Tagesordnungspunkt 5
Attraktivität des ÖPNV steigern - „365-Tage-Tickets“ modellhaft erproben - Azubi-Ticket evaluieren
Antrag Fraktionen CDU, SPD und FDP - Drs. 8/1034
Alternativantrag Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Drs. 8/1055
Alternativantrag Fraktion DIE LINKE - Drs. 8/1062
Frau Tarricone bringt den Antrag der Koalitionsfraktionen ein. - Sie haben das Wort.
Kathrin Tarricone (FDP):
Es ist ein frustrierendes Bild, aber ich gebe mir trotzdem Mühe, Sie für dieses Thema zu interessieren, weil Sie diejenigen sind, die schon jetzt interessiert zuhören.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag, den ich heute für die Koalitionsfraktionen einbringen darf, enthält zwei Maßnahmen, die eines gemeinsam haben: Es soll geprüft werden, ob die Nutzung des ÖPNV in Sachsen-Anhalt mit vergünstigten Tarifen attraktiver werden kann, wobei genau genommen mit dem Azubiticket mindestens in gleichem Maße die Attraktivität der Berufsbildung durch ein preisgünstiges Nahverkehrsangebot steigen soll.
Das Azubiticket soll einen Nachteil gegenüber einem Hochschulstudium ausgleichen. Hochschulstudenten kommen nämlich in den Genuss eines Semestertickets. Dieses Ticket lässt sich allerdings nicht einfach auf die Berufsausbildung übertragen, da es bereits an der Grundvoraussetzung einer Körperschaft, die ihre Mitglieder zur Abnahme eines in der Tat sehr preiswerten Tickets verpflichten kann, fehlt. Dabei ist es egal, ob sie es nutzen wollen oder nicht. Das Geld dafür überweisen die Studierenden gemeinsam mit Zahlungen für alle möglichen anderen Dienstleistungen mehr oder weniger zähneknirschend mit einem Semesterbeitrag, ohne den ein Studium nicht angefangen oder fortgeführt werden kann.
Für Auszubildende fehlt ein vergleichbares System und es darf bezweifelt werden, dass es die meisten gern hätten. Der Landtag und die Landesregierung haben sich deshalb in der vergangenen Legislaturperiode entschieden, stattdessen für zwei Jahre in einem Modellversuch ein subventioniertes Ticket als Angebot an die Azubis einzuführen. Im Koalitionsvertrag haben wir vereinbart, das Azubiticket weiterzuführen. Im Haushaltsplan 2022 werden wir gemeinsam mit den Koalitionspartnern die erforderlichen Mittel dafür bereitstellen. Gefördert werden freilich nicht die Azubis direkt, sondern die Aufgabenträger für den Nahverkehr.
Im vorliegenden Antrag setzen wir zu diesem Zweck einen Auftrag um, den der Landtag der Landesregierung in der vergangenen Legislaturperiode mit auf den Weg gegeben hat, nämlich das Ticket zu evaluieren. In der Richtlinie ist dafür unter anderem eine eingehende Marktforschung vorgesehen.
Einen Punkt, der uns als Freie Demokraten dabei besonders interessiert, möchte ich an dieser Stelle kurz benennen. Das Azubiticket ist als Netzkarte für den gesamten Nahverkehr in Sachsen-Anhalt angelegt. Dafür sind 50 € im Monat ganz sicher ein sehr günstiger Preis. Thüringen hat übrigens sein ähnliches Angebot gerade auf 60 € erhöht.
Für Auszubildende in Sachsen-Anhalt, die regelmäßig nur eine bestimmte Strecke fahren und im Sommer vielleicht auch mal aufs Moped umsteigen, sind die derzeit 600 € im Jahr aber eine ganze Menge Geld. Vor der Einführung des Azubitickets ging der damalige Verkehrsminister Webel von tatsächlichen Kosten, die vom Land auszugleichen wären, in Höhe von ca. 180 € im Monat aus.
Nimmt man wiederum den Thüringer Verbund als Anhaltspunkt, sind mittlerweile eher 200 € realistisch. Hinzu kommt eine Anreizförderung für die Aufgabenträger des Öffentlichen Straßenpersonennahverkehrs außerhalb der Verbünde, die mit 8 € im Monat für jede Schülerin und jeden Schüler in ihrem Gebiet einen Anreiz für die Anerkennung des Tickets erhalten.
Das Land und die in Ausbildung befindlichen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler der Zukunft kostet das Ticket also derzeit gut 2 200 € pro Jahr. Man kann deshalb schon die Frage stellen, ob das für alle Beteiligten ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis ist.
(Beifall bei der FDP - Zustimmung bei der CDU)
Für diejenigen, die landesweit nur gelegentlich unterwegs sind, lohnt es sich bspw. im Mitteldeutschen Verbund erst ab einer Pendlerstrecke mit mehr als vier Zonen.
Von der Evaluierung erhoffe ich mir ein realistisches Bild des Nutzerverhaltens, mit dem die NASA GmbH dann mit den Aufgabenträgern in die Verhandlung um die Fortführung gehen kann. Wir wollen die Erfahrungen mit dem Azubiticket zudem in Modellversuchen stark vergünstigten ÖPNV-Jahresabos für alle Nutzergruppen einfließen lassen.
