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Plenarsitzung

Transkript

Tagesordnungspunkt 2

Regierungserklärung des Ministerpräsidenten Herrn Dr. Reiner Haseloff zum Thema: „Verantwortung vor der Geschichte - Verantwortung für die Zukunft: Schutz und Anerkennung jüdischen Lebens“

Regierungserklärung Landesregierung - Drs. 8/3317


Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich erteile zuerst dem Ministerpräsidenten Herrn Dr. Reiner Haseloff das Wort. - Bitte sehr.


Dr. Reiner Haseloff (Ministerpräsident):

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der 9. November ist kein Tag wie andere. Sein historischer Gehalt bewegt die Menschen in Deutschland mehr als andere Jahrestage. Vier besondere geschichtliche Ereignisse sind mit ihm verbunden: die Novemberrevolution 1918 und damit also auch der Beginn der ersten deutschen Demokratie, der gescheiterte Hitler-Putsch 1923, die Novemberpogrome 1938 und der Fall der Mauer 1989.

Ethisch wie emotional markieren die beiden letzten Ereignisse die Spannweite dieses Gedenktages. Der 9. November 1938 steht für Terror und einen schier unglaublichen Rückfall in die Barbarei. Der 9. November 1989 zählt hingegen zu den glücklichsten Tagen deutscher Geschichte.

Die Spannung zwischen tiefer Scham und großer Schuld einerseits und unbeschreiblicher Freude andererseits ist evident. Deshalb eignete sich der 9. November nicht als Nationalfeiertag. Wie hätte man an diesem Tag unbeschwert feiern können? Man kann den Fall der Mauer nicht würdigen, ohne an den 9. November 1938 zu erinnern.

Heute, vor 85 Jahren, am 9. November 1938, brannten im Deutschen Reich die Synagogen. Ein fanatisierter Mob plünderte jüdische Einrichtungen und Wohnungen. Der Volksmund nannte diese Ereignisse später verharmlosend „Reichskristallnacht“. Aber in dieser Nacht gingen mehr als nur Schaufenster zu Bruch. Der 9. November 1938 war der Anfang vom Ende des europäischen Judentums.

1 406 Synagogen, Betstuben, Versammlungsräume und mehr als 7 000 jüdische Geschäfte wurden zerstört und geplündert. Rund 1 500 Menschen fielen den Novemberpogromen unmittelbar und mittelbar zum Opfer.

Aber was sagen Zahlen schon aus? Sie bleiben abstrakt und machen nicht die individuellen menschlichen Schicksale sichtbar. Sie verraten uns nichts über Leid, Gefühle und Ängste der Opfer. Hinter jeder Zahl verbirgt sich eine menschliche Tragödie. Vergessen wir das nie.

Über den Charakter des nationalsozialistischen Terrorregimes konnte es endgültig keine Zweifel mehr geben. Nur wenige Jahre später folgte die systematische physische Vernichtung des europäischen Judentums. Vom 9. November 1938 führte ein direkter Weg nach Auschwitz sowie in die anderen nationalsozialistischen Vernichtungslager und Todeszonen im Osten Europas.

Die Shoah entzog sich gewiss jeder menschlichen Vorstellungskraft. Aber die Bücherverbrennung 1933, die systematische Verfolgung politischer Gegner, die gesellschaftliche Ausgrenzung der Jüdinnen und Juden und die Zerstörung ihrer Synagogen konnten nicht übersehen werden. Die Brutalität der Machthaber war offensichtlich.

Theodor Heuss, der erste Bundespräsident, hat 1952 vor der Legende gewarnt, die Deutschen seien ahnungslos gewesen. „Wir“, so Heuss, „haben von den Dingen gewusst.“ Daran kann heute kein Zweifel mehr bestehen.

Die Ergebnisse der Geschichtswissenschaft sind eindeutig: Zu viele Menschen in Deutschland sahen damals weg und wendeten sich ab. Sie ignorierten die Verbrechen vor ihrer Haustür. Es gab Ausnahmen: Auch in den schlimmsten Stunden deutscher Geschichte haben trotzdem Menschen Zivilcourage gezeigt.

