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Plenarsitzung

Transkript

Henriette Quade (fraktionslos): 

Zehn Minuten?


Präsident Dr. Gunnar Schellenberger:

Zehn Minuten, ja, selbstverständlich.


Henriette Quade (fraktionslos): 

Alles klar.


Präsident Dr. Gunnar Schellenberger:

Bloß technisch läuft die Uhr bei Ihnen nicht. Es läuft hier eine Stoppuhr.


Henriette Quade (fraktionslos): 

Tja.


Präsident Dr. Gunnar Schellenberger:

Wenn Sie ein Hilfezeichen brauchen, dann kriegen Sie das von uns.


Henriette Quade (fraktionslos): 

Ich denke, ich werde ohne Hilfe klarkommen, Herr Präsident. Vielen Dank.

(Zustimmung von Sebastian Striegel, GRÜNE)

Meine Damen und Herren, diese Debatte und der Grund, warum sie initiiert wurde, haben nichts, aber auch wirklich nichts mit der Lage in Syrien zu tun, sondern ausschließlich mit der politischen Agenda der extrem rechten AfD. Es ist die x-te in parlamentarische Bahnen gebrachte Version dessen, was Herr Siegmund in Potsdam gemeint haben mag,

(Oh! bei der AfD)

als er davon redete, es für zugewanderte Menschen so unattraktiv wie möglich zu machen, hier zu leben.

(Zuruf von Felix Zietmann, AfD)

Es wäre tatsächlich viel gewonnen, wenn wir diese Debatte alle auch genauso sortieren und behandeln würden.

(Zustimmung bei den GRÜNEN)

Stattdessen erleben wir eine CDU, deren Bundesspitze am Tag nach den ersten Meldungen über den Sturz Assads die Forderung nach Rückführung von Syrerinnen und Syrern in Deutschland stellt, und eine Innenministerin, die trotz gemäßigter Töne im Kern sagt, nicht ganz so schnell, wie die AfD das will.

Die Debatte zeigt damit wie unter einem Brennglas, wie die parlamentarischen Initiativen der extremen Rechten funktionieren und was sie befördert. Aktuelle Ereignisse dienen lediglich als Anlass dafür, die rassistischen und im Kern auf Vertreibung zielenden Forderungen und Erzählungen möglichst laut in die Welt zu rufen. Da werden die Evergreens der menschenfeindlichen Agenda wild verbunden und verschlagwortet. Da wird so getan, als hätte die Lage in Syrien etwas damit zu tun, wer in Deutschland Bürgergeld bekommt. Da werden rassistische Wortschöpfungen, wie „Migrantengeld“ in die Welt geblasen. 

(Zuruf von der AfD)

Und es wird so getan, als sei irgendetwas in Bezug auf die Lage in Syrien übersichtlicher geworden und als sei der eine Fluchtgrund für die meisten Syrer entfallen. 

Diese Debatte, meine Damen und Herren, hatten wir hier eins zu eins schon im August. Schon damals war die Darstellung, der einzige Fluchtgrund aus Syrien sei der Bürgerkrieg, und weil der so nichtmehr stattfinde, sei Syrien sicher, schlichtweg falsch. 

(Zustimmung bei den GRÜNEN)

Mehr als 70 % der syrischen Bevölkerung sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Mehr als 14 Millionen Syrerinnen und Syrer sind innerhalb und außerhalb des Landes auf der Flucht. 90 % der Gesamtbevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze. 

Die allermeisten Entscheidungen, die zu einem Schutzstatus in Deutschland geführt haben, basierten in den letzten Jahren nicht mehr auf der unmittelbaren Kriegsgefahr, sondern auf der Gefahr entwürdigender Behandlung, von Menschenrechtsverletzungen und Folter. 

„Da ist kein Krieg mehr“, ist also aus der Ferne nicht nur recht bequem festgestellt, es hat auch nichts mit der Frage zu tun, ob es Schutzgründe für Syrerinnen und Syrer gibt. Es gibt sie; denn Syrien ist vieles, aber nicht sicher. 

