Sebastian Striegel (GRÜNE):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Geehrter Herr Silbersack, Sie haben die Aktuelle Debatte eingereicht, aber die naheliegendste Frage in Ihrem Redebeitrag nicht beantwortet. Wären Sie persönlich bereit, die Schuldenbremse abzuschaffen, um neue AKW zu bauen oder Schrottmeiler zu sanieren?
(Unruhe)
Die Chefetagen der Energieversorger werden nämlich dankend abwinken; denn sie hüten sich davor, massive Kapitalvernichtung durch den Neubau von Atomkraftwerken anzugehen. Sie müssten denen schon ein Finanzierungsmodell, wie bei Hinkley Point C, anbieten. Diesbezüglich kommt mir als Erster Günther Oettinger in den Sinn. Den Oettinger kennen Sie noch, oder?
Bekannt war er unter anderem für seine Änderungsanordnung in dem EU-Subventionsbericht für das Jahr 2011. Darin ließ er auflisten, dass die Erneuerbaren pro Jahr mit 30 Milliarden € subventioniert würden. Dafür ließ er streichen, dass die Atomkonzerne 35 Milliarden € und die Betreiber von Kohle- und Gaskraftwerken 66 Milliarden € erhielten. Genau der Oettinger empfand die Finanzzusagen der britischen Regierung bei Hinkley Point C - ich zitiere - als „sowjetisch“.
Und nein, meine Herren aus dem Russland-Fanclub rechts außen, das war nicht als Kompliment gemeint.
(Beifall bei den GRÜNEN - Ulrich Siegmund, AfD: Wenn Sie das sagen!)
Die britische Regierung hat dem Betreiberkonsortium eine Abnahmegarantie auf stolze 35 Jahre für 92,5 Pfund je Megawattstunde zuzüglich jährlichem Inflationsausgleich auf der Preisbasis des Jahres 2012 gegeben. Wir sind schon heute bei mehr 120 Pfund pro Megawattstunde. Was sagen Sie: Ist das ein normaler Strompreis im Vereinigten Königreich? - Nicht ganz; es ist ungefähr das Doppelte. Glückwunsch an die Atomlobby für diesen Raubzug an den britischen Steuerzahlern und herzlichen Glückwunsch der EDF zu diesem strahlenden Deal.
(Beifall bei den GRÜNEN)
Die Franzosen können damit zumindest einen Teil ihres Rekordverlustes von 20 Milliarden € aus dem Jahr 2022 ausgleichen. Über die externen Kosten der Atomenergie haben heute schon andere geredet. Der Preis für die Zwischen- und Endlagerung kommt noch obendrauf und auch die versteckte Subvention des Verzichts auf eine Versicherung ist eben nicht eingerechnet.
Womit wir bei dem Kopfschütteln der Versicherer zu Atomkraftwerken wären. Herr Silbersack, ist Ihnen dieses Zitat noch bekannt:
„Persönlich sehe ich die Kernenergie ordnungspolitisch kritisch, da es sich um eine Energiequelle handelt, die im Markt nicht zu versichern ist und daher die Staatshaftung gegen den GAU braucht.“
(Beifall bei den GRÜNEN)
„Jenseits der abstrakten Debatte gibt es in Deutschland weder einen privaten Betreiber noch Standorte. Zudem würde man einen beendeten gesellschaftlichen Großkonflikt wieder öffnen. Deshalb komme ich zu dem Schluss, dass die Kosten einer Laufzeitverlängerung in jeder Hinsicht den Nutzen übersteigen würden.“
(Zustimmung bei den GRÜNEN)
Jetzt die große Frage: Wer hat das gesagt? Erster Tipp: Das Zitat ist ziemlich genau zwei Jahre alt. Zweiter Tipp: Es stand in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Keine Angaben? - Herr Silbersack, es war Herr Lindner, Herr Christian Lindner. Nicht versicherbar, keinen privaten Betreiber, keine Standorte, Großkonflikt - ich sage es einmal so: Das klingt eher nicht nach Gewinnertechnologie.
Bei der zurückliegenden Atomdebatte hat Ihnen meine Fraktionsvorsitzende die winterlichen Probleme im Atomland Frankreich vorgestellt. Ich wiederhole das heute nicht, sondern gebe Ihnen einfach ein aktuelles Beispiel. Ende November haben dem skandinavischen Strommarkt kurzfristig 3 000 MW Leistung gefehlt. Warum? - Die Atomkraftwerke sind ausgefallen: Ringhals 4 mit 1 200 MW, Olkiluoto 3 mit 1 700 MW.
Sie wissen schon, Olkiluoto - der Energieminister hat es bereits erwähnt , das von der Strahlungslobby hoch gefeierte AKW, welches im Jahr 2009 ans Netz sollte. Im Jahr 2023 wurde es dann etwas mit dem Regelbetrieb, also ein bisschen verspätet. Dafür hat es statt 3 Milliarden € mehr als 11 Milliarden € gekostet. Geil, so ein preisgünstiges AKW, oder?
