Tagesordnungspunkt 26
Bürgerrat „Potenziale des längeren gemeinsamen Lernens für die Bildungsgerechtigkeit“ einsetzen
Antrag Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Drs. 8/5327
Einbringen wird diesen Antrag die Abg. Frau Sziborra-Seidlitz. - Frau Sziborra-Seidlitz, bitte schön.
Susan Sziborra-Seidlitz (GRÜNE):
Vielen Dank. - Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Stellen Sie sich das einmal vor, ein chancengerechtes Schulsystem in Sachsen-Anhalt. Ein Schulsystem, in dem es egal ist, ob das Kind aus einer armen oder reichen Familie kommt, wo seine Eltern geboren sind, ob sie Junge oder Mädchen oder nichts von beiden ist. Ein Schulsystem, in dem alle Kinder die gleichen Chancen haben. Aus deutscher Perspektive ist ein solches Schulsystem Utopie. In der Theorie gibt es in Deutschland zwar auf dem Papier die Durchlässigkeit des Bildungssystems, die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs durch Bildung, doch die Realität sieht statistisch ganz anders aus. In der Realität ist dein Bildungsweg meistens praktisch vorherbestimmt, je nachdem, in welcher Familie du geboren wurdest. Sind deine Eltern Arbeiterinnen, die selbst nur einen Sekundarschulabschluss haben, dann wirst du ziemlich wahrscheinlich auch einen Sekundarschulabschluss erreichen
(Jörg Bernstein, FDP: Nein!)
und die Chancen auf ein Studium sinken. - Statistik. Haben deine Eltern Abitur und studiert? - Herzlichen Glückwunsch, dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass du auch einmal studieren wirst. - Statistik. Haben deine Eltern gute Jobs und genug Geld, um dir im Zweifelsfall die Nachhilfe zu finanzieren? - Toll, damit hast du die besten Voraussetzungen, einen Schulabschluss zu erreichen. Haben deine Eltern keinen Job und sind auf Sozialhilfe angewiesen? - Schade Marmelade, aber statistisch gesehen sind deine Chancen auf einen Schulabschluss schon einmal schlechter.
(Beifall bei den GRÜNEN)
Eine gute Bildung, ein guter Schulabschluss und später ein gut bezahlter Beruf, das ist in Deutschland viel zu oft davon abhängig, ob man in der Geburtenlotterie gewonnen hat, ob man in eine Akademikerfamilie hineingeboren wurde, ob man in eine wohlhabende Familie hineingeboren wurde, bestenfalls in eine Familie, in der alle Mitglieder weiß sind und Deutsch als Muttersprache haben. Denn ja, die Chancen auf einen guten Bildungsabschluss oder überhaupt einen Bildungsabschluss in Deutschland sinken, wenn man aus einer Familie kommt, die Migrationsgeschichte hat oder in der Deutsch nicht als erste, sondern vielleicht als zweite Sprache gelehrt wurde. - Statistik.
Und wehe dir, wenn du als Kind eine Behinderung oder einen Förderbedarf hast. Dann kannst du in Sachsen-Anhalt mittlerweile direkt in die Förderschule geschickt werden, mit wenigen bis gar keinen Möglichkeiten, überhaupt einen Schulabschluss zu erreichen.
Es ist unfassbar, dass unser Bildungssystem nach all den Jahren immer noch so ungerecht ist. Seit dem Jahr 2000 führt uns die PISA-Studie die Bildungsungerechtigkeit in Deutschland als Mangel vor Augen. Seitdem hat sich nichts geändert. Wir sind immer noch genauso schlecht, wenn nicht sogar noch schlechter. Wir erleben einen PISA-Schock nach dem anderen, dann gibt es einen kurzen Aufschrei, Aktuelle Debatten werden geführt und danach business as usual - frei nach dem Motto: Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern?
(Zustimmung bei den GRÜNEN - Zuruf von Ulrich Siegmund, AfD)
Dabei sieht man in anderen Ländern ganz eindeutig, dass es kein Naturgesetz ist, dass Bildung durch den familiären Hintergrund vorbestimmt ist. Diese bekommen es nämlich hin. Warum wir nicht? - Bildungspolitikerinnen in Deutschland, gerade in der CDU, sind da echt blind - angetrieben von dem über allem stehenden Bildungsideal, möglichst homogene Schulen und homogene Klassen zu haben, besessen von der Vorstellung, dass die Aufteilung der Kinder auf verschiedene Schultypen die geilste Erfindung für ein Bildungssystem ist, blind für die Ergebnisse von Wissenschaft und Studien, die eindeutig belegen, dass Deutschland eben keine Bildung der Spitzenklasse hat, weder bei den Eliten, deren Förderung man sich durch diese Segregation verspricht, noch in der Frage der Gerechtigkeit.