Mit dem vorliegenden Antrag setzen wir als Freie Demokraten gemeinsam mit der Union und der SPD auch diese Vereinbarung aus unserem Koalitionsvertrag um. Allen drei Partnern war es dabei ausgesprochen wichtig, dass dieser Versuch die Struktur unseres Landes berücksichtigt. Dass ein sehr preisgünstiges Ticket im urbanen Raum ziemlich erfolgreich sein dürfte, ist zwar nicht unbedingt garantiert, aber im wahrsten Sinne des Wortes naheliegend. Relativ kurze Wege, ein großes Fahrradpotenzial und damit einhergehend eine enge Taktung rund um die Uhr sprechen dort ohnehin für den ÖPNV. Zum Gebot der Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Stadt und Land gehört es aber auch, dass ein solches Ticket im ländlichen Raum ausprobiert werden muss.
Mit dem Titel „365-Tage-Ticket“ nehmen wir als Koalition Bezug auf die verkehrspolitische Debatte zu diesem Thema. Wir wollen aber gleichzeitig keine nominelle Höhe für alle Orte und alle Zeiten vorwegnehmen. Klar ist, dass es sich um ein sehr preiswertes Mobilitätsangebot für das ganze Jahr handeln soll.
Die Idee, die Nutzung des ÖPNV durch ähnliche, mitunter gar kostenlose Tickets zu steigern, ist auch in Sachsen-Anhalt nicht neu. In Köthen wurde im Jahr 2001 der Stadtverkehr für die Nutzer kostenlos. Ein Stück weit steckte dahinter auch die Idee, dass das ganze System des Ticketings und der Kontrolle in keinem guten Verhältnis zu den damit verbundenen Einnahmen steht. Und auch vor 20 Jahren sah man lieber volle als leere Busse. Tatsächlich erhöhten sich die Fahrgastzahlen zunächst sehr deutlich. Letztendlich konnten die Kosten nach zwei Jahren aber nicht mehr gedeckt werden. Das Modellprojekt wurde ohne sonderlich großes öffentliches Aufsehen nach zwei Jahren beendet.
In Monheim am Rhein gibt es seit dem Jahr 2019 einen für die Nutzer kostenlosen Nahverkehr. Die Situation des städtischen Haushalts dort ist allerdings eher nicht typisch für die Kommunen in Sachsen-Anhalt.
Die Idee eines 365-€-Tickets stammt aus Wien. 1 € pro Tag diese Zahl ist natürlich symbolisch. Der Preis an sich ist es nicht. Die Fahrgäste sollen einen ausgesprochen günstigen, aber auch einen nicht vernachlässigbaren Beitrag leisten. Das ist übrigens auch deswegen wertvoll, damit die Fahrgäste als Kunden mit Ansprüchen auftreten können, und nicht als Empfänger einer staatlichen Leistung, mit der sie sich zufriedenzugeben haben.
Die Aufgabenträger, die sich für die Modellversuche bewerben, sollten sich deshalb auch um ein Angebot bemühen, das nicht nur preislich, sondern auch qualitativ interessant ist. Denn das ist die Herausforderung, vor die Träger öffentlicher Verkehre mit solchen Maßnahmen gestellt werden. Es besteht die Chance, Autofahrer von der häufigen Nutzung des ÖPNV zu überzeugen. Übervolle Fahrzeuge und unpraktische Umsteigeverbindungen dürften aber auch sehr preisbewusste Autofahrer schnell wieder abschrecken.
Der Verband der Verkehrsunternehmen hat sich deshalb immer wieder kritisch mit Forderungen zu 365-€-Tickets und dem kostenlosen ÖPNV auseinandergesetzt. Die Argumente des VDV, in dem die Unternehmen des ÖPNV eine maßgebliche Rolle spielen, sind nach wie vor stichhaltig. Zuallererst billigen oder kostenlosen und zugleich attraktiven ÖPNV kann es nun einmal nicht geben. Möglich sind allenfalls öffentliche Verkehre, bei denen die Finanzierungsverantwortung im Wesentlichen nicht von den Nutzern getragen wird. Selbstverständlich besteht dabei die Gefahr, dass das den Zusammenhang zwischen Kassenlage und ÖPNV-Angebot weiter verstärkt. Es ist also völlig zutreffend, dass bei erfolgreichen Modellen wie in Wien erst das Angebot verbessert wurde, bevor das 365-€-Ticket kam.
Das hervorragende Wiener U-Bahn-Netz, das im Gleichschritt mit der Entwicklung der Stadt wächst, wird weltweit gelobt. Für den Ausbau der U-Bahn in den 1960er-Jahren wurde die sogenannte Dienstgeberabgabe eingeführt, landläufig auch als U-Bahn-Steuer bekannt. Arbeitgeber müssen 2 € pro Woche für die Arbeitnehmer unter 55 Jahren entrichten, die sie in Wien beschäftigen. Damit wird die Hälfte des Linienausbaus finanziert, die die Gemeinde Wien übernehmen muss. Für den Betrieb des öffentlichen Nahverkehrs kommt aber noch ein Zuschuss von über 300 Millionen € im Jahr hinzu.
