Tagesordnungspunkt 22
Erste Beratung
Verantwortung für ein gelingendes Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen ernst- und wahrnehmen - Heimrichtlinie der Kinder- und Jugendhilfe endlich novellieren
Antrag Fraktion DIE LINKE - Drs. 8/1286
Einbringen wird diesen Antrag Frau Anger.
Nicole Anger (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Abgeordneten! Erinnern Sie sich noch an das Jahr 1994? Erinnern Sie sich, wie Ihr Alltag damals aussah? - Wenn ich an meinen zurückdenke, fällt mir Folgendes ein: Ich ging noch zur Schule, hatte kein Handy und keinen Computer oder Laptop. Google half mir nicht beim Lernen, aber der ÖPNV brachte mich noch an die allermeisten Orte, zu denen ich wollte. Mir fällt auch ein: Die UN-Kinderrechtskonvention war 1994 vier Jahre in Kraft, aber ich kannte sie nicht, weil uns niemand darüber informierte oder mit uns darüber sprach.
Seit 1994 hat sich einiges verändert und ist anders geworden. Vergleichen wir unseren Alltag von heute mit dem von 1994, dann merken wir ziemlich schnell die Unterschiede. Die Rahmenbedingungen des Aufwachsens haben sich und werden sich auch weiter verändern. Denken wir dabei nur an Medien, den breiten Inklusionsbegriff und unsere Erkenntnisse zu Geschlechtsidentitäten. Das gesamte Miteinander unterliegt einer ständigen Veränderung und bedarf unserer Gestaltung. Wir leben in einer Gesellschaft, in der jede Person ganz selbstverständlich dazu gehört und dazu gehören soll. Jede Person hat das Recht auf Teilhabe an unserer Gesellschaft. Dazu braucht es Rahmenbedingungen, auch für ein gelingendes Aufwachsen. Diese werden für Kinder und Jugendliche sowie junge Menschen, die in der stationären Jugendhilfe ihr Zuhause haben, in der entsprechenden sogenannten Heimrichtlinie definiert.
Nun ist diese Heimrichtlinie aber aus dem Jahr 1994 und bundesweit die älteste Heimrichtlinie. Die Kinder, die damals in der Jugendhilfe lebten, sind mittlerweile erwachsen und haben wahrscheinlich eigene Kinder. Das Aufwachsen stellt sich aber immer neuen gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Eine Heimrichtlinie, die fast 30 Jahre alt ist, tut das nicht.
(Zustimmung von Eva von Angern, DIE LINKE, und von Stefan Gebhardt, DIE LINKE)
Kinder und Jugendliche, die in der Jugendhilfe groß werden, haben aus unterschiedlichen Gründen spezielle Herausforderungen in ihrem Aufwachsen zu bewältigen. Die Jugendhilfe muss ihnen dafür alle Unterstützungsleistungen gewähren. Dabei sind die Fachkräfte und die Einrichtungen mit den verschiedenen Angeboten eine wesentliche Stütze. Sie geben Hilfestellungen, begleiten, betreuen und stärken die jungen Menschen im Finden ihres persönlichen Weges.
Die Hilfen zur Erziehung haben eine ganz besondere Verantwortung. Ihre Verantwortung ist es, eine lebensweltorientierte Erziehungshilfe zu gewährleisten. Diese setzt im Alltag der jungen Menschen an und unterstützt und befähigt sie zu dessen Bewältigung. Aber wie kann das gelingen, meine Damen und Herren, wenn die Arbeit der Träger auf einer Richtlinie des zuständigen Ministeriums basiert, welche aus dem letzten Jahrtausend ist? Ich gebe zu, es ist überspitzt formuliert, aber für viele fühlt es sich so an.
Die Richtlinie mit dem vollständigen Titel „Richtlinie für Hilfen zur Erziehung, Eingliederungshilfen für behinderte Kinder und Jugendliche, Hilfen für junge Volljährige und den Schutz von Kindern und Jugendlichen in Familienpflege und in Einrichtungen entsprechend dem Kinder- und Jugendhilfegesetz“ datiert vom 30. Mai 1994. Sie ist mittlerweile fernab der lebensweltlichen Bedingungen, in denen Kinder und Jugendliche heute aufwachsen. Schon allein der Titel macht das deutlich. Aber auch das Fehlen relevanter Alltagsbezüge wie Medien und Medienkompetenz, Kinderrechte oder Beschwerderechte zeigen, wie dringend der Handlungsbedarf ist.
Lassen Sie mich einmal auf einige wenige ausgewählte Punkte eingehen und ein bisschen fachlich werden. Stichwort Defizitorientierung. Seit Langem ist dieser Ansatz in der Jugendhilfe abgewählt - zu Recht. Jeder junge Mensch hat Kompetenzen und Stärken. Diese gilt es zu verstärken und zu nutzen. Niemand möchte dauerhaft Stigmatisierung erfahren, nur weil die eigenen Defizite immer im Fokus stehen.