Ein Paradebeispiel dafür ist unsere Bildungsministerin. Wir reisen mit dem Bildungsausschuss nach Irland. Dort sehen wir, wie viel besser und erfolgreicher ein Bildungssystem funktioniert, wenn Kinder die Schulzeit gemeinsam verbringen und gemeinsam lernen, wenn Kinder nicht nach der 4. Klasse aufgeteilt werden. Wir erleben, dass Inklusion funktioniert und eben nicht die Leistung der Leistungsstärksten schwächt, wie hierzulande oft behauptet wird.
Erst kürzlich waren Sie - ich habe die Nordlichter leider nicht sehen können - mit dem Bildungsausschuss in Finnland und haben auch dort gesehen, dass es wunderbar funktioniert, wenn Kinder gemeinsam beschult werden, und zwar vom Anfang bis zum Ende ihrer Bildungskarriere. Dann stehen Sie hier im Landtag von Sachsen-Anhalt und sagen, dass es das beste Bildungssystem, die beste Bildung für alle unsere Kinder ist, wenn die Grundschule bis zur 4. Klasse geht und wir einen Haufen Förderschulen haben, und das, obwohl wir in der Bildungsstatistik im Vergleich der Bundesländer immer ganz hinten stehen und am schlechtesten abschneiden. Manchmal frage ich mich: Ist das hier ein Sketch?
(Beifall bei den GRÜNEN)
John Hattie, einer der weltweit angesehensten und renommiertesten Bildungsforscher und Bestsellerautor, hat in einem „Spiegel“-Interview das deutsche Bildungssystem als das ungerechteste Schulsystem bezeichnet, das er kenne. Das kann ich auch für Sachsen-Anhalt unterschreiben. Wir verschwenden reihenweise Talente. Talente, die wir für unsere Zukunft brauchen, weil wir Kinder unbedingt schon nach der 4. Klasse in Kategorien sortieren müssen oder sie gleich in Förderschulen stecken. Dabei zeigt die Bildungsforschung, dass Kinder in der Regel viel länger als vier Schuljahre brauchen, um ihre Fähigkeiten so weit zu entwickeln, dass man von außen überhaupt einschätzen kann, wie sie sich weiterentwickeln werden. Bildungspolitik darf nicht länger Mangelverwaltung im Status quo sein. Die Bildung von morgen braucht Entwicklung und Modernisierung.
Aber die Frage, wie wir unser Bildungssystem gestalten wollen, ist eine Frage, die die gesamte Gesellschaft betrifft. Deshalb sollte die gesamte Gesellschaft darüber diskutieren. Was sollen unsere Kinder lernen? Wie wollen wir sie auf die Zukunft vorbereiten, die sie gestalten müssen? Wie soll die Schule für unsere Kinder aussehen?
Die Art und Weise, wie unser Bildungssystem aufgestellt ist, ist am Ende auch der Grundpfeiler unserer Gesellschaft. Es ist ein Fundament unserer Demokratie. Deshalb fordern wir Bündnisgrüne einen Bürgerrat, der sich genau mit dieser Frage beschäftigt.
Auf der politischen Ebene kommen wir in dieser Frage offensichtlich nicht weiter. Dabei prallen unterschiedlichste Bildungsideologien aufeinander. Davon nehme ich uns nicht aus. Es gibt verhärtete Fronten. Seit Jahren ist es nicht möglich, einen politischen Konsens oder auch nur einen Kompromiss für zukunftsweisende Bildungsreformen zu finden. Deshalb bleibt es beim Status quo.
Ein Bürgerrat könnte aber genau das leisten. Ein Bürgerrat kann eine mehrheitsfähige Vorbereitung und Grundlage für politische Entscheidungen schaffen, die dann als Anstoß und Rahmen für die Weiterentwicklung des sachsen-anhaltischen Bildungssystems dienen kann.
Wir meinen es mit dem Bürgerrat ernst. Dann muss man die Ergebnisse dieses Bürgerrates ernst nehmen. Deshalb brauchte es auch eine Selbstverpflichtung von uns als Parlament, sich mit diesen Ergebnissen auseinanderzusetzen.
Der Presse konnte ich entnehmen, dass die Koalitionsfraktionen unseren Bürgerrat zum längeren gemeinsamen Lernen mit der Begründung ablehnen, dass es in dieser Legislaturperiode keine Zeit mehr für Reformen im Bildungssystem gebe. Ich halte das a) für ein ziemlich faules Argument; denn eine Legislaturperiode allein reicht nicht für die umfassenden Reformen aus, die unser Bildungssystem braucht. Natürlich braucht das Zeit - mehr als anderthalb Jahre, ehrlich gesagt, mehr als fünf Jahre. Aber irgendwann muss man anfangen und darf die Verantwortung nicht immer auf die nächste Legislaturperiode oder auf die nächste Regierung abschieben.
