Lars-Jörn Zimmer (CDU):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wahrlich, lieber Kollege Silbersack, ein weites Feld, das die FDP mit ihrer Aktuelle Debatte zum Thema Zukunft der Chemieindustrie in Sachsen-Anhalt initiiert hat.
(Sandra Hietel-Heuer, CDU: Das stimmt!)
Lassen Sie mich das von vornherein sagen: Wer könnte für die CDU-Landtagsfraktion besser zu dem Thema Chemieindustrie sprechen als ein - wie wurden wir damals genannt - alter Chemo; jemand der als Kind in Bitterfeld und Wolfen aufgewachsen ist, dort gespielt hat, aber eben auch die menschen- und umweltverachtende Industrie-und Chemiepolitik der DDR hautnah erlebt hat.
Trotz aller Missstände haben unsere Menschen in täglicher Anstrengung das Beste aus diesen maroden Betrieben herausgeholt, und darauf sind sie zu Recht stolz; viel mehr sind sie aber auch stolz auf das, was sie in den letzten 32 Jahren erreicht haben.
Unsere Menschen haben erheblich dazu beigetragen, die chemische Industrie nicht nur wieder wettbewerbsfähig zu machen, sondern sie an die europäische und sogar an die weltweite Spitze zu führen. Auch über diese Lebensleistung reden wir heute in dieser Aktuellen Debatte, meine Damen und Herren.
Sachsen-Anhalts Chemieindustrie war im ehemaligen Bezirk Halle strukturbestimmend; entsprechend bitter waren die Umbrüche in der Wendezeit. Es ist vor allem Helmut Kohl und dem ehemaligen IG-BCE-Chef Hermann Rappe zu verdanken, dass die Chemie in Mitteldeutschland nochmals eine Chance bekommen hat.
(Zustimmung bei der CDU - Marco Tullner, CDU: Sehr gut!)
Meine Damen und Herren! Es geht aber nicht nur um die Zukunft der chemischen Industrie in Sachsen-Anhalt; wir müssen über die Zukunft der chemischen Industrie in Deutschland und in Europa sprechen. Kaum eine Branche ist stofflich vernetzter als die Chemie-und Pharmabranche. Dabei reden wir von Rohstoffen, aber vor allem von Grund- und Halbstoffen, die für die Produktion von Endprodukten unerlässlich sind.
Der Spezialisierungsgrad der chemischen Industrie ist außerordentlich hoch. Unsere Unternehmen, die im internationalen Wettbewerb stehen, haben im Moment wahrhaft ernsthafte Probleme. Die Belastung, die gerade die gesamte Branche stemmen muss, gibt es in keinem anderen Industriesektor der Welt.
Deutsche Unternehmen drohen auf dem Weltmarkt ins Abseits zu geraten. Das politische Umfeld kann man nur als katastrophal bezeichnen. Denn bereits vor dem Krieg in der Ukraine, meine Damen und Herren, wurde die chemische Industrie insbesondere von grüner Politik als Schmuddelbranche regelrecht bekämpft. Im Ergebnis dessen können bestimmte Produkte hierzulande nicht mehr wirklich wirtschaftlich hergestellt werden.
Wenn Unternehmen ihre Produktion herunterfahren oder ganz stilllegen, brechen im Dominoeffekt ganze Wertschöpfungsketten zusammen. Produktionen, die jetzt stillgelegt werden - und die wir an das Ausland verlieren , kommen nicht wieder zurück. Das wäre eine Katastrophe für den gesamten Wirtschaftsstandort Deutschland. Denn dann droht nicht nur eine Rezession, nein, meine Damen und Herren, dann sind wir - wenn ich das einmal so bildlich sagen darf - nur noch einen kleinen Schritt davon entfernt, von einem der größten Industriestandorte der Welt zu einem Industriemuseum zu werden.
(Zustimmung von Jan Scharfenort, AfD)
Ich habe vor Jahren bereits an dieser Stelle vor der schleichenden Deindustrialisierung Deutschlands gewarnt. Was wir nun in katastrophaler Art und Weise auf uns zu rasen sehen, schockiert mich zutiefst.