Zu ihnen zählt der Berliner Polizeibeamte Wilhelm Krützfeld. Er verhinderte am 9. November die Zerstörung der denkmalgeschützten Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße. In Wörlitz hat der damalige Direktor des Gartenreichs, Hans Hallervorden, durch sein mutiges Eingreifen die Synagoge geschützt. Auch der Laubacher Justizinspektor Friedrich Kellner verweigerte sich der nationalsozialistischen Propaganda und ihrer hetzerischen Lügen. Seine Tagebücher aus den Jahren 1939 bis 1945 erschienen im Jahr 2011. Zu seinen Motiven, Tagebücher zu schreiben, hielt er fest: 

„Ich konnte die Nazis damals nicht in der Gegenwart bekämpfen. Also entschloss ich mich, sie in der Zukunft zu bekämpfen. Ich wollte kommenden Generationen eine Waffe gegen jedes Wiederaufleben solchen Unrechts geben.“

Fassen wir sein Vermächtnis als Verpflichtung auf. Aufklärung beginnt in der Familie, in der Schule, an den Universitäten, im beruflichen und privaten Umfeld. Die Lehren aus dem Nationalsozialismus können nur lauten, unsere Gegenwart nach anderen, menschlicheren Maßstäben zu gestalten.

Sehr geehrte Damen und Herren! Am 9. November 1938 wurde auch die Synagoge in Dessau zerstört. Vor wenigen Wochen wurde die neue Synagoge eröffnet. Sie steht am Platz der alten Synagoge, im Zentrum der Stadt. Das ist ein starkes Symbol und mehr als nur ein Neuanfang.

Jüdische Leben wird in Dessau, der Geburtsstadt Moses Mendelssohns, wieder sichtbar. Moses Mendelssohn war befreundet mit Gotthold Ephraim Lessing, dem Verfasser von „Nathan dem Weisen“. Lessings nachhaltiges Plädoyer für ein gleichberechtigtes und friedliches Zusammenleben von Menschen unterschiedlichen Glaubens, unterschiedlicher Weltanschauung ist heute aktueller denn je, und deshalb erwähne ich es auch ausdrücklich.

Die neue Synagoge in Magdeburg soll am 10. Dezember dieses Jahres eröffnet werden. Auch sie wurde am 9. November 1938 zerstört. Mit dem Bau jüdischer Gotteshäuser in Sachsen-Anhalt verbinden sich klare Botschaften. Jüdisches Leben gehört zu Sachsen-Anhalt und zu Deutschland, und es kann auf eine lange Geschichte und Tradition zurückblicken.

(Starker Beifall im ganzen Hause)

Aber richtig bleibt auch: Wir können nicht nahtlos an Vergangenes anknüpfen. 6 Millionen europäische Juden fielen dem Rassenwahn der Nationalsozialisten zum Opfer. Die Shoah ist nicht ein Verbrechen unter vielen. Sie war das schlimmste Verbrechen in der Menschheitsgeschichte.

Kann sich Geschichte wiederholen? Nicht erst seit dem Terroranschlag von Halle vor vier Jahren wissen wir: Der Firnis der Zivilisation ist dünn. Humanität kann schnell in Inhumanität umschlagen. Die Shoah ist zwar Vergangenheit, aber der Antisemitismus ist gegenwärtiger denn je.

Aus unserer Gesellschaft war er nie verschwunden. Juden in Halle mussten im Jahr 2019 beim Jom-Kippur-Fest um ihr Leben fürchten, mitten in Deutschland, mitten unter uns.

Der „Spiegel“ titelte jüngst in seiner Ausgabe vom 28. Oktober 2023: „Judenhass in Deutschland. Wir haben Angst.“ Das ist zutiefst beschämend. Acht Jahrzehnte nach der Schoah leben Jüdinnen und Juden in Deutschland, dem Land der Täter, wieder in Angst. Verfassungsschutzpräsident Haldenwang fühlt sich an die schlimmsten Zeiten der deutschen Geschichte erinnert.

