Kein Zurück zu Hartz IV - „Armut per Gesetz“ überwinden - Bürgergelddebatte versachlichen
Antrag Fraktion Die Linke - Drs. 8/5331
Es ist wie üblich eine Zehnminutendebatte. Für die Antragstellerin bringt Frau von Angern den Antrag ein.
(Zustimmung bei der Linken)
Eva von Angern (Die Linke):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Abgeordneten! Die Proteste gegen Hartz IV waren ein Weckruf. Im Juli 2004 - ich erinnere daran - verteilte Andreas Ehrholdt die ersten Hand-zettel gegen Hartz IV hier in Magdeburg. Zur ersten Demo kamen sage und schreibe 600 Menschen. Nur eine Woche später waren es bereits 6 000 und kurz darauf folgten seinem Aufruf 15 000 Men-schen. Ehrholdt traf damals einen Nerv. Er wusste, was die Abschaffung der bisherigen Arbeitslosen-versicherung für das Leben der betroffenen Menschen ganz konkret bedeutete.
Vor allem wusste er, dass er der Arbeitslosigkeit selbst nicht mehr entfliehen konnte. Das lag nicht an fehlender Motivation, das lag ganz objektiv an fehlenden Arbeitsplätzen. Trotz Umschulungen, ver-suchter Existenzgründungen, Krankheiten und Weiterbildungen landete er immer wieder beim Ar-beitsamt. Er berichtete damals einer Zeitung, dass er in all den Jahren nur ein einziges Jobangebot hatte, und das war in München.
Die Hartz-IV-Proteste breiteten sich im Sommer 2004 sehr, sehr rasch auch außerhalb von Magde-burg in der gesamten Bundesrepublik aus. Vor allem im Osten, aber eben auch im Westen, wo ehe-malige Kohleregionen unter sehr hohen Arbeitslosenzahlen litten, waren die Einschnitte für die be-troffenen Menschen stark spürbar. Kippen konnten die Demonstranten, wie wir wissen, die Gesetze nicht. Doch der Frust und das Misstrauen gegenüber der Politik wuchsen.
Die von SPD und GRÜNEN beschlossenen Hartz-IV-Gesetze markierten einen fundamentalen Ein-schnitt in die sozialen Sicherungssysteme der Bundesrepublik. Hartz IV schrumpfte die Arbeitslosen-versicherung auf das Niveau der Sozialhilfe. Nur noch der, der seine Ersparnisse aufbrauchte, den en-gen Rahmen für die Miete einhielt und Wertanlagen verkaufte, konnte Ansprüche geltend machen: ein Fall auf null. Wer nicht mittellos sein wollte, war gezwungen, jede - wir erinnern uns auch daran - noch so unwürdige verfügbare Arbeit anzunehmen.
Parallel wurde auch das gesamte Sozialsystem angegriffen. Die gesetzlichen Rentenansprüche wur-den gekürzt, das Renteneintrittsalter wurde erhöht und die Riester-Reform leitete den Transfer von Rentenbeiträgen in den privaten Sektor ein. Der Druck auf Arbeitssuchende, auf Arbeitslose entvöl-kerte den Osten erneut. Gleichzeitig entstand einer der größten Niedriglohnmärkte in Europa. Im Os-ten sind bis heute rund 30 % der Beschäftigten von prekären Arbeitsbedingungen betroffen. Im Wes-ten trifft es vor allem Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund. Es sind also Ostdeutsche, Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund; merkst du selbst.
Die neoliberale Wende, die bereits in den 1980er-Jahren begann, war kein Reformprogramm wie an-dere Reformprogramme im herkömmlichen Sinne. Es handelte sich vielmehr um einen politischen Angriff von oben.
(Andreas Silbersack, FDP, lacht - Hendrik Lange, Die Linke: Ja klar, flexible neue soziale Marktwirt-schaft!)
Wirtschaft, Finanzen und Medien wurden weitgehend dereguliert und privatisiert, Spitzensteuersätze und Unternehmenssteuern wurden gesenkt und abgeschafft, Milliarden an Staatseinnahmen gingen verloren. Auch die europäische Sozialdemokratie und die rot-grüne Bundesregierung tauschten das Versprechen sozialer Absicherung gegen die Vorgabe freier Märkte und strenger Effizienzvorgaben ein. Wenn die SPD aktuell über ihre Regierungsverantwortung klagt, dann liegt es eben nicht am Re-gieren an sich, nein, es liegt an den Entscheidungen, die sie vor 20 oder auch vor zwei Jahren ge-troffen hat.