Und b): Sie haben anscheinend unser Anliegen nicht ganz verstanden, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen. Es geht eben nicht darum, dass wir hier heute oder nach einer Ausschussberatung als Politik entscheiden, wie das Bildungssystem für die Zukunft aufgestellt werden soll. Es geht stattdessen explizit darum, dass es einen von einer breiten gesellschaftlichen Mehrheit getragenen Vorschlag gibt - aus der Gesellschaft, von den Bürgerinnen und Bürgern. Und wir arbeiten dann damit weiter.
(Beifall bei den GRÜNEN)
Dass Sie den Antrag ablehnen werden, ist symptomatisch für Ihre Bildungspolitik. Denn diese ist geprägt von der Verwaltung des Mangels und dem Stopfen der Löcher, die der Lehrermangel hinterlässt.
Natürlich ist es wichtig, den Lehrermangel zu bekämpfen. Aber die Bildungsstudien zeigen, dass wir grundlegende Reformen unseres Bildungssystems brauchen, damit wir endlich ein wettbewerbsfähiges Bildungssystem in Deutschland und in Sachsen-Anhalt haben, ein Bildungssystem, in dem gute Schülerinnen weiterhin gute Leistungen erbringen und leistungsschwächere Schülerinnen bessere Chancen auf einen guten Bildungsabschluss haben.
Wie unser Bildungssystem gestaltet ist, was wir von diesen wollen und was es leisten soll, das ist eine gesellschaftliche Entscheidung, die in die Politik getragen werden muss und nicht umgekehrt. Deshalb fordern wir Bündnisgrüne einen Bürgerrat, der die Reformen in der Bildung diskutiert.
Bildung ist der Grundpfeiler unserer Demokratie. Bildung ist essenziell für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Wir Bündnisgrüne kämpfen für Schulen, in denen alle Kinder den bestmöglichen Bildungsabschluss erreichen können, damit kein Kind in unserem Bundesland mehr abgehängt wird.
Wir bitten Sie um Zustimmung zu unserem Antrag. - Vielen Dank.
(Beifall bei den GRÜNEN)
Vizepräsidentin Anne-Marie Keding:
Frau Sziborra-Seidlitz, es gibt eine Intervention, und zwar von Herrn Dr. Tillschneider. - Herr Dr. Tillschneider, bitte, Sie haben das Wort.
Dr. Hans-Thomas Tillschneider (AfD):
Sie haben in Ihrer Rede unterschiedliche Gruppen gebildet - die wohlhabenden und die weniger wohlhabenden, die gebildeten und weniger gebildeten Familien, Migranten - und Sie haben dann beklagt, dass die Angehörigen dieser Gruppen unterschiedliche Bildungserfolge haben. Wie wäre es aber, wenn ein Bildungssystem, weil die Angehörigen dieser Gruppen - die so gebildet wurden, wie Sie sie gebildet haben unterschiedlich zu Bildung befähigt sind,
(Zuruf von der Linken)
- ja, kontrollieren Sie Ihren Puls - diese Unterschiede nicht übertünchen, sondern abbilden würde? Dann wäre das doch eigentlich ein im strengen Sinne gerechtes System, oder etwa nicht?
(Unruhe)
Vizepräsidentin Anne-Marie Keding:
Wollen Sie darauf reagieren?
Susan Sziborra-Seidlitz (GRÜNE):
Ja. - Oder etwa nicht. Herr Tillschneider, Ihre Einlassungen haben gerade eines sehr deutlich gezeigt, nämlich dass Sie viel weniger Politiker, viel weniger vor allem Bildungspolitiker und viel mehr ein Rassist und Menschenfeind sind.
(Beifall bei den GRÜNEN - Zurufe von der AfD)
Vizepräsidentin Anne-Marie Keding:
Frau Sziborra-Seidlitz, das sind Zuschreibungen. Das ist immer ein Punkt.
(Unruhe)
Susan Sziborra-Seidlitz (GRÜNE):
Ich will das kurz begründen. Es gibt zu genau dieser Frage, wie Chancengerechtigkeit sich darstellt, Untersuchungen und internationale Vergleiche. Diese zeigen sehr deutlich, dass, wenn das Bildungssystem entsprechend gestaltet ist, wenn das Bildungssystem es ermöglicht, es sehr viel weniger Unterschiede im Hinblick auf die Bildungschancen von Kindern aus verschiedenen Herkunftsfamilien gibt. Das zeigt, dass es eben nicht an den Fähigkeiten der Kinder liegt, sondern an den Rahmenbedingungen.
(Zustimmung bei den GRÜNEN)
Und wenn Sie, anstatt hier Vorurteile zu reproduzieren und immer wieder den gleichen Quatsch zu erzählen, sich einmal mit solchen Fragen auseinandersetzen würden, dann würde aus Ihnen vielleicht auch ein Bildungspolitiker werden.