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Plenarsitzung

Transkript

Dr. Reiner Haseloff (Ministerpräsident): 

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Das passt genau. Ich begrüße auch die Schülerinnen und Schüler, weil gestern in eurer Gemeinde eine ganz wichtige Entscheidung gefällt wurde. 

(Oliver Kirchner, AfD: Es begrüßt der Präsident und kein anderer! Sie haben hier keinen zu begrüßen!)

Nämlich das größte Gewerbe- und Industriegebiet, mit dem wir in Sachsen-Anhalt ins Rennen gehen auch für die Zukunft, ist gestern im Rat beschlossen worden. Damit ist letztlich auch der B-Plan beschlossen worden und können wir die Zukunft noch offensiver für euch gestalten, als das bisher möglich war. 

(Beifall bei der CDU)

Lieber Herr Meister, Sie haben viele Stichworte angerissen. Man könnte jetzt einen großen historischen Abriss machen, warum wir die Situation so vorfinden, wie sie ist. Ich habe dazu eine ganze Reihe von Auszügen aus dem statistischen Jahresbericht der Bundesregierung, vom Ostbeauftragten usw.: Viele, fast alle Parameter bilden die alte DDR-Grenze bis auf den Zentimeter genau ab, und das wird noch viele Jahrzehnte andauern.

Meine Großmutter hat einmal gesagt, wo 40 Jahre lang der falsche Weg gegangen wurde, ist die Wirkung, die sich daraus ergibt, über mehrere Generationen festgelegt. In der Bibel, hat sie gesagt, steht, die Sünden der Väter gehen bis ins dritte oder vierte Geschlecht. Ein Geschlecht sind 25 Jahre.

Das heißt, mit all dem, was wir erlebt haben und was wir als nachkommende Generation - auch was die Zukunftsgestaltung anbelangt - zu verantworten haben, werden wir noch viele Jahrzehnte in unserem wiedervereinigten deutschen Vaterland erleben, dass sich diese Sünden auswirken. Wir müssen gemeinsam daran arbeiten, dass diese Teilung des Landes in den vielen statistischen Parametern überwunden wird. Das ist unser politisches Ziel; das eint zumindest die meisten der hier im Parlament sitzenden Demokratinnen und Demokraten und die Bevölkerung, die das dringend wünscht, natürlich auch.

(Zustimmung bei der CDU, bei der SPD, bei der Linken, bei der FDP und bei den GRÜNEN)

Wir wissen auch, wie die objektiven Faktoren waren. Sie haben ein Stichwort geliefert: Die Wirtschaftskraft des mitteldeutschen Wirtschaftsraumes, der im Wesentlichen auf der Fläche des heutigen Sachsen-Anhalts zu finden war, war bis 1945 größer als im Ruhrgebiet. Große Teile des nordrhein-westfälischen Wirtschaftsraums werden durch das Ruhrgebiet bestimmt, und daran merkt man, was hier historisch passiert ist.

Bezogen auf Frau Tarricone möchte ich sagen: Ja, wir haben die Vorteile durch die friedliche Revolution und durch die Wiedervereinigung erleben können. Wenn wir 1989 kurz vor dem Zusammenbruch der Wirtschaft und des gesamten Staatsgebildes nicht eine Möglichkeit gehabt hätten, der Bundesrepublik Deutschland in der alten Struktur beizutreten, dann wären Chaos und eine ganz schlimme Situation für uns entstanden. Wir können heute noch dankbar sein, dass wir diese Möglichkeit hatten. 

(Zustimmung bei der CDU, bei der SPD und bei der FDP)

Ich kenne noch Zeiten in den 1990er-Jahren - Sie wissen, was ich beruflich schon alles gemacht habe  , als die Hälfte der Bevölkerung hier in Sachsen-Anhalt nicht in originärer Arbeit war. 25 % waren viele Jahre lang in der echten Arbeitslosigkeit, und die andere Hälfte der nicht in originärer Arbeit Befindlichen war in Maßnahmen: ABM, § 249h AFG, Fortbildungen, Umschulungen usw.

Wir haben uns faktisch in eine Vollbeschäftigung hineingearbeitet, auch durch viele Investitionen, die getätigt wurden, haben aufgeholt, haben viel versucht, selbst zu gestalten, aber eben auch im deutschen und europäischen Kontext und mit einer Weltoffenheit, die internationale Konzerne hier hat ansiedeln lassen. 

Entsprechend haben wir die Struktur, die wir heute vorfinden, die immer noch Unterschiede im Mittelwert zu den westlichen, nördlichen und südwestlichen Bundesländern aufweist. Aber die Lücke schließt sich. Unabhängig davon, wie lange es noch dauert, haben wir heute einen Wohlstand, der nach wie vor auch im europäischen Kontext einzigartig ist, vor allen Dingen, was die Sozialstaatsstrukturen anbelangt. Diese Strukturen funktionieren, und dies zeigt, dass in Deutschland eine Solidarität praktiziert wird. Diese führt auch dazu, dass die Last, die wir im Osten nach 1945 mit einer weiteren Diktatur tragen mussten, sozialpolitisch ausgeglichen wird; man sieht das an den Transfers in alle Sozialversicherungssysteme, wodurch wir letztlich auch durch die gesamtdeutsche Bevölkerung entsprechend getragen werden. 