Sicherheit für die jüdische Gemeinschaft hat unverändert höchste Priorität und ist leider notwendig. Wir alle müssen uns selbstkritisch fragen: Warum wird der Judenhass trotz einer jahrzehntelangen Aufklärung, Prävention und Abwehr von Generation zu Generation weiter tradiert? Was läuft dabei schief?

Insbesondere im Internet und in den sozialen Medien hat der Judenhass in den letzten Jahren signifikant zugenommen. Er kleidet sich in Chiffren, Codes, Mutmaßungen und Gerüchte. Er äußert sich aber auch immer offener in Beleidigungen und Bedrohungen und im Zeigen verfassungsfeindlicher Symbole. Einmal mehr finden sich die alten antisemitischen Schuldzuweisungen und absurden Verschwörungstheorien. Stimmungen werden zur Mobilisierung genutzt und Krisen instrumentalisiert.

Der Antisemitismus geht stets mit der Verneinung von Freiheit und Demokratie einher: wir und die anderen. Demokratie ist aber immer auch Schutz von Minderheiten und fußt auf Solidarität. Der Antisemitismus hingegen ist eine höchst gefährliche Form gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Seine simplifizierende Weltsicht ist brandgefährlich.

Vom Vorurteil zur Gewalt ist es oft nur ein ganz kurzer Weg. Der Antisemitismus ist, in welcher Erscheinungsform auch immer, mehr denn je zu einer Gefahr für die grundlegenden Werte unserer weltoffenen und pluralistischen Gesellschaft geworden. Das gilt umso mehr, als der Antisemitismus ein Phänomen in der Mitte unserer Gesellschaft und nicht nur an deren Rändern ist. Das zeigen alle Beobachtungen der letzten Jahre.

Es gibt einen Antisemitismus von rechts und von links, von Konfessionslosen, von Christen und von Muslimen. Die größte Gefahr in diesem Zusammenhang geht vom Rechtsextremismus aus.

(Zustimmung bei der CDU, bei der LINKEN, bei der SPD, bei den GRÜNEN, bei der FDP und von der Regierungsbank - Unruhe bei der AfD)

Aber der größte Treiber für antisemitische Äußerungen in den letzten Jahren ist der Antiisraelismus. Ebenso spielt ein sich deutlich artikulierender Islamismus in unserem Land eine zentrale Rolle.

(Zustimmung bei der CDU, bei der LINKEN, bei der SPD, bei den GRÜNEN, bei der FDP und von der Regierungsbank)

Seit dem Angriff der Hamas auf Israel beobachten die Sicherheitsbehörden auch in Sachsen-Anhalt einen starken Anstieg an Vorfällen, vorwiegend bei antiisraelischen Kundgebungen und in den sozialen Medien.

Wir alle sind entsetzt über die jüngsten terroristischen Angriffe auf Israel. Unsere Gedanken sind bei den Menschen in Israel, den Opfern und den Hinterbliebenen.

Die Angriffe der Terrororganisation Hamas sind ein abscheulicher und barbarischer Akt. Das Verbot der Hamas in Deutschland war längst überfällig. Für Terroristen und ihre Handlanger kann es keine Toleranz geben. Wir stehen unverbrüchlich an der Seite Israels.

(Beifall bei der CDU, bei der LINKEN, bei der SPD, bei den GRÜNEN, bei der FDP und von der Regierungsbank)

Unsere Solidarität gehört den Jüdinnen und Juden weltweit.

Der Terror muss sofort beendet und der Aggressor, die Hamas, zur Rechenschaft gezogen werden. Israels Existenz ist bedroht und auf deutschen Straßen wird das gefeiert. Das sind unerträgliche Bilder.

