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Plenarsitzung

Transkript

Susan Sziborra-Seidlitz (GRÜNE):

Vielen Dank. - Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Bürger-geldreform der Ampel-Koalition war eines ihrer großen, der wichtigen und nötigen Projekte ihrer Regierungszeit. Dabei galt noch das Versprechen der Fortschrittskoalition. Für die SPD und, ehrlich gesagt, ein bisschen auch für uns Bündnisgrüne war es wahrscheinlich die Hei-lung des Traumas der Agenda 2010. Endlich sollte Hartz IV überwunden, der Verrat an der ureigenen Klientel gesühnt und korrigiert werden, so der Anspruch. Durch die CDU wurde dieses Vorhaben im Bundesrat arg gerupft, aber es war trotzdem weiterhin mehr als nur al-ter Wein in neuen Schläuchen. Das Bürgergeld hat Hartz IV überwunden. 

Trotz des CDU-Angriffs war das Bürgergeld für die Grundsicherung in vielerlei Hinsicht eine nötige Frischzellenkur. Das Bürgergeld steht für die Abkehr von Misstrauen und Gängelung. Im Vordergrund stehen nun Förderung, Vertrauen und Eigenverantwortung. Eine anfängliche sechsmonatige Vertrauenszeit mit Sicherung der Wohnung und des Eigentums war vorgese-hen ohne Sanktionsandrohung, damit statt Schockstarre nach dem Jobverlust ein Freiraum gewährt wird, um sich neue Perspektiven zu erarbeiten. Das, verehrte Liberale, ist positiv verstandene und staatlich flankierte Freiheit. Mit der CDU im Bundesrat war das damals so nicht zu machen. 

Mit der Bürgergeldreform musste übrigens auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts umgesetzt werden, das forderte, die Totalsanktionierungen als nicht verfassungsgemäß ab-zuschaffen. Das Existenzminimum ist unverbrüchlich. Obdach, Essen auf dem Tisch, minima-le soziale und kulturelle Teilhabe sind Ansprüche, die sich direkt aus der Menschenwürde und dem Sozialstaatsgebot ableiten und die ganz bestimmt nicht vom Wohlverhalten einer Person abhängen. 

Wer das negiert, der hat das Prinzip der sozialen Marktwirtschaft nicht verstanden. Die vornehmste Aufgabe des Sozialstaates ist es, den Menschen die Existenzangst zu nehmen. Konsequent zu Ende gedacht braucht es dazu ein Grundeinkommen, zumindest eine garantierte Haltelinie, damit niemand fürchten muss, bei drohender oder erlebter Arbeitslosigkeit ins Nichts zu fallen. Nicht mehr und nicht weniger sollte das Bürgergeld leisten.

Diese Garantie soll jetzt zerschlagen werden. Sie wurde schon von der Ampel selbst im Zuge des Zwei-ten Haushaltsfinanzierungsgesetzes 2024 unterlaufen, wonach die hundertprozentige Sanktionie-rung des Regelsatzes wiedereingeführt wurde. Aber die im Sondierungspapier vereinbarten Verschär-fungen sind noch einmal ein anderes Kaliber.

(Zuruf)

Sie sind wahrscheinlich nur ein Vorgeschmack auf die soziale Kälte eines CDU-Kanzlers Merz. Wenn man in der CDU und vielleicht auch in Teilen der SPD wirklich glaubt, nur die nackte Existenzangst könne manche Menschen in bestimmte Jobs zwingen, dann sollte man vielleicht einmal fragen, was für Jobs das eigentlich sind.

Wenn die große asoziale Figur, der große Buhmann der Nation in ihren Augen der vermeintlich faule Arbeitslose ist, was ist dann eigentlich mit den sogenannten Privatiers in Deutschland, Menschen, die sich dank geerbter Wohnungen und Häuser oder Aktiendepots ebenfalls eine arbeitsfreie Existenzsi-cherung genießen dürfen?

(Zuruf von Jörg Bernstein, FDP - Konstantin Pott, FDP, meldet sich)

Das Glück der Erbschaft ist also moralisch in Ordnung, das Pech der Arbeitslosigkeit aber nicht. Auch von Mieteinnahmen zu leben, heißt, auf Kosten der Arbeit anderer zu leben. Solche Einkünfte wer-den nicht umsonst als passive Einkommen bezeichnet. Aber das eine wie das andere muss eine Ge-sellschaft meines Erachtens in gewissen Grenzen einfach aushalten. Auch der sogenannte Totalver-weigerer darf nicht hungern und frieren. Ein Sozialstaat, der diesen Namen verdient, droht nicht mit Hunger oder Wohnungslosigkeit.

