Tagesordnungspunkt 4
Startchancen in Sachsen-Anhalt verbessern: Eine Talentinitiative für Schulen in besonders herausfordernden Lagen initiieren
Antrag Fraktionen CDU, SPD und FDP - Drs. 8/4255
Herr Bernstein steht schon am Rednerpult und möchte den Antrag einbringen. Es ist eine Fünfminutendebatte zu diesem Tagesordnungspunkt vereinbart worden. - Herr Bernstein, Sie haben das Wort.
Jörg Bernstein (FDP):
Sehr geehrter Herr Präsident! Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! In dem Ihnen heute vorliegenden Antrag geht es um ein Thema, das uns alle angeht, nämlich um die Bildung und damit verbunden um die Start- und Zukunftschancen unserer Kinder und Jugendlichen.
Eine qualitativ hochwertige Bildung ist ohne Frage die Schlüsselkomponente, um selbstbestimmt leben zu können und die Herausforderungen einer sich stetig wandelnden Arbeits- und Lebenswelt meistern zu können. Doch leider ist der individuelle Bildungserfolg noch immer eng mit der sozialen Herkunft verknüpft. Für uns alle dürfte es keine neue Erkenntnis sein, dass Schülerinnen und Schüler aus Haushalten mit einem hohen Bildungsstand häufiger allgemeinbildende Schulen besuchen, die zu einer Hochschulreife führen, als ihre Altersgenossen aus Haushalten mit niedrigem Bildungsstand.
Um an dieser Stelle allerdings auch keine Unklarheiten aufkommen zu lassen: Wir sehen diesen Umstand auch nicht als Naturgesetz an. Wir haben aber als Gesellschaft die Pflicht, die Voraussetzungen für beste Bildungschancen zu schaffen. Diese dann zu ergreifen, liegt auf jeden Fall an jedem Einzelnen.
(Zustimmung bei der FDP und bei der CDU)
Bereits im Koalitionsvertrag haben wir uns mit unseren Koalitionspartnern darauf verständigt, genau diesem noch immer bestehenden besorgniserregenden Trend entgegenzuwirken.
(Unruhe)
Dies kann uns nur dann gelingen, wenn wir der Entkoppelung des Bildungserfolgs vom sozialen Hintergrund unserer Schülerinnen und Schüler eine noch größere Aufmerksamkeit zukommen lassen. Wir als Koalitionsfraktionen glauben fest daran, dass jedes Kind das Potenzial hat, Großes zu erreichen. In jedem Kind stecken Talente, die aber gehoben werden müssen.
(Beifall bei der FDP und bei der SPD - Zustimmung bei der CDU)
Es ist unsere Pflicht, dieses Potenzial zu fördern und auch zu fordern.
Der Ihnen heute vorliegende Antrag greift diese Zielstellung auf. Wir wollen Startchancen in Sachsen-Anhalt verbessern und dafür eine Talentinitiative für Schulen in besonders herausfordernden Lagen initiieren. Wir wollen sicherstellen, dass alle Schülerinnen und Schüler, insbesondere jene mit besonderen Herausforderungen, gezielt gefördert werden und ihr individuelles Potenzial bestmöglich entfalten können.
Dafür sollen in den kommenden zehn Jahren, flankiert vom Startchancen-Programm des Bundes, mehr als 90 ausgewählte Talentschulen in allen Kreisen und kreisfreien Städten eine besondere Förderung erhalten. Damit verbunden waren in unserem Beratungsprozess zwei zentrale Fragen. Erstens: Wie soll die Auswahl der Schulen in besonders herausfordernden sozialen Lagen erfolgen? Zweitens: Wie genau können die ausgewählten Talentschulen möglichst zielführend und bedarfsgerecht unterstützt werden?
Die erste Frage brachte uns auf das Instrument eines schulscharfen Sozialindexes, den unser zuständiges Ministerium erfreulicherweise bereits umsetzen konnte. Auch auf die zweite Frage gibt Ihnen der vorliegende Antrag einige wichtige Antworten. Ganz konkret wollen wir unseren Schulen mehr Handlungsspielräume in Form von individuell verwendbaren Chancenbudgets zur Verfügung stellen. Denn wir sind uns darüber einig, dass unsere Schulen am besten wissen, welche Unterstützung am jeweiligen Standort tatsächlich gebraucht wird.
Deshalb sollen die Talentschulen das zusätzliche Budget flexibel sowohl für außerunterrichtliche Projekte als auch für einen ergänzenden Einsatz von Experten, von Honorarkräften, wie Schulpsychologen oder auch Logopäden, für unterrichtsbegleitende Projekte, für Arbeitsgemeinschaften, für soziale Trainings-, für Sprachförderangebote oder auch für Fort- und Weiterbildungen mit Elementen systemischer Beratung für Schulleitungen und Lehrerkollegien einsetzen können.
Damit wollen wir die dringend erforderliche Weiterentwicklung der bestehenden Organisationsstrukturen in multiprofessionellen Teams sowie der Lehr- und Lernstrukturen und auch alternative Lernmodelle unterstützen und vorantreiben.
Im Ergebnis unserer Beratungen wollen wir unseren ausgewählten Talentschulen außerdem einen Pool modularisierter Begleit- und Unterstützungsprogramme zur Verfügung stellen. Damit erhalten sie Zugriff auf folgende exemplarisch hier zu nennende Förderangebote zur Stärkung der Basiskompetenzen im sprachlichen und im mathematischen Bereich - das ist die Zielrichtung, die das Startchancen-Programm aufgreift -: Angebote zur Förderung der Medienkompetenz sowie in den Bereichen Medienpädagogik und auch Medienbildung, schulpsychologische Trainings- und Unterstützungsangebote, Berufsorientierung mit qualifizierten Talentscouts am Lernort Schule, die Schülerinnen und Schüler künftig bei der Berufsausbildungs- und Studienwahl unterstützen und frühzeitig Ideenfindungs- und Entscheidungsprozesse anstoßen, die Einbindung in den Sozialraum, und zwar eine Sozialraumkoordination zur Stärkung regionaler Vernetzung und Hebung von Kreativpotenzialen vor Ort, und abschließend Angebote zur Förderung der Lehrer- und Schülergesundheit.