Und ja, wir sehen seit dem 8. Dezember auch in Deutschland bei vielen Syrerinnen und Syrern große Freude über ein Ende des Assad-Regimes und wir sollten uns mit ihnen freuen. Wir sehen eine große Hoffnung auf ein freies, ein friedliches und ein sicheres Syrien. Wir sehen Hoffnung auf eine demokratische Zukunft für Syrien, und wir sehen, dass Menschen sehr schnell gesagt haben: Wir wollen zurück, wir wollen helfen, die Verbrechen Assads aufzuarbeiten, und wir wollen helfen, unser Land wieder aufzubauen.

Wer aber insbesondere danach schaut, wie Angehörige von Minderheiten, wie Kurden und Drusen, wie Frauen und syrische Menschenrechtsaktivistinnen auf die Entwicklung in Syrien schauen, der sieht sehr schnell: In die Freude über das Ende der Herrschaft Assads mischt sich mit riesiger Unsicherheit, wie es in Syrien weitergeht, wer künftig die Macht dort haben wird und ob Syrien ein freies, ein sicheres, ein demokratisches Land sein wird. 

Nicht wenige erinnern an die iranische Revolution in den 70er-Jahren, als der Revolution gegen das Regime des Schahs die Islamische Republik folgte, die noch heute mit Gewalt und Brutalität gegen Oppositionelle vorgeht. Eine freie und demokratische Zukunft ist zwar der Wunsch vieler, aber eben keine sicher anzunehmende Entwicklung. 

(Zustimmung von Sebastian Striegel, GRÜNE)

Abu Muhammad al-Dscholani, der Anführer der HTS-Gruppen, gilt mittlerweile als neuer Staatschef, hat seinen Kampfnamen abgelegt - demokratisch legitimiert ist er nicht. Wie auch? Seine Vergangenheit als Al-Qaida-Kämpfer im Irak und als Gründer der islamistischen Al-Nusra-Front, dem syrischen Ableger von Al-Qaida, die Tatsache, dass die HTS auch heute zwar eine Trennlinie zum IS zieht, zugleich aber eine dschihadistische Organisation ist, die Berichte über schwere Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverstöße in einigen von der HTS kontrollierten Gebieten, das Vorgehen der Türkei in den kurdischen Gebieten - all das macht die Zukunft Syriens mehr als ungewiss. 

Al-Dscholani gilt heute als gemäßigt und verspricht Pluralität und Toleranz. Ich wünsche das den Syrerinnen und Syrern inständig. Sicher ist es angesichts der Etablierung von Scharia-Gerichten in den von der HTS kontrollierten Gebieten keineswegs.

Rasha Corti, in Syrien geboren, heute in Wien zu Hause, schreibt in der „FAZ“:

„Demgegenüber werden die Rechte der Frauen durch die fundamentalistische Ideologie der HTS sehr wahrscheinlich stark eingeschränkt werden. Die HTS erkennt die Scharia in ihrer strengsten Auslegung an. Reformen in Bereichen wie Scheidung, Sorgerecht oder Unterhaltszahlung sind daher höchst unwahrscheinlich. Dieses starre Festhalten an fundamentalistischen Prinzipien lässt jede Hoffnung auf Fortschritte im Bereich der Frauenrechte in Syrien in weite Ferne rücken; vielmehr scheint sogar eine systematische rechtliche und gesellschaftliche Unterdrückung der Frauen absehbar, die jahrzehntelange kleinere Fortschritte zunichtemachen könnten.“

Wer mit Kurdinnen und Kurden spricht, der hört natürlich Freude über den Sturz Assads - der hört jedoch auch die Berichte von massiven Angriffen der Türkei und der SNA auf die kurdischen Gebiete, von verheerenden Verwüstungen, von Zehntausenden auf der Flucht vor den Milizen, die mit Erdoğan verbunden sind, und von Hunderten Toten. Die Türkei nutzt die instabile Lage in Syrien aus, um langfristig die kurdische Autonomie zu schwächen und zu vernichten. Insbesondere im Norden Syriens, wo die meisten Kurden leben, sind die letzten Tage von Gewalt, Vertreibung und Unsicherheit geprägt. Die Kurden, die größte Minderheitengruppe in Syrien und die aktivsten Kämpfer gegen den IS, wenden sich wieder an die internationale Gemeinschaft. Und wieder macht diese weiterhin Deals mit Erdoğan und ignoriert die Verbrechen der Türkei und das Leid der Kurden. 