In den vergangenen Jahren hat uns vor allem die industrielle Basis aus Krisensituationen jedweder Art schnell herausgeholt. Dieser industrielle Kern und damit große Teile der Wertschöpfung aber droht uns schon bald wegzubrechen, wenn es in Berlin nicht ganz schnell ein Umsteuern und Umdenken gibt.
Unsere chemische Industrie ist ein Vorreiter bei der Energieeinsparung, bei der Prozessoptimierung und auch bei der Verringerung von Emissionen. In den zurückliegenden 30 Jahren wurden Milliarden in nachhaltige Produktionsstandorte investiert. Ostdeutschland hat die modernsten und wettbewerbsfähigsten Chemiestandorte in Europa und vermutlich auch weltweit. Und ja, meine Damen und Herren, auch das sollte man endlich einmal den grünen Klimaklebern mitteilen.
(Zustimmung bei der CDU - Zuruf von der CDU: Jawohl!)
Dieser Spitzenstandard ist aber auch zugleich ein Malus, weil angesichts der aktuellen Energiesituation kaum noch nennenswerte Einsparungen möglich sind. Produktionsumstellungen oder energetische Optimierungen lassen sich nicht eben einmal realisieren; sie dauern oft Jahre und sind unglaublich kostenintensiv.
Demzufolge benötigen wir endlich aus Berlin - ich wiederhole mich an dieser Stelle - klare Vorgaben, wie wir die chemische Industrie, die insbesondere hier in Mitteldeutschland von existenzieller Bedeutung ist, verlässlich durch die Krise bringen.
Die Diskussion um die Gasumlage und anderes war nicht nur dilettantisch, sie hat zu großen Verunsicherungen an den Chemiestandorten geführt. Bis heute gibt es keine konkreten Abschaltszenarien bei einer akuten Energie- und Gasmangellage. Dass eine Bundesregierung ursprünglich 48 Stunden für das Herunterfahren von chemischen Anlagen veranschlagt hat, zeigt, wie weit man in Berlin von der Realität entfernt ist.
(Zustimmung von Ulrich Thomas, CDU)
In diesem Zusammenhang bin ich unserem Ministerpräsidenten Reiner Haseloff und unserem Wirtschaftsminister Sven Schulze außerordentlich dankbar, dass sie gegenüber der Bundesnetzagentur eine Abschaltzeit von 72 Stunden verhandeln konnten. Eigentlich wären 98 Stunden besser, um nachhaltige Schäden an den wertvollen Anlagen zu verhindern.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wie erwähnt, können wir heute in ganz Ostdeutschland auf eine beispiellose Erfolgsgeschichte zurückblicken. Auch wenn wir uns über Tesla in Grünheide oder Intel in Magdeburg sehr freuen, die Gesamtinvestition der Chemieunternehmen in Ostdeutschland stellen diese Projekte bei weitem in den Schatten.
Inzwischen ist die Chemieindustrie mit deutschlandweit 460 000 Beschäftigten und einem Jahresumsatz von 200 Milliarden € nach der Automobilindustrie die zweitwichtigste Branche in Deutschland. Und ja, dessen ist man sich in Berlin offenbar noch nicht richtig bewusst. Denn das Agieren der Bundesregierung in den zurückliegenden Monaten hat eben nicht dazu beigetragen, den Sturm, vor dem die chemische Industrie steht, abzumildern.
Hinzu kommt ein grüner Lobbyismus in Berlin und Brüssel, der die Wettbewerbsfähigkeit einschränkt. Immer neue Auflagen, Verbote, ausufernde Bürokratie, Nachweispflichten, Verordnungen, überbordende Standards vertreiben zunehmend die Unternehmen aus Deutschland und Europa.
Die Chemieindustrie ist international aufgestellt. Alles, was nicht mehr in Europa produziert wird, wird trotzdem irgendwo auf der Welt produziert, aber eben unter jenen Standards, die nichts mit unserem Arbeitsschutz und unseren Wertevorstellungen in Deutschland zu tun haben, meine Damen und Herren.
