde.
(Zustimmung bei den GRÜNEN)
Beamtinnen und Beamte unsere Polizei sind diesem Anspruch nicht gerecht geworden. Sie sollen, beginnend als Auszubildende an unserer Fachhochschule für Polizei
(Frank Bommersbach, CDU: Möglicherweise! Das wissen Sie doch alles nicht!)
über Jahre hinweg menschenverachtende, frauenfeindliche, pornografische, Gewalt verherrlichende, rassistische, antisemitische sowie nationalsozialistische Nachrichten in einem Klassenchat ausgetauscht haben. 26 Personen waren ursprünglich in dem Chat; 18 davon waren bis noch vor wenigen Tagen aktive Beamt*innen oder in den letzten Zügen ihres Studiums.
Sie haben diese Nachrichten geschrieben. Sie haben diese Nachrichten gelesen. Sie haben zugestimmt oder weggeschaut
(Frank Bommersbach, CDU: Woher wissen Sie das?)
und niemand von ihnen ist eingeschritten; auch nicht als Straftatbestände im Raum standen.
Keine und keiner hat die Zivilcourage zum entschiedenen Widerspruch gehabt - ein zugegebenermaßen hoher, vielleicht zu hoher Anspruch. Niemand hat sich nach dem bisherigen Kenntnisstand Hilfe bei Lehrenden, bei der Dienststelle oder von Dritten geholt. Dieser Chat der Schande blieb unwidersprochen.
(Oh! bei der CDU und bei der FDP)
Er ist ein Ausweis des Versagens, eines Versagens bei der Rekrutierung von Personal für unsere Landespolizei, eines Versagens bei der Vermittlung demokratischer und sozialer Werte an unsere Auszubildenden, eines Versagens der Betreuung und des Hinschauens, eines Versagens von Führung; eines Versagens der Fehlerkultur unserer Landespolizei.
(Frank Bommersbach, CDU: Das ist doch Blödsinn, was Sie hier erzählen!)
Ich schäme mich ob der von der Innenministerin öffentlich berichteten Inhalte dieses Chats. Diese Scham, Herr Kollege Bommersbach, nehme ich auch bei vielen Kolleg*innen der Polizei wahr. Ich habe in meinen Gesprächen mit Beamtinnen und Beamten in den letzten Tagen immer wieder das Entsetzen und die Abscheu gespürt.
(Unruhe)
Mich hat an diesem Fall aufgedeckten Fehlverhaltens von Beamt*innen vor allem entsetzt, dass wir nicht über ein Augenblicksversagen sprechen, sondern dass widerwärtiges Material über einen Zeitraum von mehr als vier Jahren zusammengetragen wurde. Mich hat getroffen, dass die Nachrichtensammlung von niemandem gemeldet wurde. Als eine Beamtin der Landespolizei Sympathien für den rechtsextremen Attentäter von Halle hegte, waren es Kolleg*innen,
(Zuruf von der AfD: Kolleginnen!)
die sich hilfesuchend an die Vorgesetzten wandten, damit der Fall geklärt werden konnte.
Auch im Fall der noch nicht rechtskräftig wegen Körperverletzung im Amt verurteilten MEK-Beamten, waren es Kolleg*innen, die bei der Auswertung von Videomaterial Belastendes entdeckten und zur Anzeige brachten. - Gut so!
Hierbei aber handelt es sich um einen reinen gerade noch rechtzeitigen Zufallsfund im Rahmen eines anderen Ermittlungsverfahrens gegen einen Beamten, wegen eines schwerwiegenden Deliktes. Und das macht mich fertig,
(Lachen bei der AfD)
weil ich die Erwartung gehabt hatte, dass wir allen Beamt*innen und besonders all den gut ausgebildeten neuen Kolleg*innen der Landespolizei an unserer Fachhochschule Polizei und durch die Organisationkultur der Landespolizei das geistige Rüstzeug mitgeben, sich und die Werte des Grundgesetzes auch in einer herausfordernden Umgebung wie diesem Klassenchat zu behaupten.
