Tagesordnungspunkt 2
Inklusive Bildung an Sachsen-Anhalts Schulen stärken
Antrag Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Drs. 8/4429
Frau Sziborra-Seidlitz wird die Einbringung durchführen.
Susan Sziborra-Seidlitz (GRÜNE):
Vielen Dank. - Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf werden in Sachsen-Anhalt benachteiligt. Kinder mit Behinderungen werden diskriminiert, und die Landesregierung tut nichts dagegen. Das muss man hier so klipp und klar feststellen. Bevor ich darauf eingehe, möchte ich zunächst einen kleinen Blick in die Vergangenheit geben:
Im Jahr 2009 ist in Deutschland die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Kraft getreten. Diese Konvention beschreibt ausführlich, welche Regeln eingehalten werden sollen, damit Menschen mit Behinderungen genauso an der Gesellschaft und am Leben teilhaben können, wie Menschen ohne Behinderungen. In Artikel 24 dieser Konvention geht es um das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung. Ich zitiere:
„Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen und lebenslanges Lernen …“
Sachsen-Anhalt ist als Bundesland der Bundesrepublik Deutschland der Einhaltung der UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet. Sachsen-Anhalt ist verpflichtet, ein inklusives Bildungssystem zu schaffen. Doch stattdessen leben wir hier in Sachsen-Anhalt das Gegenteil. Während immer mehr Kinder bei uns in Sachsen-Anhalt exklusiv in Förderschulen beschult werden, sinken parallel die Angebote des inklusiven, des gemeinsamen Unterrichts an der Regelschule. Das ist ein Trend, der sich in den letzten zehn Jahren immer weiter verfestigt hat und der sich auch so fortsetzen wird, wenn wir nichts daran ändern, und das obwohl selbst im Schulgesetz unseres Bundeslandes steht:
„Inklusive Bildungsangebote für Schülerinnen und Schüler werden in allen Schulformen gefördert, um auf diese Weise zur Verbesserung der Chancengerechtigkeit beizutragen.“
- Ein Anspruch, der in Sachsen-Anhalt definitiv nicht mit Leben gefüllt wird.
Ja, nicht nur Sachsen-Anhalt hat ein exklusives Schulsystem. Das ist ein bundesweites Problem. Der letzte Bericht des Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen untersuchte auch die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland. Der Bericht zeigt sehr eindrücklich, dass wir in Deutschland in vielen Bereichen, aber insbesondere beim Einhalten des Rechts von Menschen mit Behinderungen auf Bildung, versagen. Ich zitiere aus dem Bericht:
„In Deutschland herrscht in der Politik und auch in weiten Teilen der Gesellschaft ein verfehltes Inklusionsverständnis. So wird die Mehrheit der Kinder mit Behinderungen weiterhin nicht inklusiv beschult und wächst ohne schulischen Kontakt zu nicht behinderten Kindern auf. Das Ziel einer inklusiven Gesellschaft ist so nicht zu erfüllen.“
Die Landesregierungen müssen ihre menschenrechtliche Umsetzungspflicht gezielter und engagierter wahrnehmen.
(Beifall bei den GRÜNEN)
Der Begriff „verfehltes Inklusionsverständnis“ wird in dem Bericht näher erläutert. Geschrieben wird dort unmissverständlich, dass die in Deutschland weit verbreitete Annahme, dass die Beschulung von Menschen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Förderschulen ausreichen würde, um das Recht auf Bildung von Menschen mit Behinderungen zu erfüllen, falsch ist und dass das gerade von CDU-Politikerinnen, insbesondere von Bildungsministerin Feußner, gern und häufig vorgetragene Argument, dass das Elternwahlrecht die Existenz eines Förderschulsystems rechtfertigen würde, falsch ist.
Herr Staatssekretär Böhm hat erst kürzlich im Bildungsausschuss erklärt, dass er der Meinung sei, dass die UN-Behindertenrechtskonvention nicht zur Abschaffung des Förderschulsystems verpflichte. - Auch das ist falsch.