(Zustimmung bei der LINKEN und von Susan Sziborra-Seidlitz, GRÜNE)
Dazu ist es auch erforderlich, die pädagogische Handlungsebene zu reflektieren und Jugendhilfe auch als einen Aushandlungsprozess zu sehen.
Damit gehen wir über zum Stichwort Partizipation. Junge Menschen sind an all den sie betreffenden Entscheidungen entsprechend zu beteiligen. Mitbestimmung im Alltag ist unerlässlich. Damit wird die Persönlichkeitsentwicklung unterstützt und sie können ihre Rechte verwirklichen. Sie erfahren früh demokratische Beteiligung. Gehört zu werden und ernst genommen zu werden, sind zwei wichtige Aspekte der Entwicklung. In einer Familie wird doch auch diskutiert. Die Kinder und Jugendlichen werden einbezogen. Es werden auch Kompromisse gefunden, z. B. bei der Auswahl des Ausflugsortes oder der Farbe der eigenen Zimmerwand. So läuft es zumindest bei mir zu Hause und auch in vielen Familien, die ich kenne, und hoffentlich auch bei Ihnen und ihren Kindern.
Meine Damen und Herren! Lassen Sie uns endlich Kinder- und Jugendräte in allen stationären Einrichtungen einführen und auch den schon mehrfach angekündigten Landesheimrat einsetzen. Dafür wird es endlich Zeit. Denn diesen brauchen wir schon allein in Hinsicht auf die Selbstvertretungsrechte nach § 4 SGB VIII.
Junge Menschen aus der Jugendhilfe müssen bei ihren Anliegen mitreden und mitplanen dürfen. Auch bei der Weiterentwicklung dieser Heimrichtlinie müssen sie eingebunden werden. Ihr Lebensumfeld gilt es zu gestalten, also tun wir das auch. Wenn dies nicht gelingt, meine Damen und Herren, dann braucht es verbriefte Beschwerderechte.
Das ist das nächste Stichwort. Wir alle wissen, wie schwer es ist, mit Kritik umzugehen, vor allem mit negativer Kritik. Dennoch ist es unerlässlich, dass diese Raum bekommt. So muss es auch in der Richtlinie zu finden sein. Junge Menschen haben ein Recht darauf, sich zu beschweren. Wir müssen Kinder und Jugendliche einbinden und ihnen eine Stimme geben.
(Zustimmung bei der LINKEN)
Ein Beschwerdemanagement ist nämlich in erster Linie auch ein Schutzinstrument und hat gleichzeitig den Vorteil, Demokratie zu fördern. In der stationären Hilfe für Kinder und Jugendliche ist es nicht verbrieft. Es gibt keine Beschwerdestrukturen, außer die Träger tun es aus eigenem Antrieb. Das tut mittlerweile eine ganze Reihe von ihnen. Daher lassen Sie uns das endlich verbindlich regeln.
Stichwort Medien. Ich habe es eingangs erwähnt. Mediennutzung und Medienkompetenz haben sich in den letzten Jahren massiv weiterentwickelt; vielleicht beides nicht gleichermaßen gut, aber mobile Endgeräte sind nicht mehr aus unserer Gesellschaft wegzudenken. Es gibt im Bereich der Medien vieles, was es im Jahr 1994 noch nicht gab. Genauso geht es der Kinder- und Jugendhilfe in dem Fall.
Kinder und Jugendliche wachsen mit Medien auf. In einigen Schulen werden Tablets zur Verfügung gestellt. Während der pandemiebedingten Schulschließungen mussten viele online lernen. Bei Hausaufgaben gilt es, diverse Punkte im Internet zu recherchieren. Genau deswegen, aber nicht nur, muss ein gesunder Umgang mit Medien von den Kindern, von den Jugendlichen, aber auch von Fachkräften erlernt werden. Medienkompetenz muss gestärkt werden. Die Mediennutzung ist eben nicht zu verteufeln, sondern es ist zwischen selbstbestimmter Nutzung und dem Schutz vor Gefahren im Internet abzuwägen. Dies muss auch in der Jugendhilfe, in der Heimrichtlinie verbindlich Niederschlag finden.
Stichwort gesunde Ernährung. Zu einem gesunden Aufwachsen gehört auch eine gesunde Ernährung. Das Verpflegungsgeld ist schon seit Jahren nicht mehr ausreichend und führt dazu, dass es in manchen Verselbstständigungsgruppen ab Donnerstag Nudeln mit Ketchup gibt. Dies wird sich mit den aktuell steigenden Lebensmittelkosten weiter verschärfen.