Das ist nicht so zu verstehen, dass wir alimentiert werden und dass wir Bittsteller sind, sondern das ist die geschichtliche Verantwortungsübernahme des deutschen Volkes für seine eigene Vergangenheit. Diese Verantwortung ist übernommen worden, und deswegen ist dieser deutsche Weg, den wir in den letzten 35 Jahren gegangen sind, einzigartig und wird international bewundert.

(Zustimmung bei der CDU, bei der SPD und bei der FDP)

Jetzt zu einigen Stichworten, weil wir auch fokussieren, wie es jetzt weitergeht: Wir sind in der Regierungsbildung; die ist kompliziert genug. Sie, Herr Meister, durften dreieinhalb Jahre daran mitwirken, dass der Lückenschluss möglichst beschleunigt passiert. Inwieweit - das werden die Historiker irgendwann einmal aufschreiben - Ihnen das gelungen ist, muss man sehen.

(Siegfried Borgwardt, CDU, lacht)

Jetzt hat Sie der Wähler aus der Verantwortung genommen; das heißt aber längst noch nicht, dass in Berlin eine Koalition zustande gekommen ist. Aber die Papiere, die wir jetzt durchgängig lesen können, sind hoffnungsvoll im Sinne eines vernünftigen Kompromisses, damit vieles, was jetzt auf der Tagesordnung steht und was international und europäisch von uns erwartet wird, sukzessive lösbar ist.

Wie werden wir versuchen, unsere Interessen entsprechend einzubringen und sicherzustellen, dass wir vorhandene Handlungsbedarfe gut abgearbeitet sehen? - Nach wie vor haben wir eine Ministerpräsidentenkonferenz Ost - nicht als Partikularinstrument und um zu zeigen, dass die Ossis sich noch gesondert treffen müssen. Nein, es geht darum, dass wir diese, auch statistisch benennbaren, Besonderheiten immer wieder in die politische Gesamtdiskussion werfen, eigene Strategien entwickeln und schauen, wie wir Spezifika des Ostens, die durchaus auch Stärken sein können, auch aus der historischen Erprobung und Erfahrung heraus weiterhin fruchtbar machen.

Ich denke da z. B. auch an die Dinge, die von Frau Pähle mit verhandelt wurden, als es darum ging, den ländlichen Raum mit medizinischen Angeboten und entsprechenden Versorgungsstrukturen zu versehen. Dabei geht es darum, den Unterschied zwischen Stadt und Land, der bei uns in Sachsen-Anhalt besonders stark ausgeprägt ist, schließen zu helfen und neue Wege zu gehen, wobei wir auch Erfahrungen aus früheren Zeiten anwenden können. Das ist, wie gesagt, die Stärke, ohne das schönreden zu wollen. Es sind einfach praktikable Elemente, die wir dabei in die politische Diskussion einwerfen wollen.

Nach 35 Jahren stellt sich natürlich zu Recht die Frage: Brauchen wir einen Ostbeauftragten? - Dazu muss ich klar sagen, mit mehr oder weniger Durchgriff war dieses Instrument, diese Stelle in einer Bundesregierung zumindest hilfreich. Wenn ich an die letzten dreieinhalb Jahre denke, hatten wir mit Carsten Schneider einen sehr guten Ostbeauftragten. Er hat sich sehr gut für uns engagiert, sich sehr gut mit uns abgestimmt, war in jeder Ministerpräsidentenkonferenz Ost dabei. Wir sind zusammen strategisch weit gekommen, in Sachsen-Anhalt sieht man das unter anderem am Zukunftszentrum in Halle und an vielen anderen Sachen, die ich benennen könnte.

Genauso sind wir jetzt in allen Verhandlungsgruppen dabei, um für uns existenzielle Themen zu sichern. Das beginnt - oder das ist zumindest in den Papieren festgelegt - beim Wegfall der Speicherumlage für Gas, damit unsere chemische Industrie nicht abwandert oder in ihrer Existenz gefährdet wird. So könnte ich auch für andere Wirtschaftsbereiche bis hin zur Automotive-Branche entsprechende Beispiele bringen, aber das führte jetzt zu weit.

