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Plenarsitzung

Transkript

Franziska Weidinger (Ministerin für Justiz und Verbraucherschutz): 

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz im Parlamentarischen Rat verkündet. Bereits bei seiner Verkündung war das Grundgesetz ein Grund zum Feiern. Wenn heute gefragt wird, was nach 75 Jahren Grundgesetz bleibt, dann ist diese Frage einfach zu beantworten: Das Grundgesetz bleibt unser sicherer Verfassungskompass, auch wenn mein Vorredner ein anderes Bild zeichnen möchte. 

(Beifall bei der Linken, bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Die breite Anerkennung der im Grundgesetz verankerten Werte sowie der staatsorganisatorischen Grundstrukturen und die Stabilität des verfassungsrechtlichen Rahmens kommen schon darin zum Ausdruck, dass der Verfassungsgeber seit der Verabschiedung des ursprünglich als Provisorium gedachten Grundgesetzes keinen Anlass gesehen hat, es durch einen anderen Verfassungstext abzulösen. 

Ein wahrscheinliches Ereignis wird das von uns gerade gefeierte 75-jährige Jubiläum für die Mütter und Väter des Grundgesetzes nicht gewesen sein. Sie haben das Grundgesetz seinerzeit verabschiedet, um dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben. Dass sich das Grundgesetz über die Zeit als so stabil erwiesen hat, mag auch damit zusammenhängen, dass es dem Verfassungsgeber gelungen ist, einen zeitlos konstanten, sprachlich unfassbar klaren und zugleich für die Berücksichtigung neuer Entwicklungen hinreichend offenen Rahmen zu schaffen. Seit seiner Verabschiedung ist das Grundgesetz mehrfach geändert worden, sein Kern ist aber unverändert geblieben. 

Gerade Jubiläen laden aber auch zum Nachdenken und zum Erinnern ein. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um an die Opfer des SED-Regimes zu erinnern, an die Menschen, die gezwungen waren, ihr Leben ohne Grundrechte zu gestalten. In der Zeit der DDR gab es viele Bürgerinnen und Bürger, die aufgrund ihrer Überzeugungen oder Handlungen drangsaliert, geängstigt, inhaftiert, gefoltert oder getötet wurden. 

Der Beitritt der ostdeutschen Länder zum Geltungsbereich des Grundgesetzes anstelle der Ausarbeitung einer neuen gesamtdeutschen Verfassung brachte zwar gesellschaftliche und dogmatische Diskussionen mit sich und - das muss man zugestehen - versetzt dem einen oder anderen auch heute noch einen kleinen Schmerz, aber ein solches Grundgesetz war im Ergebnis genau das, wonach sich die Bevölkerung in der DDR gesehnt hatte. 

(Zustimmung von Ministerin Eva Feußner)

Von zentraler Bedeutung für den Erfolg des Grundgesetzes ist sein freiheitlicher, die Würde des Menschen in den Mittelpunkt stellender Ausgangspunkt. Der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee hat das bei seinen vorbereitenden Arbeiten zum Grundgesetz so auf den Punkt gebracht: „Der Staat ist um des Menschen willen da und nicht der Mensch um des Staates willen.“ Dem Grundgesetz liegt damit ein Ansatz zugrunde, der sich klar von dem Ansatz totalitärer Regime distanziert, in denen der Staat alles ist und der einzelne Mensch eben nichts. 

Die Entscheidung des Verfassungsgebers, die Würde des Menschen und ihre Unantastbarkeit als obersten Verfassungswert an die Spitze der Grundrechte zu stellen, ist die wichtigste verfassungspolitische Wertentscheidung. Diese Wertentscheidung ist auch ein klares Bekenntnis gegen jede gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. 

(Zustimmung bei der CDU, bei der Linken, bei der SPD, bei der FDP und bei den GRÜNEN)

Die mit der Würde verbundene Freiheit, die das Grundgesetz jedem Einzelnen gewährt, soll nicht dafür missbraucht werden dürfen, andere Menschen verachtend zu behandeln. 