(Beifall bei den GRÜNEN - Guido Kosmehl, FDP: Nein!)
Die Vereinten Nationen selbst schreiben in ihrem Bericht, dass der Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention genau so zu interpretieren ist.
(Beifall bei den GRÜNEN)
Förderschulen sind nicht Teil eines inklusiven Schulsystems. Förderschulen erfüllen nicht das Recht auf gleichberechtigte Teilhabe und das gleichberechtigte Recht auf Bildung von Menschen mit sonderpädagogischem Förderbedarf. In einem inklusiven Schulsystem, dem Deutschland nach Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention genau so verpflichtet ist, würden Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam unterrichtet werden. Genau das schreibt dieser Bericht. In einer Schule in einem inklusiven Bildungssystem hätten Kinder mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf alle eine Chance auf das Erreichen eines Schulabschlusses.
(Beifall bei den GRÜNEN)
Ja, die Exklusion im Bildungssystem ist ein bundesweites Problem. Kein Bundesland bekleckert sich dabei besonders mit Ruhm. Außer im Saarland, in Hamburg und in Bremen gibt es nirgendwo einen Rechtsanspruch auf eine inklusive Beschulung und angemessene Vorkehrungen. Stattdessen werden Ressourcenvorbehalte festgeschrieben, und das erwähnte Elternwahlrecht wird als Grund vorgeschoben, um Kinder von Regelschulen in Förderschulen auszusortieren. Aber wie so oft führt Sachsen-Anhalt an dieser Stelle die Negativspitze an. Kein anderes Bundesland schickt so viele Kinder in Förderschulen wie Sachsen-Anhalt, und dafür sollten wir uns alle schämen; denn ein solches exklusives Bildungssystem hat schwerwiegende Folgen für den Lebensverlauf von Menschen mit sonderpädagogischem Förderbedarf.
(Guido Kosmehl, FDP: Quatsch!)
Durch das Abschieben der Kinder in den Sonderraum Förderschule erleben die Kinder schon zu Beginn ihrer Bildungskarriere soziale Isolation; denn für Kinder ist der wichtigste soziale Raum Schule. Wie und wo sollen die Kinder Kontakt zu gleichaltrigen Kindern ohne sozialpädagogischen Förderbedarf haben, wenn sie aus dem sozialen Raum der Regelschule ausgeschlossen werden? Wie und wo soll ein Bewusstsein dafür entstehen, dass auch ein Förderbedarf nur eine Facette einer vielfältigen, sehr unterschiedlichen und in all ihrer Unterschiedlichkeit trotzdem zusammengehörigen Gesellschaft ist, dass jeder einfach nur anders normal ist, wenn Kinder schon so früh in Extraräume abgeschoben werden?
(Zurufe von der FDP)
Alle Kinder mit und ohne Förderbedarf verpassen dadurch wichtige Gelegenheiten zum sozialen Lernen und zum Bilden von Freundschaften.
(Beifall bei den GRÜNEN)
Leider entspricht es auch der Wahrheit, dass in unserer Gesellschaft Menschen, die eine Förderschule besuchen oder besucht haben, Stigmatisierung und Diffamierung erleben. Eine normale Kindheit und normales Aufwachsen, eben nur anders normal, sind so schwer möglich.
Nicht zuletzt verhindert der Besuch einer Förderschule die Chance auf gleichberechtigte Bildungschancen für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf, weil an vielen Förderschulen bislang nicht einmal das Erreichen eines Schulabschlusses die Regel war. In der Regel arbeiten die meisten Menschen, die eine Förderschule besucht haben, später in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen, ohne die Chance auf einen Ausbildungsplatz oder gar eine Anstellung auf dem ersten Arbeitsmarkt.