Nach 35 Jahren stellt sich die Frage: Ist das zu prolongieren mit dieser Position? - Es gibt Argumente dafür und dagegen. Eigentlich müssten wir nach 35 Jahren sagen, dass wir mit, wenn man Berlin hinzurechnet, fast 15 Millionen Einwohnern eine Region mit Besonderheiten sind, die entsprechend der Proportion ihres Bevölkerungsanteils an der gesamtdeutschen Bevölkerung im Kabinett mit strategischen Ressorts versehen sein muss. Damit könnten wir über Mitzeichnung und Steuerung von Kabinettsbeschlüssen, die im Wesentlichen einstimmig erfolgen, Politik direkt am Kabinettstisch machen. Das wäre die Ideallinie, die ich persönlich auch präferiere.

(Zustimmung von Frank Bommersbach, CDU)

Sollte es dazu nicht kommen, ist das Minimum, das wir anstreben müssen, eine weitere, gute Besetzung und Ressortierung eines Ostbeauftragten. Die Andockung an das Bundeskanzleramt war richtig und hatte gegenüber früheren Versuchen, das über bestimmte Fachressorts zu machen, den Vorteil, dass der direkte Zugang zum Bundeskanzler und zum Chef des Kanzleramts immer gewährleistet war - unabhängig davon, dass er kein eigenes Budget und keine explizite Stimme im Kabinett, wo bestimmte Sachen eingebracht oder ausgebremst werden können, hatte.

Da die Ressortfragen und die entsprechenden Personalfragen erst ganz am Ende von erfolgreichen Koalitionsverhandlungen stehen, ist abzuwarten, was sich fachinhaltlich anbietet. Es ist auch eine Frage des Personals, das wir in Ostdeutschland anzubieten haben, um für ganz Deutschland in Europa und weltweit wirksam eine gute Ressortbesetzung sicherzustellen, und das unsere Interessen vertritt. Auch das muss in den entsprechenden Parteien und von den Koalitionspartnern besprochen werden, um zu einer guten Entscheidung zu kommen.

Wir sind zumindest bemüht, all das mit in den Blick zu nehmen und das, was Sie, Herr Meister, wünschen, positiv fortzusetzen - auch ohne GRÜNE. Aber Sie wissen, wir sind gemeinsam in einer sozialen, ökologischen Marktwirtschaft unterwegs. An der Ökologie kommt keiner vorbei, das sehen Sie auch an unserem Grundsatzprogramm. Wir waren immer schon für die Bewahrung der Schöpfung, weil das auch in der Bibel steht.

(Zustimmung bei der CDU)

Letzte Bemerkung. Durch die Intervention von Frau Tarricone ist mir bewusst geworden, dass es nicht sinnvoll ist, diese Diskussion erstens larmoyant und zweitens aus einer defensiven Position heraus zu führen. Vielmehr haben wir gezeigt, dass wir - durch die Zeit der politischen Revolution und durch das, was wir aufgebaut haben - weiterhin selbstbewusst unsere Zukunft im wiedervereinigten Deutschland gestalten können. Das muss unser Ansatz sein.

(Zustimmung bei der CDU, bei der SPD und bei der FDP)

Dabei hilft uns auch das System selber, weil es Chancen eröffnet, weil es uns freiheitliche Möglichkeiten eröffnet, etwa um sich als Unternehmerin oder Unternehmer ins Rennen zu werfen und die soziale Marktwirtschaft voll zu nutzen - auch aus unserer eigenen Bevölkerung heraus. Viele machen das tagtäglich und kämpfen dabei um den wirtschaftlichen Erfolg. Das muss verstärkt werden und mit diesem Selbstbewusstsein müssen wir auch in die nächste Legislaturperiode gehen. 

Es wird eine entscheidende Legislaturperiode sein. Wer sich die Wahlergebnisse anguckt, sieht auch dort die DDR-Grenze bis auf den Zentimeter genau abgebildet. Das hängt nicht damit zusammen, dass wir hier eine andere Spezies sind. In gewisser Weise sind es unterschiedliche Erwartungen, die die Menschen an den Staat haben. Diese mögen im Osten etwas überzogener sein als im Westen, weil wir unsere eigenen Erfahrungen haben und vieles in den letzten 35 Jahren, die wir hinter uns haben, durch den Staat aufgefangen werden musste. 

Aber einzig das Prinzip der Subsidiarität wird uns in die Lage versetzen - von den kommunalen Selbstverwaltungsebenen bis auf die Landesebene  , dass wir aus den sogenannten neuen Bundesländern, die keine neuen Länder sind, heraus den Stand in diesem Jahrhundert erreichen, damit das 20. Jahrhundert mit all seinen Tiefen, mit all seinen Brutalitäten zumindest nicht mehr in Statistiken abgebildet wird. Vielmehr brauchen wir das entsprechende Bewusstsein, damit wir immer wissen: Das, was in der Menschheitsgeschichte schon einmal war, kann immer wieder passieren; es kann immer wieder vorkommen, wenn wir als Demokratinnen und Demokraten nicht aufpassen.

Dazu sind wir aufgerufen. Ich möchte uns zudem einladen, weiter erfolgreich für das Land Sachsen-Anhalt zu kämpfen. - Herzlichen Dank.