(Beifall bei der Linken)
Kanzler Schröder machte 2004 die Durchsetzung eines schlanken Staates zur Chefsache, was die SPD den Ruf als Partei der kleinen Leute kostete.
(Jörg Bernstein, FDP: Nein!)
Den passenden Anzug hat er getragen. Seitdem betreibt man nur noch sozialpolitische Flickschuste-rei, bspw. beim Lohn. Hartz IV zwingt Menschen in Arbeitsverhältnisse, die weder fürs Leben noch für eine würdevolle Rente ausreichen. Staatliche Aufstockungen zunächst während der Arbeitszeit und später durch die Grundrente sind Versuche Ihrerseits, schmale Verdienste zu kompensieren. Der Unternehmer profitiert von staatlichen Leistungen.
Ein zweites Beispiel sind die Mieten. Angesichts steigender Mieten wäre ein Mietendeckel überfällig. Berlin hat gezeigt, es geht und es wirkt.
(Jörg Bernstein, FDP: Die haben ja auch 60 000 Wohnungen verkauft! - Jan Scharfenort, AfD: Eine Katastrophe in Berlin ist das! Die Zerstörung von Städten sind die Mietendeckel!)
Wohnraum darf nicht als bloße Ware behandelt werden. Wohnraum ist Daseinsvorsorge.
(Zustimmung bei der Linken)
Eine verantwortliche Politik hätte den Mieterschutz stärken müssen. Stattdessen erhöht die SPD das Wohngeld und überweist direkt an den Vermieter. Unternehmer und Vermieter - es drängt sich die Frage auf, auf welcher Seite die Regierenden eigentlich standen und stehen. Der massive Vertrauens-verlust in die Politik resultiert auch aus solchen Entscheidungen oder eben der Untätigkeit bei Bil-dung, bei Rente, bei Gesundheit.
Jetzt kommt es mit Friedrich Merz noch schlimmer. Eine neue Koalition zwischen Union und SPD wird verhandelt. Die CDU kündigt an, die Fehler der SPD noch zu übertreffen.
(Zustimmung von Sven Rosomkiewicz, CDU - Zustimmung bei der Linken)
Aus der Agenda 2010 soll nun die Agenda 2030 werden. Die Antwort auf Sozialabbau ist noch mehr Sozialabbau. Das Hauptziel dieses erneuten Angriffs von oben ist wieder einmal die soziale Grundsi-cherung. Mehr als 20 Jahre brauchte die SPD, um sich zumindest rhetorisch vom Begriff Hartz IV zu distanzieren. Konkrete Verbesserungen - das wissen wir; machen wir uns ganz ehrlich - blieben weit-gehend aus. Unter der Ampelregierung gab es lediglich eine klitzekleine Inflationsanpassung in Höhe von 50 € pro Monat. Bei einer Preissteigerung von 30 % bei Lebensmitteln seit 2021 ist das alles an-dere als ausreichend zu nennen. Dennoch betreibt die CDU monatelang Druckkampagnen gegen die-se minimale Erhöhung.
Ausgerechnet das Bürgergeld soll jetzt das Sparschwein des öffentlichen Haushalts sein. Spitzenpoli-tiker der CDU fordern dafür die vollständige Streichung aller Leistungen des Jobcenters für sogenann-te Totalverweigerer. Sie verschweigen, dass die Verfassung ein Existenzminimum garantiert und die Menschenwürde unantastbar ist.
(Zustimmung bei der Linken)
Meine Damen und Herren! Diese grundlegenden Prinzipien wurden nach dem Zweiten Weltkrieg sehr bewusst im Grundgesetz verankert unter dem Eindruck des Verfalls von Demokratie und Sozialstaat in der Weimarer Republik und dem parallelen Aufstieg der NSDAP.