Mit der Einführung des 365-€-Tickets erhöhte sich in Wien die Nutzung des ÖPNV deutlich, wie der VDV anmerkte, allerdings nicht zulasten des Autos. Vor allem legten die Menschen anschließend sehr viel weniger Strecken zu Fuß zurück. Kommunen, die sich um solche Modellprojekte bewerben, müssen sich insofern auch darüber Gedanken machen, wie sie den Umstieg für Autofahrer attraktiv machen können. Für uns Freie Demokraten ist klar, dass es nicht darum gehen kann, sie einfach aus dem Stadtzentrum zu vergraulen. So würden Städte weder ihrer Verantwortung gegenüber ihren Bürgern, die auf das Auto angewiesen sind, noch ihrer Verantwortung gegenüber dem Umland gerecht.
(Beifall bei der FDP)
Ich erwarte, dass wir mit den beiden Maßnahmen unseres heutigen Antrages viele Erkenntnisse für die Verkehrspolitik in Sachsen-Anhalt gewinnen. Ich freue mich, diese dann gemeinsam mit Ihnen hier im Plenum und vor allem im Ausschuss für Infrastruktur und Digitales zu diskutieren. - Herzlichen Dank.
(Beifall bei der FDP)
Vizepräsident Wulf Gallert:
Frau Tarricone, es gibt eine Frage von Herrn Henke. Wollen Sie die beantworten?
Kathrin Tarricone (FDP):
Ja, ich versuche das. Ich gebe mein Bestes.
Vizepräsident Wulf Gallert:
Dann hat er die Chance, sie zu stellen. - Bitte sehr.
Guido Henke (DIE LINKE):
Frau Tarricone, es ist eine Verständnisfrage. Sie hatten in der vergangenen Woche mit Ihren Koalitionspartnern diesen Antrag öffentlich vorgestellt. In der Presseberichterstattung war zu lesen Sie wurden zitiert , dass Sie eine solche Gesamtstrategie des Landes zur Steigerung der Attraktivität fordern. - Darüber sind wir uns einig.
Der Antrag liest sich aber zu Beginn des Antragstextes so, als würde es diese Gesamtstrategie bereits geben. Denn Sie schreiben, im Mittelpunkt der Gesamtstrategie stehe dies und das. Dazu meine Frage: Ich kenne keine Gesamtstrategie des Landes und würde mir eine wünschen. Und wie ist jetzt der Text zu verstehen? Was gilt nun? Gibt es eine Gesamtstrategie oder gibt es keine?
Kathrin Tarricone (FDP):
Wir sind uns ja darin einig, dass wir gemeinsam versuchen wollen, die Attraktivität des ÖPNV zu verbessern. Deswegen wird es natürlich eine Gesamtstrategie des Landes geben, um diese Attraktivität zu erhöhen. Diese beiden Maßnahmen hier im Antrag sind allerdings konkrete Ansätze, um erst einmal zu gucken, wie kann das eventuell mit einem kostengünstigen Ticket gelingen.
(Zustimmung bei der FDP)
Vizepräsident Wulf Gallert:
Danke. Ich sehe keine weiteren Nachfragen. Wir treten nunmehr in die Fünfminutendebatte ein. - Entschuldigung, Frau Tarricone ich habe es übersehen, wir haben es alle hier vorn übersehen. Die Frau Anger möchte bitte auch noch eine Frage stellen.
Kathrin Tarricone (FDP):
Da ich nach vorn gekommen bin, signalisiere ich auch, dass ich versuche, auch das zu beantworten.
Vizepräsident Wulf Gallert:
Okay. Bitte sehr.
Nicole Anger (DIE LINKE):
Vielen Dank dafür. - Ich glaube, das ist übersehen worden, weil Herr Henke und ich uns wahrscheinlich gleichzeitig gemeldet haben.
Frau Tarricone, Sie sprachen von einem 365-€-Jahresticket. Mich würde interessieren, wie Sie sich den Erwerb des Tickets vorstellen. Wird das ein einmaliger Jahresbeitrag sein, sodass ich einmal 365 € zahlen muss? Ich gehe davon aus, dass man nicht am Tag 1 € zahlt. Oder wird es eine Monatscharge geben? Aber wenn ich dann auf Wien blicke, die ja sowohl das eine als auch das andere haben, ist es deutlich teurer, wenn ich das monatlich finanziere. Wie denken Sie, sollte das in Sachsen-Anhalt laufen?
Kathrin Tarricone (FDP):
Der Antrag sagt ganz klar, dass es ein 365-Tage-Ticket sein soll und dass wir uns noch nicht für jetzt und immer auf diese 365 € festlegen wollen. Ich gehe davon aus, dass im Rahmen der Erprobung, wie es angenommen wird usw. auch die Frage geprüft wird, wie man an das Ticket kommt. Ist das jetzt einfach oder fallen mir die Haare büschelweise aus, weil ich dafür fünf Schritte machen muss. Das wird Teil des Prozesses sein. Das haben wir auf dem Schirm.