Wenn die internationale Gemeinschaft zur Demokratisierung und Stabilisierung Syriens beitragen will, dann muss sie die Situation der Kurden endlich in den Blick nehmen, und dann muss sie die demokratische Selbstverwaltung in Rojava endlich einbeziehen, stärken und unterstützen. 

Meine Damen und Herren! Es wird Syrerinnen und Syrer geben, die zurückgehen, und es wird welche geben, die sagen: Mein Zuhause ist hier. Das muss selbstverständlich jeder Person überlassen bleiben. Es ist ihre Entscheidung. 

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

In den letzten Tagen weisen insbesondere Menschen aus dem Medizin- und Pflegebereich vehement darauf hin, wie groß unser infrastrukturelles Problem werden würde, wenn sich alle hier lebenden und arbeitenden Menschen, die aus Syrien nach Deutschland kamen, dazu entscheiden würden, Deutschland zu verlassen. Auch in der heutigen Debatte hat das bereits eine Rolle gespielt. Natürlich wäre es dringend notwendig, diese Hinweise ernst zu nehmen, anstatt in einen nicht gewinnbaren Wettlauf mit Nazis darüber zu treten, wer zuerst Abschiebungen nach Syrien fordert, und zu überlegen, was die Menschen dazu bewegen könnte, hier zu bleiben, was sie dazu bringen könnte, hier in Sachsen-Anhalt zu bleiben. 

Die Journalistin Isabel Schayani weist aber sehr zu Recht auf die Probleme hin, die eine solche Klassifizierung von Menschen nach ihrer Nützlichkeit hat, und schreibt auf „X“:

„‘Ihr redet darüber, was es für den deutschen Arbeitsmarkt bedeutet, wenn Syrer zurückkehren würden, wie viele Steuern fehlen‘, sagt mir ein syrischer Arzt. Aber warum sagt keiner, dass wir als Freunde, Nachbarn, als Menschen fehlen würden?“.

Was für ein bitterer Befund, meine Damen und Herren.

(Zustimmung bei der SPD und von Susan Sziborra-Seidlitz, GRÜNE)

Innehalten, Solidarität, Zuwendung, Sensibilität für Traumatisierung und Retraumatisierung angesichts der Massengräber, die mit dem Sturz Assads in den Foltergefängnissen grausame Gewissheit wurden, ein Stoppsignal an Erdoğan, internationale Anstrengungen zur Stärkung der demokratischen Selbstverwaltung Rojavas und die klare Ansage, dass in dieser instabilen Situation Menschen aus Syrien hier sicher und willkommen sind - das wäre das, was angesichts der Initiative der extremen Rechten heute hier das notwendige Signal ist. 

Debatten wie diese Aktuelle Debatte wirken aber nicht nur auf Syrerinnen und Syrer. Sie wirken auf alle Menschen, die, auf welchem Weg auch immer, zugewandert sind. Das Signal, das von einem solchen Überbietungswettbewerb, wer zuerst die Rückführung fordert, ausgeht, ist eines, das auch auf alle Menschen, die zugewandert sind, wirkt. Das Signal ist: Egal wie lange du da bist, egal wie sehr du dich integrierst, egal wie sehr du arbeitest, egal wie wichtig du für diese Gesellschaft bist, egal wie sehr du die Infrastruktur hier im Land am Laufen hältst - dein Zuhause kann jederzeit zur Disposition gestellt werden, und zwar nicht nur von der extremen Rechten. - Das ist ein verheerendes Signal, meine Damen und Herren. 

Das ist für ein Land wie Sachsen-Anhalt, das so dringend auf Zuwanderung angewiesen ist, besonders schädlich. Vor allem aber ist es ein menschlicher und politischer Offenbarungseid. - Vielen Dank.

(Beifall bei den GRÜNEN)


Präsident Dr. Gunnar Schellenberger:

Ich danke.