(Beifall bei den GRÜNEN)
In der letzten Atomdebatte haben wir das neue AKW in der Slowakei tatsächlich unterschlagen. Es ging am 31. Januar 2023 ans Netz, und zwar mit 30 Jahre alten Notstromgeneratoren, minderwertigen Materialien in Hochdruckrohrleitungen und ohne einen Sicherheitsbehälter, der bei einem schweren Störfall die Umgebung vor der Verseuchung schützt.
Sie finden in unserer Parlamentsdatenbank wirklich fraktionsübergreifend zahllose Kleine Anfragen zu Sicherheitskonzepten von Unternehmen. Wenn dort irgendwo ein Sicherheitsbehälter fehlen würde, dann gäbe es ein ganzes Feuerwerk an aufgeregten Pressemitteilungen, und zwar zu Recht. Aber bei Atomkraftwerken sind manche in diesem Haus offenbar bereit, mehr Augen zuzudrücken, als sie selbst haben, und wollen sie sogar nach Leuna stellen.
(Zuruf von Ulrich Thomas, CDU - Weitere Zurufe von der CDU - Unruhe)
Anlass unserer Debatte ist heute ausgerechnet das Luftschlosspapier aus Dubai mit der Forderung, die AKW-Leistung bis 2050 zu verdreifachen. Solche Ankündigungen gab es in den letzten Jahren zuhauf und unter anderem aus dem Unterzeichnerland Polen. Diese Träumereien verlaufen immer gleich. Es ist wirklich immer genau das gleiche Schema. Schritt 1: Eine große Anzahl neuer AKW wird angekündigt. Schritt 2: Nur ein Bruchteil davon schafft es in die Planungsphase. Optional dann Schritt 3: Manchmal schafft es ein AKW sogar zum Baustart. Und ggf. Schritt 4: Der Bau verzögert sich um mehrere Jahre und die Kosten explodieren.
(Guido Heuer, CDU: Das kennen wir schon von der A 14!)
Am schnellsten hat zuletzt Schweden diese atomare Geisterdebatte hinbekommen. Zehn neue AKW wurden angekündigt.
(Guido Kosmehl, FDP: Wie viele bauen sie jetzt?)
Nach wenigen Monaten waren diese Pläne wieder in der Schublade. Die dortige Strahlenlobby wird sicherlich noch paar Anläufe unternehmen, aber realistisch wird es trotzdem nicht.
Der Begriff atomare Geisterdebatte gilt übrigens auch für die Small Modular Reactors, welche die FDP in ihrem Programmentwurf zur Europawahl erwähnt.
(Guido Kosmehl, FDP: Wehe er braucht ein MRT oder ein CT!)
In diesem Zusammenhang wird ernsthaft von einem Wettbewerb der besten Technologien gesprochen. Googeln Sie doch einfach - der Minister hat es gemacht - NuScale: Projektstart 2014 in Idaho. Das Ding wurde Anfang November 2023 eingestellt. Das klingt für mich eher wie ein Vorrunden-Aus, Herr Kosmehl.
(Beifall bei den GRÜNEN - Guido Kosmehl, FDP: Eingestellt wurde es nicht, Sie machen Fake News!)
Die US-Regierung hat das Projekt mit einer dreistelligen Millionensumme gefördert. Jetzt ist alles weg.
Herr Kosmehl, Steuergeld ist wesentlich besser in den Erneuerbaren, in den Gewinnertechnologien angelegt.
(Lachen bei der FDP - Unruhe)
Unser BLSA hat das verstanden. Bisher haben wir 242 Kilowatt Peak Solarenergie auf Landesliegenschaften installiert.
(Zuruf von Guido Kosmehl, FDP)
Aktuell werden 6 287 Kilowatt Peak geplant. Das ist gut angelegtes Geld, wirklich gut angelegtes Geld. Der Siegeszug der Erneuerbaren nimmt auch weltweit immer weiter Fahrt auf.
(Beifall bei den GRÜNEN - Zuruf von der CDU: Aber nicht in Deutschland!)
Fotovoltaik und Windenergie haben im Jahr 2022 knapp 12 % des globalen Strommix ausgemacht, Tendenz exponentiell steigend.
(Zuruf von der AfD: 1,7 beide zusammen!)
Im Jahr 2022 wurde 4 % weniger Atomstrom produziert als im Jahr 2021. Frankreich produziert so wenig Atomstrom wie zuletzt im Jahr 1990. In Großbritannien ist die Anzahl der aktiven Reaktoren von elf auf neun gesunken.