Das ist nicht passiert. Und das ist ein Problem, ein großes Problem. Denn es zeigt, die vom Kollegen Schulenburg hier noch vor vier Wochen behauptete moderne Fehlerkultur der Landespolizei ist so jedenfalls nicht existent. In diesem Fall gab es keinen offenen und fairen Umgang mit Fehlern - ich verweise auf das Leitbild , sondern eine über Jahre gepflegte Unkultur, die eben nicht zum Besseren gewendet wurde.
Angesichts eines anderen Falls von mutmaßlichen Fehlverhaltens innerhalb der Landespolizei - nämlich beim Personenschutz in den SEK , haben wir hier vor vier Wochen zu unserem grünen Antrag „Demokratische Kultur in den Spezialeinheiten der Polizei stärken“ debattiert. Ich warb dafür, Konzepte zu erarbeiten, um auch die Spezialeinheiten des Landeskriminalamtes und der Bereitschaftspolizei als lernende Organisationen zu entwickeln und Maßnahmen zur Stärkung einer Fehlerkultur umzusetzen.
Ich streite heute wie damals für die Einrichtung eines unabhängigen Polizeibeauftragten, die Einführung tätiger Reue im Beamtenrecht und den Schutz von Whistleblowerinnen.
(Zustimmung bei den GRÜNEN)
Ich habe mich in der Debatte und in den Tagen danach im Austausch mit vielen Beamt*innen in der Landespolizei über die zynischen und unernsten Kommentare aus der CDU-Fraktion zum Schutz von Hinweisgeber*innen geärgert. Sie haben für einen billigen Lacher der Stärkung einer transparenten fehlerpositiven und demokratischen Polizeikultur einen Bärendienst erwiesen. Herr Kollege Schulenburg, das war eines Polizisten unwürdig.
(Oh! bei der CDU - Guido Kosmehl, FDP: Das steht Ihnen gar nicht zu! Das steht Ihnen überhaupt nicht zu!)
Richtigerweise haben wir gemeinsam unseren grünen Antrag vor vier Wochen zur Debatte in den Innenausschuss überwiesen. Die Debatte dort aber reicht nicht aus. Wir müssen über die strukturellen Ursachen hinter den immer wieder zu Tage tretenden Problemen bei der Landespolizei sprechen.
Die Kompetenz für die aktuelle in diesem und anderen zum Teil bereits erwähnten Fällen strafrechtlich laufenden Ermittlungen liegen bei den Staatsanwaltschaften.
(Guido Kosmehl, FDP: Aha!)
Disziplinarverfahren werden im Beritt des Innenministeriums geführt. Wir dürfen die Kontrolle der Landespolizei aber nicht der Exekutive und etwaigen Gerichtsverfahren allein überlassen; das Parlament selbst ist hierbei zur umfassenden Prüfung aufgefordert.
Dafür braucht es einen Untersuchungsausschuss, über dessen Einsetzung wir mit allen demokratischen Fraktionen sprechen wollen. Denn es ist zu schauen, wie es um das Wertegerüst unserer Polizei bestellt ist, wie die Aufarbeitung von Fehlverhalten in der Vergangenheit realisiert wurde, wie es um die Rekrutierung unseres Personals für die Landespolizei bestellt ist, wie die Personalausstattung, die Ressourcen sowie das Klima an unserer Fachhochschule Polizei aussehen und welche etwaigen Defizite dort bestehen. Ich höre immer wieder von Menschen, die dort unterrichten, von einem eklatanten Personalmangel an der FH selbst und ich glaube, wir sollten als Parlament intensiver hinhören und hinschauen.