Ich weiß, was Sie jetzt sagen: Für die Verhandlung der Verpflegungskosten sind die kommunalen Jugendämter zuständig. Richtig, aber dann wissen Sie auch, dass die Kostensätze der Träger nur alle zwei Jahre verhandelt werden. Wer also gerade Anfang dieses Jahres verhandelt hat, ist jetzt mit der wachsenden Inflationsrate ziemlich aufgeschmissen. Allein deswegen brauchen die Träger und die jungen Menschen im Land Unterstützung durch das Land. Damit können wir die Kommunen und die Träger nicht allein lassen.
(Beifall bei der LINKEN - Zustimmung von Susan Sziborra-Seidlitz, GRÜNE)
Ihnen fehlt die argumentative Grundlage für die Verhandlung von Verpflegungskosten. Insofern muss über eine Heimrichtlinie festgelegt werden, was gesunde Ernährung heißt und umfasst. Dann muss vor Ort auch der Verpflegungssatz angepasst werden. Wir müssen alle stationären Einrichtungen, und damit alle Bewohnerinnen gleichwertig behandeln. Hierbei darf es, meine Damen und Herren, nicht darauf ankommen, wie gut die Einrichtung mit dem zuständigen Jugendamt verhandeln kann.
Und noch ein Stichwort: Gender sowie nichtbinäre und transidente Kinder und Jugendliche.
(Ulrich Siegmund, AfD: Was?)
Die Heimrichtlinie geht noch immer von einem binären Geschlechterverhältnis aus und unterscheidet allein zwischen Mädchen und Jungen.
(Ulrich Siegmund, AfD: Was soll es denn noch geben?)
Ich bin froh darüber, dass der Großteil der Gesellschaft und auch die meisten der hier Anwesenden sich von diesem antiquierten Denken und Agieren in einer Zweigeschlechterordnung entfernt haben
(Ulrich Siegmund, AfD: Kein Mensch, der klar bei Verstand ist, macht das mit!)
und verschiedene Identitäten akzeptieren.
Jugendliche müssen bei dem Erkennen ihrer eigenen geschlechtlichen Identität unterstützt werden, denn biologisches Geschlecht ist nicht gleich Geschlechtsidentität und Geschlechterrolle. Da hilft selbst das Aufzwingen von veralteten Rollenverständnissen nichts.
(Ulrich Siegmund, AfD: Leute, ey!)
Wir müssen stationäre Einrichtungen der Jugendhilfe dabei unterstützen,
(Ulrich Siegmund, AfD: Gar nichts müssen wir!)
Junge Menschen jeden Geschlechts und Genders entsprechend zu fördern und Ausgrenzung eine klare Absage erteilen.
(Zustimmung bei der LINKEN und von Susan Sziborra-Seidlitz, GRÜNE - Ulrich Siegmund, AfD: Das sind Ihre Sorgen? - Weitere Zurufe von der AfD)
Dafür müssen auch Schutzräume geschaffen werden. Das geht bei Dingen los, die für uns selbstverständlich sind, z. B. abschließbare Toiletten und Bäder, die im besten Falle individuell zum Zimmer gehören oder aber in Wohngruppen vom Gang aus erreichbar sind und die alle nutzen dürfen, ohne irgendwelche Hinweise an der Tür.
(Ulrich Siegmund, AfD, lacht)
Meine Damen und Herren! Dieser Antrag fragt nicht nach Luxus, sondern er fordert Grundbedürfnisse ein, Grundbedürfnisse der jungen Menschen in der stationären Jugendhilfe. Er stellt die Basis für die Daseinsvorsorge für diese in ihrem Zuhause. Bedarfe der heutigen Generation sind andere als die der Generation von 1994 und der Folgejahre. Kinder wachsen und neue Generationen verändern die Gesellschaft. Somit hätte auch diese Heimrichtlinie mitwachsen müssen und sich verändern müssen - nur, das ist sie leider nicht. Deswegen brauchen wir jetzt eine große Neuerung. Ich bitte um Zustimmung zu unserem Antrag und setze auf einen schnellen Prozessbeginn. - Vielen Dank.
(Zustimmung bei der LINKEN - Zustimmung von Susan Sziborra-Seidlitz, GRÜNE)
Vizepräsidentin Anne-Marie Keding:
Vielen Dank, Frau Anger. Ich sehe keine Fragen. - Da gibt es eine. Er steht am Mikrofon. - Herr Dr. Tillschneider, eine Intervention, bitte schön.
Dr. Hans-Thomas Tillschneider (AfD):
Hier wurde kritisiert, dass das Geschlechtssystem binär aufgebaut ist und dass man das irgendwie überwinden muss. Das menschliche Denken ist binär aufgebaut, binäre Oppositionen, wahr - falsch, oder beim Programmieren von Computern Null - Eins, sind die Grundlage des Denkens. Wer die binären Oppositionen angreift, der gerät in ein ganz schwammiges Assoziieren, in die reine Beliebigkeit, und genau das ist es, wohin Sie wollen.
(Lachen bei der AfD)