Um potenziellen Zwischenrufen zuvorzukommen: Ja, es ist positiv, dass es in Sachsen-Anhalt an Förderschulen mit dem Schwerpunkt „Lernen“ zukünftig in einigen Klassen die Möglichkeit geben wird, einen Hauptschulabschluss zu erreichen. Aber, Frau Feußner, das ist, ehrlich gesagt, das Mindeste, was wir an dieser Stelle tun können. Denn wenn man schon so viele Kinder aus der Grundschule in diese Förderschulart schickt, dann muss man es dort wenigstens ermöglichen, dass diese Kinder einen Schulabschluss erreichen. Das ist das Mindeste.
Aber immer wenn es eine erfreuliche Nachricht aus dem Bildungsministerium gibt, dann brauchen wir nicht lange darauf zu warten, bis die nächste Hiobsbotschaft kommt. Kinder direkt in die Förderschule einzuschulen, schreddert dann auch das kleinste bisschen Inklusion, das es für alle Förderschülerinnen oder alle Schülerinnen mit Förderbedarf in Sachsen-Anhalt noch gibt - die gemeinsame Schuleingangsphase in der Grundschule für alle Kinder.
(Zustimmung bei den GRÜNEN - Zuruf von Jörg Bernstein, FDP)
Das soll nun auch noch ausgehöhlt werden, indem man ermöglicht, dass Kinder regelhaft in die Förderschule eingeschult werden. Sie berauben damit diesen Kindern jegliche Chance, Regelschule zu erleben. Sie verringern damit die Chance, eine inklusive Schullaufbahn zu starten.
(Jörg Bernstein, FDP: Eben gerade nicht!)
Wir Bündnisgrüne kämpfen für ein chancengerechtes Bildungssystem. Wir kämpfen für eine Schule, in der alle Schüler*innen, die für sie bestmögliche Chance auf Bildung und das Erreichen eines Bildungsabschlusses haben.
(Sven Rosomkiewicz, CDU: Ja!)
Wir kämpfen für eine Schule, in der sich alle Schülerinnen wohlfühlen können, in der alle Schülerinnen einen sicheren Ort zum gemeinsamen Lernen haben und dadurch gute Leistungen erbringen können. Wir kämpfen für eine Schule, in der alle Kinder so gut wie möglich auf das Leben in unserer demokratischen und vielfältigen Gesellschaft vorbereitet werden. Wir kämpfen für eine Schule für alle Kinder.
(Beifall bei den GRÜNEN)
Zu dieser Idee von Schule gehört eben ein inklusives Schulsystem - ein wirklich inklusives Schulsystem! Ein Schulsystem, in dem es selbstverständlich ist, dass Kinder mit und ohne Behinderung, Kinder mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf gemeinsam unterrichtet werden, gemeinsam eine Schule besuchen, gemeinsam lernen, sich gemeinsam weiterentwickeln.
Mit unserem Antrag wollen wir die Voraussetzungen für ein solches inklusives Schulsystem schaffen. Wir stehen noch ganz am Anfang einer Reform unseres exklusiven Bildungssystems hin zu einem solchen System. Deswegen sind natürlich Gutachten, Machbarkeitsstudien notwendig, um wissenschaftlich die Weiterentwicklung unseres Schulwesens hin zu mehr Inklusion zu begleiten, zu beraten und zu steuern.
Unser Bildungssystem kann nicht von heute auf morgen inklusiv werden, das ist mir vollkommen bewusst. Die meisten unserer Schulen sind derzeit weder baulich noch personell auf einen gemeinsamen Unterricht vorbereitet, aber das lässt sich ändern.
Bei Schulneu- und Schulumbauten könnten wir dafür sorgen, dass es Pflicht ist, dass es barrierearme Ausbauten gibt. Lehrkräfte könnten durch Fort- und Weiterbildung für Inklusion fit gemacht werden. Bereits bei der Ausbildung von Lehrkräften kann das Fördern von Inklusion eine stärkere Rolle spielen, indem sonderpädagogische Module für alle Lehramtsstudierenden verpflichtend werden.