(Beifall bei den GRÜNEN - Zuruf von Eva von Angern, Die Linke)

Lassen Sie uns das in einen etwas größeren Rahmen stellen. Es ist schon spannend. Kaum stottert der Wirtschaftsmotor ein wenig, kommen die Wirtschaftsvertreter mit ihren Forderungen aus der De-ckung. Was wir da alles lesen müssen. Abschaffung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall am ersten Krankheitstag; damit fing es an. Jetzt kommt die Streichung von Feiertagen, die Erhöhung des Ren-teneintrittsalters, die Streichung des Elterngeldes.

Schon konkret vereinbart ist die Aufweichung der Höchstarbeitszeitregelung und, wie gesagt, die Streichung des Bürgergeldes. Um den Klassenkampf von oben ist es, ehrlich gesagt, in letzter Zeit et-was ruhig gewesen.

In Zeiten des Fachkräftemangels hat man sich ein bisschen bedeckt gehalten. Man hat sich ein biss-chen hilflos geäußert in der Diskreditierung der angeblich arbeitsscheuen Generation Z. Doch sobald man Morgenluft wittert, kommen die Vorschläge aus den Giftschränken der Wirtschaftsverbände und Unternehmenslobbys wieder auf den Frühstückstisch der Nation. Ein erster Erfolg der Moralkeu-le gegen vermeintlich arbeitsscheues Gesindel: Jetzt soll der Vermittlungsvorrang wiedereingeführt werden. - Was für ein Irrsinn.

(Zuruf von der AfD)

Jetzt soll wieder gelten, dass jeder Job, sei er noch so schlecht bezahlt, sei er noch so perspektivlos, sei er noch so jenseits der Qualifikation des Betroffenen, angenommen werden muss. Hier hat die Ampelkoalition endlich umgesteuert. Statt kurzfristiger Vermittlung um jeden Preis wurde auf Fort-bildung, Ausbildung und Qualifizierungsmaßnahmen gesetzt. Warum? - Damit die Integration in den Arbeitsmarkt auch wirklich nachhaltig gelingt und die Menschen eine Chance auf mehr haben als mies bezahlte Jobs in Ausbeuterbuden.

Jetzt aber sollen arbeitslose Menschen wieder wie Ware im Schlussverkauf behandelt werden. Alles muss raus. Der Vorrang der Vermittlung um jeden Preis ist nicht nur eine Zumutung für die Klienten, sondern auch sträflich kurzsichtig; denn diese Jobs sind Drehtürjobs. Das Matching zwischen Job und Klient passt im Zweifel gar nicht. Die Arbeitsaufnahme ist dementsprechend nicht nachhaltig.

Gute Arbeitsmarktpolitik heißt nicht, Menschen in Niedriglohnjobs ohne Entwicklungs- und Auf-stiegschancen fernab der eigenen Qualifikation und Neigung zu zwingen, inklusive der Zumutbarkeit von bis zu drei Stunden Pendelzeit täglich. Gute Arbeitsmarktpolitik bedeutet, den Menschen indivi-duelle Angebote zu machen, ihnen auch berufliche Umorientierungen sowie Aus- und Weiterbildung zu ermöglichen, also Wege aufzuzeigen, statt Menschen in erwerbsbiografische Sackgassen zu zwin-gen.

(Zustimmung bei den GRÜNEN - Beifall bei der Linken)

Statt nach unten zu treten und Arme gegen noch Ärmere auszuspielen   eines der Lieblingsspiele der deutschen Konservativen   schaue ich lieber nach oben.

(Zuruf von der AfD)

Was ist mit der Erbschaftssteuer, einer Vermögenssteuer, dem Abbau klimaschädlicher Subventio-nen, der strengen Verfolgung von Steuerhinterziehung,

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der Linken - Zuruf von Guido Kosmehl, FDP - Weitere Zurufe von der FDP)

der rückhaltlosen Aufklärung des Cum-Ex-Skandals? All dies sind Baustellen für eine gerechte Gesell-schaft, für eine faire Verteilung von Ressourcen und Möglichkeiten.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der Linken - Zurufe von der AfD und von der Linken)

Auch das Schuldenpaket sollte uns veranlassen, weniger auf die Ausgabenseite der Sozialpolitik als auf die Einnahmenseite des Staates zu schauen.

(Daniel Roi, fraktionslos: Ja!)

Eine Grundsicherung, die Würde sichert, nachhaltige Arbeitsförderung, gezielte Arbeitsvermittlung,

(Zuruf von der AfD)

Vertrauen in die Eigenverantwortung des Einzelnen, dafür stehen wir Bündnisgrünen.

(Zuruf von Kathrin Tarricone, FDP)

Wofür Herr Merz sozialpolitisch steht, weiß man nicht. Es ist zu befürchten, dass er für nicht sehr viel steht.

(Guido Kosmehl, FDP: Nach Eignung und Befähigung und nicht irgendwelche Ämter kaufen! - Zuruf von Guido Heuer, CDU)

Ich hoffe, dass die SPD das alles nicht mitträgt. Ganz ehrlich, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich kann Ihre Zwangslage nachvollziehen.