Ich möchte auch wissen, welche Empfehlungen in der Vergangenheit an die Landespolizei und die Landesregierung hinsichtlich einer modernen Führungs-, Organisations- und Fehlerkultur ergangen sind und wie es um deren Umsetzung steht. Ich fände es insbesondere aufschlussreich, von der Landesregierung zu hören - vielleicht wird Frau Ministerin noch etwas dazu ausführen - welche Empfehlungen der Sonderkommission „Rassismus und Antisemitismus“ aus dem Frühjahr 2021 - das ist jetzt zwei Jahre her - bereits implementiert wurden, welche bis heute vielleicht noch nicht abgearbeitet sind und warum.
Ich will wissen - und das Parlament sollte wissen , welche Maßnahmen zur Stärkung einer transparenten und modernen Organisations-, Fehler- und Führungskultur aus der Polizeiwissenschaft und aus der Organisationssoziologie uns empfohlen werden. Dafür braucht es einen intensiven Dialog mit genau dieser Wissenschaft und auch über Sachsen-Anhalt hinaus.
All das ist im Alltagsgeschäft des Innenausschusses nicht ausreichend zu leisten. Das Parlament muss sich daher selbst in die Lage versetzen, diese Aufgaben angemessen anzugehen. Es braucht einen Untersuchungsausschuss.
(Oh! bei der CDU)
Als Mitglieder der hier versammelten demokratischen Fraktionen wissen wir, bei den bekanntgewordenen Vorfällen handelt es sich nicht um Einzelfälle. Wir stehen vor strukturellen Herausforderungen und wir müssen Antworten liefern.
Das Vertrauen der Bevölkerung in die Polizei ist durch die Ereignisse der letzten Jahre empfindlich gestört worden. Insbesondere diejenigen, die aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer von Diskriminierung betroffenen Gruppe besonders auf den Schutz durch die Polizeibeamt*innen angewiesen sind, haben Vertrauen verloren. Aber auch Polizist*innen selbst sind enttäuscht von ihrer Organisation. Das Negieren des Problems macht es auch ihnen unmöglich, auf Vorwürfe zu reagieren. Es vergrault alle innerhalb der Polizei, die sich eine moderne Organisation, eine bürgerrechtsorientierte Polizei wünschen.
Ich habe in meiner Rede im vergangenen Landtagsplenum ausführlich zum Problem der fehlenden Aufdeckung von Fehlverhalten innerhalb der Polizei ausgeführt. Damals bezog ich mich auf die geschlossenen Einheiten bei der Polizei. Wir haben mit unserem heutigen Antrag noch einmal nachgefasst. Ein Bestandteil von Fehlerkultur ist auch das konsequente Reagieren auf Zufallsfunde und auf Hinweise von außen. Ich kann zum jetzigen Zeitpunkt und bezogen auf meinen aktuellen Kenntnisstand der Polizei und der Landesregierung gegenüber nur anerkennend äußern, dass sie in diesem Fall äußerst angemessen auf die jüngsten Hinweise reagiert haben. Bei der Auswertung des Telefons des beschuldigten Beamten wurde der Chat der Schande entdeckt
(Zurufe: Oh!)
und es wurden sofort die erforderlichen Schritte eingeleitet. Eine moderne Fehlerkultur ist aber viel mehr als das. Sie bedeutet, dass die Existenz von Fehlverhalten innerhalb der Polizei per se anerkannt ist, dass mit Problemen gerechnet wird und dass ein offener, proaktiver Umgang mit dem Fehlverhalten durch Vorgesetzte wie Kolleg*innen praktiziert wird. Führungskräfte müssen eine solche Atmosphäre fordern und fördern. Es bedarf also einer internen Kontrolle, die das Ansprechen und Diskutieren und nicht das Ausschweigen honoriert. Das schließt das konsequente Reagieren bei Fehlverhalten in Einsatzsituationen und die offene und angstbefreite Debatte in der Nachbesprechung mit ein. Eine moderne Fehlerkultur bedeutet insgesamt eine professionellere Kommunikation.