(Oh! bei der AfD und bei der FDP)
Achtung, Achtung, Achtung! Juristen und Volkswirte wie Merz, Linnemann und Kuban wissen so et-was. Man braucht mir nicht zu erzählen, dass sie davon keine Ahnung haben und das zum ersten Mal hören. Umso schlimmer wiegt es, dass sie das ausblenden. Noch schlimmer ist: Sie orientieren sich auch an Leuten wie Trump und Musk und kopieren den Politikstil der Republikaner. Friedrich Merz - ich erinnere auch daran - war der Lieblingskandidat der CDU hier in Sachsen-Anhalt. Ob er es noch ist, weiß ich nicht. Das schien heute anders. Merz hat das Adenauerhaus fast komplett auf aggressive Kampagnen umgestellt. Ich kann die Oppositionszeit der CDU mit Kampagnen gegen die Ampel und deren Heizungsgesetz, gegen Geflüchtete, gegen Ukrainer und Arbeitslose, mit den Klagen gegen den Bundeshaushalt der Ampel und mit dem Mantra zur Schuldenbremse nur so zusammenfassen: Die Union hat nicht zuerst an das Land gedacht, sondern an die eigene Kanzlerschaft. Der Preis dafür ist hoch.
(Beifall bei der Linken)
Die Unwahrheiten im Wahlkampf erreichen nicht ganz den Grad wie bei Trump, aber das Prinzip bleibt gleich: Emotionen schüren, Nebensächlichkeiten aufbauschen und einseitige Perspektiven prä-sentieren. Das geschieht alles, um staatliche Verantwortungsbereiche noch mehr ins Private zu drän-gen.
Es folgt wieder ein Beispiel zur Rente. Die nächste Bundesregierung muss das neue Rentenniveau festschreiben. Doch die CDU zögert. Nach dem Scheitern der Riester-Rente soll jetzt der DAX ent-scheiden. Junge Menschen sollen mit winzigen Einzahlungen ihre Rente selbst ansparen. Das ist lä-cherlich, aber leider verfängt es. Zu viele junge Leute nehmen das Wort Generationengerechtigkeit tatsächlich als Versprechen da, wo es ein politischer Kampfbegriff geworden ist. Sie vergessen dann, dass es nicht nur um ihre Beiträge für die jetzigen Rentner geht, sondern um ihre eigene gesetzliche Rente im Alter.
(Guido Kosmehl, FDP: Ja, ganz genau!)
Meine Damen und Herren! Diese Politik ist verantwortungslos und gefährlich.
(Beifall bei der Linken)
Die Angriffe auf die bereits finanziell Abgehängten vergiften den Ton und eben auch unser gesell-schaftliches Klima. Migration und Bürgergeld werden zu Baustellen der Nation erklärt, während drin-gende Themen wie Digitalisierung, Bildung, Überalterung und Steuerflucht einfach vernachlässigt werden. Das muss sich ändern.
Ich richte diesen Appell auch an uns hier mit dem Blick auf die kommende Landtagswahl. Auf welcher Seite steht die Politik? - Für Die Linke ist klar: Wir stehen an der Seite der Arbeitnehmerinnen, der Mieterinnen, der Geflüchteten, der Familien und, ja, wir haben die junge und die alte Generation im Blick. Wir müssen Debatten wieder versachlichen
(Andreas Silbersack, FDP, lacht - Guido Kosmehl, FDP: Das war heute ein gutes Beispiel - Jörg Bern-stein, FDP: Fangen Sie damit an! Einfach damit anfangen! Mann! Versachlichen! Andreas Silbersack, FDP: Mehr Populismus geht gar nicht!)
und Regierende müssen verantwortungsvoll handeln. Wir brauchen keinen neuen Angriff auf den Sozialstaat. Wir brauchen auch keine Agenda 2030, sondern wir brauchen eine Agenda sozial.
(Beifall bei der Linken)
Dazu gehören für uns eine deutliche Anhebung des Bürgergeldes und des Mindestlohnes, eine ge-rechte Vermögens- und Reichtumsbesteuerung, ein Ende der Sündenbock-Rhetorik, die vor allem die Schwächsten trifft und auch treffen soll, und ein Kurswechsel in den Bundesverhandlungen weg von neoliberalen Denkweisen hin zu einer Politik, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Das ist auch das Thema unserer heutigen Debatte. Ich denke, es wird nicht das letzte Mal sein, dass wir darüber reden und das einfordern. - Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der Linken)
Vizepräsidentin Anne-Marie Keding:
Ich sehe keine Interventionen oder Fragen.