Guido Henke (DIE LINKE):
Herr Präsident! Geehrte Damen und Herren! Heute ist der 1. Juni, der internationale Kindertag. Vor diesem Hintergrund möchten wir heute die Debatte zur Mobilität führen. Die Debatte hat allerdings bislang als Schwerpunkt weniger die Mobilität für alle, sondern mehr die Verkehrssicherheit im Allgemeinen erfasst.
Wir hatten in der vergangenen Woche im Verkehrsausschuss zur Verkehrsunfallbilanz 2022 einen Selbstbefassungsantrag unserer Fraktion beraten, der jetzt in Teilen auch Niederschlag im Debattenantrag der GRÜNEN gefunden hat.
In der vergangenen Legislaturperiode gab es den Beschluss, alles für die Vision Zero zu tun, leider bislang mit wenig Erfolg. Im Zusammenhang damit wurde der Verkehrssicherheitsrat installiert, der jedoch das letzte Mal im Jahr 2018 zusammenkam, was nicht hinnehmbar ist. Er soll nun wieder einberufen werden, hoffentlich bald.
Die aktuelle Unfallbilanz zeigt für Sachsen-Anhalt eine Steigerung der Zahlen bei Verletzten und Toten im Straßenverkehr. Besonders davon betroffen sind Menschen im Rad- und Fußverkehr und hierbei insbesondere die Seniorinnen und Senioren.
Was uns in dieser heutigen Debatte jedoch umtreibt, ist die Frage nach einer kinderfreundlichen Mobilität mit allem, was dazugehört: städtebaulich, stadtplanerisch, die Kostenfrage, das ÖPNV-Angebot, die Verkehrsinfrastruktur für kleine Radfahrer und Fußgänger und auch die Verkehrssicherheit. Laut den Aussagen im Ausschuss gab es im Jahr 2022 einen zehnprozentigen Anstieg der Unfallzahlen bei Kindern. Auch wenn die Zahlen im Vergleich mit den Vorcoronazahlen gleich geblieben sind, ist das zu viel.
Das Leben und die Gesundheit von Kindern sind im Straßenverkehr besonders gefährdet. Nach Angaben von Polizei und Versicherern hat die Zahl der im Straßenverkehr verunglückten Kinder in den vergangenen Jahren zwar insgesamt abgenommen, gleichwohl kommt noch heute im Durchschnitt alle 23 Minuten ein Kind im Alter von unter 15 Jahren in Deutschland zu schaden.
Kinder haben mangelnde Erfahrung im Straßenverkehr und ein noch unausgeprägtes Risikobewusstsein. Dazu kommt die autoorientierte Verkehrsplanung. Damit gehören Kinder zu den besonders gefährdeten Verkehrsteilnehmern.
(Zustimmung von Eva von Angern, DIE LINKE)
Es ist wissenschaftlich belegt, dass die Fähigkeiten von Kindern zum sicheren Umgang mit komplexen Verkehrssituationen bis etwa zum 14. Lebensjahr noch begrenzt sind.
Der hauptsächliche Fokus der Verkehrssicherheitsarbeit liegt bisher in der Verkehrserziehung von Eltern und Kindern. Dabei wird jedoch der Straßenverkehr in seinem Istzustand als gegeben hingenommen und von Kindern und Eltern eine Anpassung des Verhaltens erwartet. Künftig braucht es viel mehr den Anspruch, eine barrierefreie und kindgerechte Infrastruktur zu schaffen.
(Zustimmung bei der LINKEN)
Die Belange und Fähigkeiten von Kindern bei der Infrastrukturgestaltung müssen zum Planungsgrundsatz werden. Durch straßenbauliche und verkehrsrechtliche Maßnahmen ist die Unfallgefahr zu minimieren. Das heißt konkret, abgetrennte Geh- und Fahrradwege, Geschwindigkeitsbegrenzungen bzw. Tempo 30 oder verkehrsberuhigte Bereiche im Umfeld von Kindergärten, Spielplätzen, Schulen und an den ausgewiesenen Schulwegen nach den Schulwegplänen sind unerlässlich. - Ich rede hier nicht vom Umweltschutz, ich rede von Sicherheit.