Eine moderne Fehlerkultur macht auch die externe Kontrolle durch einen unabhängigen - wirklich unabhängigen - Polizeibeauftragten notwendig. Was die Koalition nun nach langem Zögern, Zaudern und getragen von Unwilligkeit vorhat, erfüllt diese Voraussetzung nicht. Ein Polizeibeauftragter unter dem langen Arm des Ministerpräsidenten ist alle mögliche, aber eben nicht unabhängig.
(Zuruf von Frank Bommersbach, CDU)
Wir müssen dabei aber hier in Sachsen-Anhalt nicht alles selbst entwickeln. Der Landtag von Brandenburg hat gestern mit Inka Gossmann-Reetz seine erste unabhängige Polizeibeauftragte gewählt, nachdem er die Einrichtung des Amtes einer solchen unabhängigen Beauftragten für Polizeiangelegenheiten im Dezember 2022 gesetzlich beschlossen hatte. Bürgerinnen und Bürger können sich in Brandenburg nun mit Beschwerden über die Polizei an diese neue Stelle wenden, die zudem auch - ich glaube, das ist entscheidend - für innerdienstliche Kritik, Anregungen oder Hinweise von Polizeibeschäftigten zuständig ist. Die Ansiedlung der Einrichtung beim Landtag stellt eine parlamentarische Kontrolle sicher. Die Beauftragte kann künftig jederzeit an den Sitzungen des Landtages sowie des Innenausschusses teilnehmen und hat dort auch Rederecht. Sie erstattet dem Landtag selbst jährlich Bericht und sie hat umfassende Rechte auch im Hinblick auf die Polizei selbst. So geht Polizeibeauftragte.
(Zustimmung von Dorothea Frederking, GRÜNE, und von Olaf Meister, GRÜNE)
Es ist aus grüner Sicht erforderlich, dass wir den Fall der Polizeianwärter*innenklasse konsequent aufarbeiten. Die Mauer des Schweigens, die selbst dann nicht bröckelt, wenn Polizeibeamt*innen ihrem gesetzlichen Auftrag zuwiderhandeln, ist nicht irreversibel. Wir müssen sie im Parlament konsequent niederreißen und alle notwendigen Hilfsmittel geben, die einen Kulturwechsel innerhalb der Landespolizei stützen. Sachsen-Anhalts Polizei hat Unterstützung bei ihrem Weg zu einer Polizei für alle Menschen verdient. Unterstützen Sie diesen Weg und überweisen Sie unseren Antrag in den Innenausschuss. - Vielen herzlichen Dank.
(Zustimmung bei den GRÜNEN und von Henriette Quade, DIE LINKE)
Vizepräsidentin Anne-Marie Keding:
Vielen Dank, Herr Striegel. Es gibt eine Intervention von Herrn Dr. Tillschneider - Herr Dr. Tillschneider, bitte.
Dr. Hans-Thomas Tillschneider (AfD):
Herr Striegel hat viel von Werten schwadroniert. Es gibt einen Wert, von dem Sie keine Ahnung haben, und dieser Wert findet Ausdruck in dem Sprichwort: Der größte Lump im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant.
(Zustimmung bei der AfD und von Olaf Feuerborn, CDU)
Sebastian Striegel (GRÜNE):
Ach, Herr Tillschneider, ich glaube, dass Sie als Vertreter einer Partei, die geistig eher im 19. Jahrhundert verhaftet ist und jedenfalls über das Jahr 1945 definitiv nicht hinausgekommen ist, von moderner Organisationskultur keine Ahnung haben.
(Zustimmung bei den GRÜNEN)
Eine moderne Organisationskultur nimmt Hinweise von Beschäftigten auf, schaut sie an, prüft, was über den Einzelfall hinaus konkret zu lernen ist, und entwickelt dann die Organisation weiter. Ich glaube Ihnen gern, dass die AfD davon wirklich keinerlei Ahnung hat.
(Zustimmung bei den GRÜNEN und von Henriette Quade, DIE LINKE)