Die Geschichte vor Augen und im Bewusstsein der Gefährdung, denen die Menschenwürde ausgesetzt ist, hat der Verfassungsgeber im Grundgesetz zugleich verankert, dass es Verpflichtung aller staatlichen Gewalt ist, die Würde des Menschen auch zu schützen. Wie dieser Auftrag sind die Grundrechte in ihrer Gesamtheit unmittelbar geltendes, alle drei Staatsgewalten bindendes Recht. Über die Einhaltung des geltenden Rechts wachen die Gerichte. Die rechtsprechende Gewalt ist, wie es im Grundgesetz heißt, den Richtern anvertraut. Für alle Gerichte sind die Grundrechte des Grundgesetzes unmittelbar anzuwendendes Recht der höchsten Regelungsebene. 

Höchstes Gericht für letztverbindliche Entscheidungen und Grundrechtsfragen des Grundgesetzes ist das Bundesverfassungsgericht. Exemplarisch dafür, wie das Bundesverfassungsgericht die Gehalte der Grundrechte herausgearbeitet und zu ihrer Durchsetzung beigetragen hat, ist die Judikatur zu der in Artikel 5 des Grundgesetzes verankerten Meinungsfreiheit. „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten“, heißt es dort im ersten Satz des ersten Absatzes. 

Mit dem Lüth-Urteil von 1959 und der Blinkfüer-Entscheidung aus dem Jahr 1969 hat das Bundesverfassungsgericht Entscheidungen getroffen, die bis heute gewissermaßen zu den Grundfesten des verfassungsrechtlichen Selbstverständnisses in Deutschland gehören. 

Für die Interessierten: In dem sogenannten Lüth-Urteil ging es darum, dass der Namensgeber des Urteils dazu aufrief, den Film eines in der Zeit des Nationalsozialismus durch antisemitische Filme bekannten Regisseurs zu boykottieren. Er betonte, dass sich die deutsche Bevölkerung von der nationalsozialistischen Geisteshaltung abwenden müsse und dass sich dies unmissverständlich auch in der Kulturlandschaft abbilden müsse. Ein solcher Aufruf wurde ihm, Herrn Lüth, zunächst gerichtlich untersagt. Das Bundesverfassungsgericht gab Lüths Verfassungsbeschwerde statt, attestierte ihm eine Verletzung seines Grundrechts auf freie Meinungsäußerung und bekräftigte, dass das Grundgesetz als Wertesystem zu betrachten sei und daher auch auf das Privatrecht, d. h. also auch im Verhältnis von Bürger zu Bürger, und folglich in alle Bereiche ausstrahle. 

Die Blinkfüer-Entscheidung von 1969 ist ein wichtiges Beispiel aus der Rechtsprechung, um sich die durch das Grundgesetz gezogenen Grenzen im Meinungskampf, im Meinungsstreit zu vergegenwärtigen. Der Entscheidung lag eine Forderung des Axel-Springer-Verlages und des Verlages der „Welt“ gegenüber den Hamburger Zeitungshändlern zugrunde, keine Zeitungen zu verkaufen, die sogenannte ostzonale Rundfunk- und Fernsehprogramme abgedruckt hatten. Der mit dem Fall betraute Senat entschied, dass ein Boykottaufruf dann nicht mehr den Schutz der Meinungsfreiheit verdient, wenn in unzulässiger Art und Weise wirtschaftlicher Druck ausgeübt wird. Der Wettbewerb der Meinungen darf also nicht gezielt durch wirtschaftliche Druckmittel ausgeschaltet werden. 

In jüngerer Zeit wird nun vermehrt eine Verengung des Korridors beklagt, in dem Meinungsäußerungen ohne das Risiko nachteiliger Folgen möglich sind. Oftmals wird dabei aber ausgeblendet, dass es um eine gesellschaftliche Sanktionierung im Meinungskampf geht. Werden Menschen wegen von ihnen vertretener Meinungen Opfer von Straftaten, sind Täterinnen und Täter strafrechtlich zur Rechenschaft zu ziehen. Auch wenn Menschen wegen ihrer Meinung in anderer Weise in ihren Rechten verletzt werden, haben die Verletzer damit zu rechnen, sich vor Gericht etwa zivilrechtlich verantworten zu müssen. Im Grundgesetz selbst ist innerhalb dieser Grenzen eine Verengung des Meinungsdiskurses aber nicht angelegt. 