Zudem sind bauliche oder geschwindigkeitsreduzierende Maßnahmen zwingend im Bereich des übrigen Hauptverkehrsnetzes erforderlich, wenn dort besondere Gefahrenmomente für Kinder erkennbar sind. Hierfür benötigen die Kommunen erweiterte rechtliche Rahmenbedingungen in der StVO.
(Zustimmung von Olaf Meister, GRÜNE)
Die Geschwindigkeitsbegrenzungen sollen durch städtebauliche Maßnahmen sowie den Einsatz stationärer Geschwindigkeitsüberwachungen durchgesetzt werden. Eine Verkehrsüberwachung durch die Polizei und die zuständigen kommunalen Ordnungsbehörden darf sich nicht auf den Schuljahresbeginn jedes Jahr im August beschränken, sondern ist eine Daueraufgabe.
(Zustimmung bei der LINKEN)
Für die Kinder muss ein selbstständiges Queren von Fahrbahnen ermöglicht werden, wofür gut sichtbare und für Kinder begreifbare Querungsstellen einzurichten sind. Je nach Örtlichkeit bedarf es Lichtsignalanlagen, Fußgängerüberwege, also Zebrastreifen, Mittelinseln oder vorgezogener Aufstellflächen, die auch in der Dämmerung gut erkennbar sind.
Die rechtlichen Bedingungen müssen endlich angepasst werden. Sie erschweren den Kommunen und anderen Akteuren durch unnötige Hürden etwa bei der Einrichtung von Fußgängerüberwegen die Verkehrssicherheit vor Ort.
Sichthindernisse müssen entfernt und das Halten und Parken von Fahrzeugen baulich unterbunden werden. Halte- und Parkverstöße sind gerade in den Morgenstunden zu Unterrichtsbeginn konsequent und dauerhaft zu überwachen.
Die Bedeutung von Schulweg- und Radschulwegplänen soll wesentlich stärker in den Fokus gerückt werden. Die Instandhaltung und Pflege von Rad- und Gehwegen inklusive Grünpflege und Winterdienst ist für eine sichere Verkehrsteilnahme von Rad fahrenden Kindern erforderlich.
Im Rahmen der Öffentlichkeitsbeteiligung bei der Planung von Bauvorhaben haben Kinder ein Recht auf Mitsprache. Ihnen ist angemessen und entsprechend des Alters dazu Gelegenheit zu geben. Dabei sollte die Landesregierung die örtlichen Behörden mit Leitfäden, Praxisbeispielen und Fortbildungsangeboten unterstützen.
Sehr geehrte Damen und Herren! Für junge Menschen ist der Umweltverbund aus Rad- und Fußverkehr sowie der ÖPNV relevant, um selbstbestimmt mobil zu sein. Wenn vom ÖPNV die Rede ist, dann stellt sich sofort die Frage nach Angebot, Bezahlbarkeit und Finanzierung. Sie werden sich an unseren Antrag erinnern, als wir am Beispiel Magdeburgs ein 9-€-Ticket für alle Schüler als Landesmodellprojekt angeregt haben.
(Zustimmung von Eva von Angern, DIE LINKE)
Ganz sicher brauchen wir auch eine weitere Aufstockung der Regionalisierungsmittel seitens des Bundes. Aktuell sichern die Regionalisierungsmittel die Bestandsverkehre, jedoch keinen ÖPNV-Ausbau, nicht zuletzt wegen weiter steigender Kosten. Der ÖPNV ist im Übrigen auch entscheidend für eine bessere Verkehrssicherheit. Eine weitere Anhebung der Regionalisierungsmittel ist also nötig. Das sagt auch der Beschluss der Verkehrsministerkonferenz vom März 2023 aus.
Entsprechend muss der jetzt zu novellierende Landesentwicklungsplan qualifiziert werden, was die zukunftsfähige Mobilität auch von Kindern als zweiten raumordnerischen Schwerpunkt betrifft.
In Sachen bezahlbarer ÖPNV ist das 49-€-Ticket ein erster Schritt. Es muss jedoch über das Jahr 2023 hinaus verlässlich und dauerhaft vom Bund kofinanziert werden. Für Jugendliche, FSJler, Bufdis usw. ist auch das jedoch noch zu teuer.
(Zustimmung von Eva von Angern, DIE LINKE)
Im Verkehrsausschuss wurde in der vergangenen Woche auch die Präventionskampagne für Senioren vorgestellt. Gut wäre eine solche auch für Kinder.