Vor Jahren wurden große Teile der Pharmaproduktion nach Indien, nach Asien verlagert; mit dem Ergebnis, das uns heute wichtige Medikamente in Deutschland fehlen bzw. wir diese zu hohen Preisen auf den Weltmärkten einkaufen müssen. Die Folgen spüren wir in jeder Apotheke: Medikamente sind nicht mehr oder nur verzögert verfügbar. Der Apotheker meines Vertrauens berichtete mir von endlosen Telefonaten, um dringend benötigte Medikamente zu organisieren. Das, meine Damen und Herren, kann doch nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Das kann doch nicht das Deutschland im Jahr 2022 sein.
(Zustimmung von Ulrich Thomas, CDU)
Nun, was ist zu tun? - Wir als CDU-Fraktion haben mit der Stolberger Erklärung Wege aus der Krise aufgezeigt. Ich und wir erwarten jetzt von der Bundesregierung ein klares Maßnahmenpaket und keine Ideologie. Grüne Ideologie hat diese Krisensituation bisher nur drastisch verschärft.
Wir haben eine Energiemangellage, die man nur dadurch bekämpfen kann, indem man alle energetischen Kapazitäten, die Deutschland zur Verfügung hat, aktiviert, und das eben unverzüglich. Ich erwarte von der Bundesregierung, dass sie schnellstens in Brüssel vorstellig wird, damit unsinnige Verordnungen und Standards, wenigstens zeitweise, ausgesetzt werden.
Was wir jetzt brauchen, ist ein Masterplan, um die abgewanderte Grundstoffchemie wieder zurückzuholen; im Idealfall nach Sachsen-Anhalt, aber nach Deutschland oder wenigstens nach Europa. Wir brauchen endlich eine klare Definition der Systemrelevanz und ein konkretes Abschaltmanagement für den Fall einer hoffentlich nicht eintretenden Gasmangellage. Auch dazu erwarte ich konkrete Aussagen aus Berlin und vor allem vom Bundeswirtschaftsminister.
Apropos Bundeswirtschaftsminister. Meine Damen und Herren! Das ist im Übrigen auch ein Grund, warum die CDU-Fraktion beantragt hat, Herrn Wirtschaftsminister Habeck in den Wirtschaftsausschuss einzuladen: weil immer noch viele dieser, nicht nur für die chemische Industrie, überlebenswichtigen Fragen ungeklärt sind. Wir werden diese Einladung erneuern.
(Zustimmung bei und Zuruf von der CDU)
Meine Damen und Herren! Es ist sprichwörtlich fünf vor zwölf. Die handelnden Akteure in Berlin haben den Ernst der Lage offensichtlich noch nicht richtig verstanden. Das Beispiel SKW Piesteritz hat uns vor Augen geführt, welche Konsequenzen drohen, wenn ein Hersteller seine Produktion auf halbe Produktion herunterfährt und die Lieferketten nicht mehr einhalten kann.
Meine Damen und Herren! Wir kämpfen dafür, dass Deutschland weiter d e r Industriestandort bleibt. - Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
(Zustimmung bei der CDU und bei der FDP)
Präsident Dr. Gunnar Schellenberger:
Danke. - Herr Scharfenort, für Sie noch einmal: Sie protestieren gegen bestimmte Vorgänge, in die Sie sich einschalten können. Das ist eine Intervention. - Herr Zimmer, Sie können noch kurz warten. Herr Scharfenort möchte gern eine Intervention loswerden.
Jan Scharfenort (AfD):
Vielen Dank. - Herr Zimmer, Ihrem Beitrag können wir als AfD-Fraktion, denke ich, zustimmen. Es ist keine Frage, sondern eine rhetorische Frage: Ich frage mich, ob es in Berlin tatsächlich nicht erkannt wird. Man kann eigentlich nur noch annehmen, dass es Absicht ist. Etwas anderes kann plausibel, logisch und vernünftig nicht mehr erklärbar sein, aufgrund der Faktenlage und der Probleme, die wir haben.
Präsident Dr. Gunnar Schellenberger:
Hätten Sie es mit einer Frage probiert, wäre es, glaube ich, einfacher geworden als mit einer solchen Quasifrage. - Wollen Sie auf die Quasifrage antworten, Herr Zimmer? Wollen Sie nicht? - Danke.
Lars-Jörn Zimmer (CDU):
Es beantwortet sich von selbst.