Tagesordnungspunkt 7
Aussprache zur Großen Anfrage
Senior*innenpolitisches Programm „AKTIV UND SELBSTBESTIMMT“ - Altenhilfe und Pflege im Land Sachsen-Anhalt bis zum Jahr 2020 - Eine Bestandsanalyse
Große Anfrage Fraktion DIE LINKE - Drs. 8/1552
Antwort der Landesregierung - Drs. 8/2071
Unterrichtung Landtag - Drs. 8/2203
Entschließungsantrag Fraktion DIE LINKE - Drs. 8/2250
Alternativantrag Fraktionen CDU, SPD und FDP - Drs. 8/2284
Für die Aussprache zu der Großen Anfrage wurde die Debattenstruktur „D“ also 45 Minuten vereinbart. Die Reihenfolge der Fraktionen lautet: CDU, AfD, FDP, GRÜNE, SPD und LINKE mit den Redezeiten: 13 Minuten, acht Minuten, zwei Minuten, zwei Minuten, drei Minuten und vier Minuten.
Für die Fragestellerin führt die Abg. Frau Hohmann ein. Frau Hohmann ist schon auf dem Weg nach vorn. Es kann losgehen. - Sie haben das Wort.
Monika Hohmann (DIE LINKE):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben jetzt so viel Lobendes über die Zukunftsinvestition in das Zentrum gehört. Ich hoffe, dass wir anschließend so viel Lobendes auch für die Zukunft für die Seniorinnen und Senioren in Sachsen-Anhalt zu hören bekommen.
(Zustimmung bei der LINKEN)
Das seniorenpolitische Programm des Landes Sachsen-Anhalt ist bereits im Jahr 2020 ausgelaufen. Mit dem Programm sollten die Rahmenbedingungen geschaffen werden, um Chancen, die sich aus dem Veränderungsprozess des demografischen Wandels in diesem Land ergeben, zu ergreifen. Es stellte einen Teil des Handlungskonzeptes zur nachhaltigen Bevölkerungspolitik in Sachsen-Anhalt dar.
Innerhalb des seniorenpolitischen Programms wurden unter anderem Maßnahmen und Projekte des Ministeriums für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Gleichstellung für ein aktives und selbstbestimmtes Altern in Sachsen-Anhalt festgeschrieben. Es sollte den Prozess gestalten und aktiv begleiten. Bereits in den Jahren 2013 und 2019 wurden der Ausführungsstand und die Entwicklung des Programms „Aktiv und selbstbestimmt“ von meiner Fraktion thematisiert.
Zwei Jahre nach dem Auslaufen des seniorenpolitischen Programms möchten wir erneut mit differenzierten Fragen den Maßnahmen, dem schlussendlichen Ausführungsstand des Programms sowie aktuellen sozialpolitischen Ereignissen in Bezug auf Seniorinnen in Sachsen-Anhalt nachgehen.
Leider mussten wir feststellen, dass vonseiten der Landesregierung keine Evaluation dieses Programms vorgenommen worden ist.
Auch scheint es mir, dass wir seit Langem die einzige Fraktion im Hohen Haus sind, die sich intensiv mit der Situation von Seniorinnen und Senioren befasst.
Sehr geehrte Damen und Herren! Bevor ich auf einzelne Fragen aus der Großen Anfrage eingehe, möchte ich eine generelle Einschätzung und Bewertung zu den Antworten abgeben. Ja, Seniorenpolitik ist ein Querschnittsthema und es bedarf für die Umsetzung von Strukturen und die Etablierung von Maßnahmen aller politischen Ebenen. Diese Erkenntnis ist nicht neu, nur tut sich hier seit Jahren kaum etwas. Die Maßnahmen im seniorenpolitischen Programm waren hauptsächlich mit Bundesprogrammen ausgestaltet. Nach deren Beendigung auf der Bundesebene sind sie nicht mehr auf der Landesebene fortgeführt worden. Das kennen wir auch von anderen Programmen, die vom Bund finanziert werden. Diese Tendenz zeigt sich auch bei den Mehrgenerationenhäusern. Mich hat es wirklich sehr stark verwundert, welche Einstellung die Landesregierung hierzu vertritt. Wenn es keine Verpflichtung zur Landesfinanzierung gäbe, dann würde das Land auch nicht krisenbedingt helfen und das Wegfallen von bestehenden Strukturen in Kauf nehmen.
Des Weiteren hat die Landesregierung kaum bis gar keine Erkenntnisse über Maßnahmen und Projekte, die ggf. über das Jahr 2020 hinaus weitergelaufen sind. Sie verfügt oft über keinerlei Wissen, um die Strukturen zur Teilhabe und den Erfolg eines Programms zu beurteilen. Dennoch erklärt sie fortwährend, dass die Maßnahmen und deren Umsetzung erfolgreich seien bzw. Maßnahmen beibehalten werden sollten, aber nur wenn die Verantwortung vor Ort bleibe.