Es ist nachteilig und gefährlich, dass der vorgeschriebene 1,5-m-Abstand von Pkws zu Radfahrern im Moment technisch noch nicht rechtssicher messbar ist.
(Sebastian Striegel, GRÜNE: Das stimmt nicht!)
Radfahren ist damit für Kinder und alle anderen ein Risiko. Wir fordern Bundesfördermittel für kommunal und regional zu errichtende Radvorrangrouten, die dann rechtlich zu installieren sind.
Auch das Fernstraßengesetz muss geändert werden, damit auch bei Bundesfernstraßen begleitende Radwege finanziert werden können.
Ein kinderfreundliches Verkehrssystem ist Voraussetzung für selbstständige Mobilität von jungen Menschen. Auch die Verkehrsministerkonferenz hat auf ihrer vergangenen Sitzung erstmals explizit festgestellt, dass der öffentliche Raum und motorisierte Individualverkehr nicht kindgerecht sind.
Das bedeutet für uns, das Straßenverkehrsgesetz und die StVO müssen jetzt, wie im Koalitionsvertrag des Bundes beschrieben, angepackt werden. Statt Flüssigkeit des Verkehrs sind der Sicherheit und dem Umweltschutz Vorrang einzuräumen. Länder und Kommunen brauchen dafür Entscheidungsspielräume, um Geschwindigkeitsreduzierung und städtebauliche Maßnahmen umzusetzen.
(Zustimmung von Eva von Angern, DIE LINKE)
Sehr geehrte Damen und Herren! Hier im Land müssen die Jugendverkehrsschulen finanziell sachgerecht unterstützt werden, damit die Arbeit nachhaltig und personell gesichert werden kann. Die Verkehrserziehung kann nicht auf den Schultern des Ehrenamts abgelegt werden. Es bedarf massiver Lehrerfortbildungs- und -ausbildungsangebote.
Das Aktionsbündnis „Kidical Mass“ war auch dieses Jahr wieder Anfang Mai unterwegs für ein kinderfreundliches Straßenverkehrsrecht. Zehntausende Menschen forderten, Straßen sind für alle da. Das teilen wir absolut.
(Zustimmung von Eva von Angern, DIE LINKE)
Alle Kinder sollen sich sicher und selbstständig bewegen können. Wir brauchen ein Straßenverkehrsrecht, bei dem die ungeschützten Verkehrsteilnehmer Vorfahrt haben.
Lassen Sie mich mit einem Zitat des Geschäftsführers des Deutschen Kinderhilfswerks Holger Hofmann schließen. Ich zitiere:
„Wir brauchen eine ganzheitliche Entwicklung von Städten und Gemeinden, in denen sich auch die junge Generation wohlfühlt. Wir sollten deshalb umgehend dazu übergehen, Kindern und Jugendlichen auch im Bereich der Stadt- und Verkehrsplanung kontinuierlich, umfassend und möglichst frühzeitig Mitbestimmung zu ermöglichen. Es braucht eine veränderte Verkehrspolitik, um für mehr Sicherheit von Kindern im Straßenverkehr zu sorgen.“
Kinder, die sich selbstständig im Straßenverkehr bewegen und bspw. mit dem Rad zur Schule kommen, nehmen ihre Umgebung aktiv wahr.
Sie lernen, sich gut zu orientieren und auf sich selbst aufzupassen. Das stärkt ihr Selbstbewusstsein - auch für andere Lebenssituationen. Daher fordern wir eine an den Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen ausgerichtete Verkehrspolitik und eine echte Mobilitätswende.“
(Beifall bei der LINKEN)
Schlussendlich geht es nicht nur um sichere Mobilität, sondern um eine bessere Lebensqualität für alle Generationen. Denn, sehr geehrte Damen und Herren, wo sich Kinder wohlfühlen, dort fühlen sich auch Eltern und Großeltern wohl. - Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der LINKEN)
Vizepräsident Wulf Gallert:
Danke. - Bevor wir zum letzten großen Debattenbeitrag von Frau Tarricone für die FDP-Fraktion kommen, begrüßen wir auf unserer Besuchertribüne ganz herzlich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt aus Halle. Herzlich willkommen!
(Beifall bei allen Fraktionen)