Durch die Talentinitiative sollen neue Konzepte entwickelt, erprobt und evaluiert werden. Die beteiligten Talentschulen können als Referenzschulen fungieren und durch den Austausch und die Zusammenarbeit innerhalb eines Talentschulnetzwerkes Good-Practice-Ansätze identifizieren und verbreiten.
(Zustimmung von Andreas Silbersack, FDP)
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Talentinitiative ist ein wichtiger Schritt auf unserem Weg zur Verbesserung von Start- und Bildungschancen aller Kinder und Jugendlichen in Sachsen-Anhalt. Sie unterstreicht unser langfristiges Engagement und unseren festen Willen, nachhaltige Veränderungen anzustoßen. Denn unsere Kinder sind auch unsere Fachkräfte von morgen, die wir doch so dringend brauchen werden.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und bitte Sie alle um die Zustimmung zu dem vorliegenden Antrag. - Vielen Dank.
(Beifall bei der FDP - Zustimmung bei der CDU)
Präsident Dr. Gunnar Schellenberger:
Danke, Herr Bernstein. - Kollege Tillschneider hat eine Frage.
Dr. Hans-Thomas Tillschneider (AfD):
Ich habe eine Frage. Ist der Begriff Talentschulen nicht ein Etikettenschwindel? Als ich den Titel des Antrags gelesen habe, habe ich gedacht, es geht um Begabtenförderung. Dann habe ich den Antragstext gelesen und habe festgestellt, dass es doch nur wieder um eine Förderung für vermeintlich sozial irgendwie Benachteiligte gehen soll. Hätten wir es nicht anders nennen können?
(Guido Kosmehl, FDP: Weil jeder ein Talent hat! - Kathrin Tarricone, FDP: Jeder hat sein Talent!)
Jörg Bernstein (FDP):
Nein, Herr Kollege Tillschneider. Wir haben tatsächlich auch über den Punkt der Begriffswahl diskutiert. Zugegebenermaßen wurde dieses Konzept erstmalig im Land Nordrhein-Westfalen umgesetzt, zumindest ein Konzept unter diesem Begriff, nicht das dahinterliegende entsprechende Gesamtprogramm.
Aber die Frage finde ich durchaus berechtigt. Wir hatten den Punkt Talentschulen auch in unserem Wahlprogramm aufgegriffen und diese Frage wurde ebenfalls gestellt. Aber auch ich als Lehrer gehe davon aus, dass wir Schulerfolg dadurch sichern müssen, dass allen Kindern und Jugendlichen aufgezeigt wird: In dir steckt etwas, du kannst etwas leisten.
(Zustimmung bei der FDP und bei der SPD)
Aus meiner ganz persönlichen Unterrichts- und Lehrererfahrung kann ich einschätzen, dass die Schulverweigerung vielfach daraus resultiert, dass man einfach keinen Bock hat, dass man sich von zu sehr theoretisch ausgelegtem Unterricht abschrecken lässt. Aber der Hintergrund ist, dass man sagt, in jedem von uns stecken Talente und diese wollen wir heben.
Präsident Dr. Gunnar Schellenberger:
Danke, Herr Bernstein. - Es gibt eine zweite Frage. - Herr Lippmann.
Thomas Lippmann (Die Linke):
Vielen Dank, lieber Kollege Bernstein. Seitdem ich den Antrag gelesen habe, versuche ich zu verstehen und herauszufinden, wie das Verhältnis zwischen dem Startchancen-Programm und dieser Talenteinitiative ist. Wir wissen inzwischen, dass das Startchancen-Programm auf den Weg gebracht wurde und dass wir dafür 97 Schulen in Sachsen-Anhalt ausgewählt haben. In Ihrem Antrag wird noch einmal von 90 Schulen gesprochen. Sind das dann 90 weitere Schulen, die da hinzukommen, oder ist das, was Sie hier vortragen, nur eine Fokussierung oder eine Spezifizierung innerhalb des Startchancen-Programms?
Jörg Bernstein (FDP):
Es ist letztendlich ein Prozess. Genauso wie Sie langfristig arbeiten, haben auch wir als Koalitionsfraktionen natürlich langfristig gearbeitet, beginnend im Jahr 2021, mit der Abarbeitung unseres Koalitionsvertrages, in dem wir vereinbart hatten, in jeder Stadt und in jedem Landkreis mindestens - „mindestens“ heißt, es können durchaus mehr werden - eine Talentschule zu errichten als Leuchttürme der Chancengerechtigkeit. Das mag für den einen oder anderen ein bisschen too much klingen, aber das war zumindest eine klare, sehr prägnante Formulierung.
Nach der entsprechenden Regierungsbildung kam auf der Bundesebene das Startchancen-Programm hinzu. Aus unserer Sicht war es nicht unbedingt sehr zielführend, das parallel zueinander zu betrachten; denn - das muss man ebenfalls bedenken - es steckt ein gewaltiger finanzieller Aufwand dahinter. Unser Ansatz ist es letztendlich, beide Themen unter einem Dach zusammenzuführen und die Mittel möglichst sinnvoll einzusetzen.