(Unruhe bei der CDU, bei der AfD und bei der FDP)
In den nächsten Jahrzehnten sind weltweit viele Abschaltungen geplant, und zwar parallel zum Abschwung der fossilen Stromerzeugung. Das Geld fließt mittlerweile immer stärker in eine sinnvolle Richtung.
(Zuruf von Eva Feußner, CDU)
In erneuerbare Stromkapazitäten ohne Wasserkraft wurden umgerechnet 495 Milliarden US-Dollar investiert, das Vierzehnfache der atomaren Fehlinvestitionen, von denen eine ganze Menge niemals auch nur eine Kilowattstunde ins Netz speisen werden.
Allein China hat mit 423 Terawattstunden die Atomkraft mit 397 Terawattstunden bereits überholt. Da wundert es auch nicht, Herr Kosmehl, dass Chinas Unterschrift beim atomaren Wolkenkuckucksheim in Dubai gefehlt hat. Auch wenn es viele in diesem Raum nicht wahrhaben wollen, Atomkraft ist nur für zwei Sachen gut: erstens versteckte Quersubventionierung des Militärs für Atombomben und zweitens Risikokapitalvernichtung.
(Abg. Guido Kosmehl, FDP: Schämen Sie sich für einen solchen Beitrag! - Jan Scharfenort, AfD: Schwachsinn! - Weitere Zurufe)
Atomkraft ist riskant, schmutzig, teuer und unzuverlässig. Atomkraft wird, wie Kohle und Gas, in den nächsten Jahren weltweit von erneuerbaren Energien in Kombination mit Batteriespeichern aus dem Markt gedrängt.
(Zuruf von Eva Feußner, CDU)
Das werden Sie erfahren. Die Diskussion, die wir zum Wohle des Landes führen müssen, dreht sich nicht um Atomstrom, sondern darum, wie wir den Jobmotor Erneuerbare und Speicher in Sachsen-Anhalt beschleunigen. Wir hatten dazu vor Kurzem ein Fachgespräch zur Verfahrensbeschleunigung mit Projektierern und Verteilnetzbetreibern. Wir haben vorgeschlagen, die Servicestelle Erneuerbare Energien bei der LENA weiterzuentwickeln, und zwar dahin gehend, dass sie die Genehmigungsverfahren für die Landkreise übernehmen kann. Das wurde von der Koalition abgelehnt.
(Zuruf von Eva Feußner, CDU)
Von den Macherinnen und Machern der Energiewende bekommen wir dafür positives Feedback. Es gibt den Hinweis, dass Baden-Württemberg eine Zentralstelle eingeführt hat und bei vollständigen Unterlagen die Genehmigung nur noch ein bis drei Monate braucht. Dieses ambitionierte Ziel kann sich die Landesregierung gern zu eigen machen.
(Unruhe)
Erinnern Sie sich noch an den Beginn meiner Rede, Herr Silbersack? Ich habe den Kollegen gefragt, ob er die Schuldenbremse abschaffen würde, um Atomkraftwerke zu finanzieren. Ich muss mich korrigieren. Es ist tatsächlich nicht die naheliegendste Frage, und zwar schon gar nicht, wenn Herr Silbersack jetzt Atomkraftwerke in Leuna bauen will.
Noch näher liegt die Frage, Herr Silbersack, ob Sie uns in unserem Sachsen-Anhalt und vielleicht sogar in Ihrem Weinberg eine Lösung für ein Endlager anbieten.
Herr Bernstein, Ihr Kollege, war in der Landespressekonferenz erfrischend ehrlich. Er wurde nach einem Endlager in Sachsen-Anhalt gefragt und antwortete: Wer A sagt, muss auch B sagen. - Gehen Sie voran, liebe FDP.
(Beifall bei den GRÜNEN)
Bieten Sie Ihre Wahlkreise als Endlager für Ihre Träume einer atomar strahlenden Zukunft an.
(Zuruf von der FDP)
Lassen Sie mich jetzt ganz zum Schluss noch deutlich sagen: Wir haben schlicht die Situation, dass Sie sich hier in diesem Raum immer wieder aufregen, wenn es um Stromimporte geht.
(Jörg Bernstein, FDP: Weil Sie keine Ahnung haben; das ist die Situation!)
Wenn es um Importe anderer Energien geht, dann werden Sie plötzlich still. Bei Steinkohle machen Sie es nicht. Bei Gas machen Sie es nicht. Bei Erdöl machen Sie es nicht. Wir sagen: Wir wollen uns unabhängig machen, und zwar mit erneuerbaren Energien in einem europäischen Netz.
Vizepräsidentin Anne-Marie Keding:
Herr Striegel, das Ende Ihrer Redezeit ist erreicht.
Sebastian Striegel (GRÜNE):
Dafür stehen wir GRÜNEN.
(Beifall bei den GRÜNEN)