Ratlos ließ mich die Aussage der Landesregierung zurück, es gebe keine Teilhabelücken für Seniorinnen und Senioren. Was ist mit der hohen Altersarmut, den geringen Renten oder der zunehmenden Vereinsamung der Seniorinnen im Land? - Nicht immer kann man nur auf die Bundesebene verweisen. Auch wir im Land haben eine große Verantwortung. So ist nicht einmal das Beratungsangebot des Verbraucherschutzes vollständig und flächendeckend in Sachsen-Anhalt vorhanden. Gerade in der jetzigen Situation braucht es hier mehr Unterstützung. Der MDR berichtete am 20. Februar 2023 unter dem Titel „Armut im ländlichen Raum: ‚Das ist wirklich schrecklich‘“ über die Armut im ländlichen Raum, die oft mit Einsamkeit verbunden ist. Umso wichtiger sind hierfür staatliche Hilfen. Nur kommen viele Hilfen nicht dort an, wo sie gebraucht werden.
Altersarmut in Sachsen-Anhalt ist eine Art tickende Zeitbombe. Die Arbeiterwohlfahrt beobachtet eine Situation, die sich dramatisch verändert hat. Auch besteht die Gefahr, dass die Menschen im ländlichen Raum vergessen werden. Mit dieser Situation muss sich das nächste seniorenpolitische Programm stärker auseinandersetzen. Das Ministerium erkennt in den Antworten zur Großen Anfrage diese Mobilitätseinschränkungen an. Leider bietet man als einzige Lösung den Ausbau von digitalen Angeboten der Verbraucherzentralen an. Ich bin der Auffassung, dass das nur ein erster Schritt sein kann. Wie wäre es, wenn wir zukünftig Internetcafés für Seniorinnen in den Kommunen vor Ort fördern, damit die Menschen erstens den Umgang mit digitalen Anwendungen erklärt bekommen und zweitens einen kostenlosen Zugang zu Endgeräten und Internet erhalten? - Das wäre einmal eine Maßnahme.
(Zustimmung bei der LINKEN)
Eine nächste Überlegung wäre es, mobile Beratungsteams der Verbraucherzentralen in Nachbarschaftszentren, in Gemeindehäusern, in Mehrgenerationenhäusern oder in ähnlichen Einrichtungen zur Beratung zu etablieren.
Sehr geehrte Damen und Herren! Der Kenntnisstand der Landesregierung lässt vermuten, dass das neue seniorenpolitische Programm keine Maßnahmen nach Bedarf und Notwendigkeit ansetzt, sondern nur danach geschaut wird, dass möglichst viel vom Bund gezahlt wird oder wie ich bereits erwähnte auf die Kommunen abgewälzt wird. Es ist nicht zu sehen, dass die Landesregierung eine Strategie hat oder erarbeiten will, um die Projektlogik der Maßnahmen in die kontinuierliche Arbeit zu integrieren. Weiterhin kann man den Antworten entnehmen, dass die Landesregierung hierfür keine Ressourcen, egal ob personell oder finanziell, aufbringen möchte. Dementsprechend befürchten wir, dass das nächste Programm auch nur eine bunte Sammlung von Maßnahmen sein wird, die an den wirklichen Bedarfen der Seniorinnen vorbeilaufen und die dann wieder kurz- bis mittelfristig umgesetzt werden, aber keine nachhaltige Verstetigung oder Schaffung von Teilhabestrukturen ermöglichen.
Sehr geehrte Damen und Herren! Lassen Sie mich nun einige Anmerkungen speziell zum seniorenpolitischen Programm für die Zeit von 2008 bis 2020 machen. Das seniorenpolitische Programm des Landes sollte die Rahmenbedingungen schaffen, um die Chancen, die sich aus dem Veränderungsprozess des demografischen Wandels in diesem Land ergeben, zu ergreifen. Außerdem sollte das Programm einen Teil des Handlungskonzepts zur nachhaltigen Bevölkerungspolitik einbeziehen.
Der Umfang des Programms waren 24 Leitlinien, die mit 25 Maßnahmen und Projekten des damaligen Ministeriums für Gesundheit und Soziales eingebunden waren. Ernüchtert stellen wir fest, dass etwa ein Viertel der damals im Programm festgeschriebenen Maßnahmen realisiert wurde - ein Viertel von 25 Maßnahmen! Insbesondere vom Bund geförderte oder initiierte Projekte wurden umgesetzt. Leider wurden diese nach dem Ende der Laufzeiten nicht auf die Landesebene überführt oder auf dieser fortgesetzt. Die Programme wurden auf elf Jahre angesetzt, aber viele davon sind weit vor Programmablauf beendet worden. Ich habe es schon gesagt: Es waren oftmals die Programme, die eine Bundesförderung hatten und dementsprechend nur für ein paar Jahre gegolten haben. Dann waren sie weg und dann war es das.