(Zuruf von Guido Heuer, CDU - Ministerin Eva Feußner: Hört doch auf, hier zu arbeiten!)

Zu Zeiten der Ampel haben auch wir Bündnisgrünen mit der Faust in der Tasche vielem schweren Herzens zugestimmt. Realpolitik in Regierungsverantwortung, das weiß ich wohl, geht manchmal nicht anders.

(Thomas Krüger, CDU: Das sehen wir genauso!)

Verantwortung heißt auch Kompromiss. Und Kompromisse sind auch ein Wert an sich, weil sie Legi-timation schaffen zwischen Parteien, die mit unterschiedlichen Zielen angetreten sind und nun ge-meinsam das Land regieren sollen. Aber verleugnen Sie nicht Ihr soziales Gewissen. Wie Boris Pistori-us nach den Sondierungsgesprächen treffend feststellte, fehlt dieses Gewissen so manch einem in den Reihen der CDU. Da liegt es nun an Ihnen, werte SPD, zu retten, was zu retten ist.

(Oh! bei der SPD - Zuruf von Chris Schulenburg, CDU)

Und es liegt an uns als nicht mitverhandelnder Gesellschaft, Ihnen dabei den Rücken zu stärken. Das werden wir tun; das verspreche ich Ihnen. Wir werden das auch einfordern. - Vielen Dank.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der Linken - Ministerin Eva Feußner: Na aber!)


Vizepräsidentin Anne-Marie Keding: 

Einen Moment, Frau Siborra Seidlitz, es gibt eine Intervention von Herrn Dr. Tillschneider und eine Frage von Herrn Pott. - Zuerst bitte Herr Dr. Tillschneider.


Dr. Hans-Thomas Tillschneider (AfD): 

Frau Sziborra-Seidlitz, was Sie als menschenwürdiges notwendiges Minimum definieren, ist, glaube ich, für 80 % der Menschen auf der Welt ein Wohlstandsziel, von dem sie träumen. Deshalb möchte ich Sie vor diesem Hintergrund fragen: Was machen Sie eigentlich, wenn die Standards, die aus Ihrer üppigen Auslegung des Begriffs der Menschenwürde folgen, nicht mehr finanzierbar sind?

(Zuruf von Eva von Angern, Die Linke)

Was machen Sie, wenn das nicht mehr finanzierbar ist? Sie leiten alle möglichen Ansprüche ab. Was ist, wenn man es nicht mehr bezahlen können? Was passiert dann?

(Unruhe)

Wissen Sie, das erinnert mich an ein Gedicht von Bertolt Brecht, das er einmal in ironischer Absicht geschrieben hat mit dem Refrain „Er hat ein Recht, das ist nicht schlecht“. Das sage ich auch: Er hat ein Recht, das ist nicht schlecht.

(Zurufe von der CDU - Eva von Angern, Die Linke: Oh! Bitte nicht mit Bertolt Brecht kommen!)


Susan Sziborra-Seidlitz (GRÜNE): 

Es ist schön, dass Sie Bertolt Brecht zitieren. Darauf möchte ich gern antworten. „Reicher Mann und armer Mann standen da und sah‘n sich an. Und der Arme sagte bleich, wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.“

(Beifall bei den GRÜNEN - Oh! bei der AfD)


Vizepräsidentin Anne-Marie Keding: 

Wir kommen zur Frage von Herrn Pott. - Herr Pott, bitte.


Konstantin Pott (FDP): 

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kollegin, Sie haben Privatiers erwähnt, die ihren Lebensunter-halt aus passiven Einkommen, z. B. aus Immobilien oder Aktien, bestreiten. Ich möchte Sie fragen, ob Sie einen Unterschied sehen zwischen Menschen, die ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten können und auch Steuern zahlen, unabhängig davon, woher das Einkommen kommt, und Menschen, die dauerhaft von Sozialleistungen leben. Wenn nein, warum nicht?


Vizepräsidentin Anne-Marie Keding: 

Frau Sziborra-Seidlitz.


Susan Sziborra-Seidlitz (GRÜNE): 

Selbstverständlich gibt es einen Unterschied; das habe ich auch in meiner Rede gesagt. Der Unter-schied zwischen denen, die von ererbtem Einkommen leben, und denen, die das nicht können, liegt in der Regel darin, dass die einen Eltern haben, die zufällig reich sind und ihnen etwas vererbt haben und die anderen eben nicht.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der Linken - Zuruf: Vielleicht haben die ja tüchtig gearbeitet! Ehrlich mal! Leute, Leute! - Zuruf: Keine Argumente! - Weitere Zurufe von der CDU und von der AfD - Zuruf von Eva von Angern, Die Linke)