Es wäre bereits ein massiver Fortschritt, wenn das Lehramtsstudium für die Grundschule hin zu einem Primärstufenlehramt reformiert werden würde; ein Primärstufenlehramt, in dem das Grundschullehramt mit dem Lehramt für Sonderpädagogik zusammengefasst werden würde. So würden zumindest an Grundschulen schnell die personellen Voraussetzungen für bessere Inklusion geschaffen werden.
Das Beste ist: An der Martin-Luther-Universität in Halle gibt es bereits ein ausgearbeitetes Konzept dafür, wie das Studium für ein solches Primärstufenlehramt gestaltet werden könnte. Es fehlt hierfür nur noch das Go der Landesregierung. Dazu ermutige ich Sie, Frau Feußner, und auch Sie, Herr Willingmann - er ist gar nicht da , an dieser Stelle ganz klar. Trauen Sie sich. Lassen Sie es zu, dass die MLU ihr fundiertes Konzept zur Reform des Grundschullehramts umsetzt.
(Zustimmung bei den GRÜNEN - Zuruf von Andreas Schumann, CDU)
Weil es eben zur Wahrheit gehört, dass das derzeitige exkludierende Förderschulsystem nicht von heute auf morgen zu einem inklusiven System vollständig weiterentwickelt werden kann, müssen kurzfristige Maßnahmen ergriffen werden, die das Schulwesen für die Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf verbessern, die derzeit in der Förderschule sind und bessere Chancen brauchen.
Teilleistungszeugnisse für Kinder, welche im Förderschwerpunkt „Lernen“ beschult werden, können dafür sorgen, dass niemand diese Schulform ohne eine Art von Abschlusszeugnis verlässt; auch dann, wenn diese Kinder nicht Teil von Kooperationsklassen sind, die zum Hauptschulabschluss führen, oder sie selbst den Hauptschulabschluss nicht erreichen können. Es würde diesen Jugendlichen erleichtern, sich später auf Ausbildungsplätze zu bewerben, anstatt, wie derzeit, hauptsächlich in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen eine Anstellung zu finden.
Gleichzeitig sollte die Autismus-Spektrum-Störung endlich als Förderschwerpunkt in die Verordnung über die Förderung von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Bildungs-, Beratungs- und Unterstützungsbedarf aufgenommen werden, damit Kinder und Jugendliche, die deshalb besondere Bedürfnisse haben, entsprechend gefördert werden können.
Mit der Ausschreibung eines Inklusionspreises für Regelschulen könnten sie bereits jetzt angeregt werden, Schulkonzepte für gemeinsamen Unterricht zu entwickeln. Vorreiter und Leuchttürme könnten als Vorbilder dienen und natürlich sollten die Schulen dabei fachlich unterstützt werden, damit sie im Rahmen ihrer Schulprogrammarbeit eigene inklusive Schulkonzepte entwickeln können.
Ja, wir können nicht von heute auf morgen ein inklusives Schulsystem in Sachsen-Anhalt entwickeln. Aber wir müssen uns auf den Weg dorthin machen. Wir haben bereits viel zu lange gewartet. Wir haben Zeit verplempert. Die Leidtragenden sind die betroffenen Kinder und Jugendliche.
(Zustimmung bei den GRÜNEN)
Das Ziel für Sachsen-Anhalt muss sein, dass inklusive Beschulung endlich die Norm, der gemeinsame Unterricht in der Schule die Regel wird, dass wir ein inklusives Bildungssystem schaffen, sodass es weniger statt mehr Schüler*innen geben wird, die in einer Förderschule unterrichtet werden; dass letztendlich so viele Förderschulen wie möglich in Regelschulen aufgehen. Die Voraussetzungen dafür können mit unserem Antrag geschaffen werden. Deshalb bitte ich Sie um Zustimmung. - Vielen Dank.
(Zustimmung bei den GRÜNEN)
Präsident Dr. Gunnar Schellenberger:
Danke, Frau Sziborra-Seidlitz.