Die Landesseniorenvertretung wird zwar vonseiten des Landes finanziell gefördert, ist aber leider immer noch nur im vorparlamentarischen Rahmen aktiv. Das heißt, Stellungnahmen zu Gesetzentwürfen oder Anhörungen sind anscheinend nach wie vor nicht gewollt. Gesetzliche Regelungen hinsichtlich der Mitbestimmung für Seniorenvertretungen auf der Landesebene sind nicht in Sicht.
Die Forderung der Landesseniorenvertretung ist seit Jahren, das Amt eines Landesseniorenbeauftragten einzurichten. Meine Damen und Herren! Diese Forderung wurde sogar in einem Beschluss des Landtages formuliert. Ich kann Ihnen auch die Drucksachennummer nennen: Drs. 2/9/320 B. Sie sehen schon, es war die zweite Wahlperiode. Im Jahr 1994 gab es hierzu einen Beschluss. Jetzt können Sie einmal raten, ob der Beschluss umgesetzt worden ist. - Leider nicht. Es gibt diesen Beschluss immer noch. Er wurde nicht umgesetzt. Unsere Nachbarbundesländer Sachsen oder auch Brandenburg haben bereits einen Landesseniorenbeauftragten. Wenn ich Ihnen nachher noch einige Zahlen nenne, dann werden Sie erkennen: Es wird höchste Zeit, auch hier bei uns tätig zu werden.
Ich halte es für dringend erforderlich, dass wir diesen Beschluss schnellstmöglich umsetzen, und zwar gerade vor dem Hintergrund, dass mit Stand vom 31. Dezember 2021 in Sachsen-Anhalt 780 428 Seniorinnen älter als 60 Jahre waren. Man kann nun noch die Personengruppe der 55- bis 60-Jährigen hinzurechnen. Das sind 189 666 Personen. Wenn jemand gut im Kopfrechnen ist, dann wird er feststellen, dass es fast eine Million Menschen sind. Fast eine Million Menschen in Sachsen-Anhalt sind 55 Jahre und älter. Man kann es in Prozent ausdrücken: 45 % der Gesamtbevölkerung in Sachsen-Anhalt sind älter als 55 Jahre. Das ist eine sehr beachtliche Zahl.
Sehr geehrte Damen und Herren! Zu der Gewaltprävention, zum Schutz von Senioren vor Gewalt und Stalking und zu Projekten hinsichtlich der Sensibilisierung für dieses Thema. Dazu erfolgten keine Maßnahmen bzw. sie wurden nicht durchgeführt. Das Geriatriekonzept wurde nicht neu aufgesetzt. Wie ich bereits erwähnte, wurde das Netz der Beratungsstellen seit 2013 nicht wesentlich verändert.
Zur Umsetzung der Barrierefreiheit im ÖPNV liegen der Landesregierung keine Kenntnisse vor und es wird auf die Zuständigkeit der kommunalen Ebene sowie der Verkehrsunternehmen verwiesen. Die Verbesserung der finanziellen Situation für Seniorinnen wurde weder im Bundesrat noch durch den Ausbau der sozialen Infrastruktur im Land angestrebt.
Unser Fazit: Nach drei Großen Anfragen in drei Legislaturperioden zum Landesprogramm bis 2020 kann man sagen, dass es unzureichend umgesetzt wurde.
Sehr geehrte Damen und Herren! Ich möchte zum Schluss noch einige Anmerkungen zu der Art und Weise der Beantwortung der Großen Anfrage machen. Aus meiner Sicht waren die Antworten sehr oberflächlich, oftmals unvollständig oder gingen an der Fragestellung vorbei. Sehr oft wurde ein Verweis zu den Antworten auf die Großen Anfrage aus dem Jahr 2019 oder jene aus dem im Jahr 2002 gegeben oder es wurde auf die Webseiten von Einrichtungen verwiesen. Mehrmals hat die Landesregierung aufgezählt, was andere machen, obwohl wir wissen wollten, was die Landesregierung macht. Andererseits hat sie so getan, als hätten wir schon beantwortete Fragen aus der Großen Anfrage aus dem Jahr 2019 einfach übernommen, obwohl wir explizit nach der Fortführung gefragt haben. Bei den Fragen bezüglich des Seniorensports wird so getan, als wäre für ein aktives Leben das Programm „Fit im Alter“ ausreichend. Das ist ein Leitgedanke, aber die Fragen, die wir gestellt haben, die also auf den Fragen von 2019 aufbauten, wurden nicht beantwortet.
Sehr geehrte Damen und Herren! Ich hoffe, das nächste seniorenpolitische Programm nimmt einige Anregungen aus unseren drei Großen Anfragen auf. Zu unserem Entschließungsantrag werde ich nachher noch einiges ausführen. Ich kann aber jetzt schon sagen, dass in den Alternativantrag der Koalition wesentliche Inhalte aus unserem Entschließungsantrag aufgenommen wurden. Wir werden uns dem nicht verweigern. - Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der LINKEN)