Das Grundrecht der Meinungsfreiheit rechnet, wie das Bundesverfassungsgericht auch notiert hat, zu den vornehmsten Menschenrechten überhaupt, dient dem demokratischen Prozess und ist für ein freiheitliches demokratisches Gemeinwesen konstituierend. Dabei kommt es nicht darauf an, welchen Beitrag eine geäußerte Meinung in einer Diskussion zu leisten vermag. 

Dass eine nach dem Grundgesetz erlaubte Meinungsäußerung gemäß der geltenden Rechtsordnung zu Nachteilen führen kann, bedeutet also keinen unzulässigen Eingriff in das Grundrecht auf Meinungsfreiheit. Das Grundrecht schützt die Meinungsfreiheit, nicht die gefühlte Meinungsfreiheit. Wenn gefordert wird, auf der Ebene des Grundgesetzes einem sich stetig verschärfenden Meinungsklima entgegenzuwirken, dann ist dies eine Forderung, die eine freiheitliche Verfassung ebenso wenig garantieren kann wie den Wunsch, dass die Menschen innerhalb der Rechtsordnung ein Mindestmaß an wechselseitiger Rücksichtnahme im Umgang miteinander walten lassen.

(Zustimmung von Guido Kosmehl, FDP, und von Sebastian Striegel, GRÜNE)

Zweifellos wäre es ideal, dass sich alle Mitglieder der Gesellschaft in wechselseitigem Respekt zuhören und sich Meinungen anderer nicht von vornherein verschließen. Das erfordert ein Mindestmaß an wechselseitigem Verständnis der Grundrechtsträger, von dem der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt. Er vermag es im Einzelfall aber nicht immer zu garantieren. 

Wo die Grenzen zulässiger gesellschaftlicher und politischer Reaktionen auf Meinungsäußerungen verlaufen, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab und von deren Bewertung. Die letztverbindliche Klärung, wie ein Einzelfall rechtlich unter Berücksichtigung der Grundrechte zu beurteilen ist, gehört zu den Aufgaben der Rechtsprechung. Das Verständnis von Rechtsprechung und Justiz meines Vorredners ist in diesem Zusammenhang wirklich bemerkenswert. 

Eine leistungsfähige Verfassungsgerichtsbarkeit bringt verschiedene Grundrechte miteinander in die praktische Konkordanz, wie es so schön heißt, und gewährleistet diese auch. In Gefahren- und Krisensituationen hat der Staat in einer verfassungsmäßigen Ordnung, in welcher der Mensch mit seiner Würde im Mittelpunkt steht, gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern einen Auftrag zu Vorsorge- und Schutzmaßnahmen. Der Schutz von Bürgerinnen und Bürgern als eine Form der Verwirklichung unserer verfassungsmäßigen Ordnung kann es gebieten, die Grundrechtsausübung in anderer Sicht auch einzuschränken. Die Freiheit nach dem Grundgesetz ist immer die Freiheit innerhalb eines solidarischen Gemeinwesens. 

Ob die praktische Konkordanz der divergierenden verfassungsrechtlichen Positionen hergestellt und die Verhältnismäßigkeit der Grundrechtseingriffe gewahrt wird, kann jederzeit   jederzeit!   zur verfassungsgerichtlichen Überprüfung gestellt werden. Eine Vielzahl verfassungsgerichtlicher Entscheidungen als letztverbindliche Klärung belegt, dass Grundrechte nicht außer Kraft gesetzt sind, auch wenn mein Vorredner ein anderes Bild zeichnen möchte. 

Im Ergebnis bin ich sehr zuversichtlich, dass dies auch für die nächsten 75 Jahre so bleibt. - Vielen Dank.