(Beifall bei der CDU, bei der LINKEN, bei der SPD, bei den GRÜNEN, bei der FDP und von der Regierungsbank)

Als freie und humane Gesellschaft dulden wir keine Sympathiebekundungen für Terroristen und deren Verbrechen sowie keine antisemitischen Parolen. Sie müssen strafrechtlich konsequent verfolgt werden. Es kann nicht bei Ankündigungen bleiben. Ich erwarte auch klare Stellungnahmen und Distanzierungen von allen islamischen Vereinen und Verbänden in Deutschland. Hetze und Hass dürfen unser Land nicht vergiften.

(Zustimmung bei der CDU, bei der LINKEN, bei der SPD, bei den GRÜNEN, bei der FDP und von der Regierungsbank)

Ich will es noch einmal sehr deutlich aussprechen: Die Einmaligkeit der Schoah anzuerkennen, schließt die unbedingte Solidarität Deutschlands mit Israel ein, uneingeschränkt und ohne jedes relativierende „Ja, aber“.

In Sachsen-Anhalt leben mittlerweile auch viele Bürgerinnen und Bürger mit migrantischem Hintergrund. Sie haben aufgrund ihrer Sozialisation einen anderen Blick auf die deutsche Erinnerungskultur und sind nicht mit deren Narrativen aufgewachsen. Als Teil unserer Gesellschaft müssen sie in unsere Erinnerungs- und Gedenkkultur einbezogen werden. Das schließt neue Wege der Holocaustvermittlung ein. Ein intensiver und breiter gesellschaftlicher Dialog über die Zukunft der Erinnerung ist unumgänglich.

Die Erinnerung an die Schoah muss auch in Menschen mit Migrationshintergrund etwas bewirken. Niemand kann gleichgültig bleiben angesichts dieses präzedenzlosen Verbrechens. Das ist unabweisbar und für unsere Demokratie auch eine Form der Bewährung. Gegen das Vergessen anzukämpfen ist eine zivilisatorische Aufgabe. Ihr müssen wir uns alle stellen.

(Beifall bei der CDU, bei der LINKEN, bei der SPD, bei den GRÜNEN, bei der FDP und von der Regierungsbank)

Auch aus diesem Grund wäre die Umbenennung der Anne-Frank-Kita in Tangerhütte erinnerungspolitisch ein völlig falsches Signal.

(Beifall bei der CDU, bei der LINKEN, bei der SPD, bei den GRÜNEN, bei der FDP und von der Regierungsbank)

Das Tagebuch der Anne Frank zählt zu den eindringlichsten Dokumenten jüdischer Schicksale während der Zeit des Nationalsozialismus. Anne Frank hinterließ uns mit ihrem Tagebuch ein Vermächtnis. Diesem Vermächtnis müssen wir uns verpflichtet fühlen, heute und in Zukunft.

(Beifall bei der CDU, bei der LINKEN, bei der SPD, bei den GRÜNEN, bei der FDP und von der Regierungsbank)

Das Bewusstsein für die Schoah wachzuhalten ist wichtiger denn je. Für die meisten Menschen ist der Nationalsozialismus Geschichte und keine erlebte Vergangenheit mehr. Erinnerungspolitisch vollzieht sich ein Paradigmenwechsel. Bald wird sich niemand mehr an die Geschehnisse zwischen 1933 und 1945 unmittelbar erinnern. Der Verlust der Unmittelbarkeit kann und muss kompensiert werden.

Das öffentliche Gedenken und die Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen nehmen zu Recht einen zentralen Platz in unserer Gesellschaft ein. Ob es so bleibt, liegt an uns; denn die Werte und moralischen Maßstäbe unserer Gesellschaft bestimmen wir. Für unser Gemeinwesen tragen wir alle die Verantwortung.

Unsere Demokratie ist mehr als eine Staats- oder Herrschaftsform, sie ist vor allem eine Lebensform. Deshalb ist der Antisemitismus auch ein Angriff auf unsere Demokratie und ihre Werte. Jeder Mensch hat das Recht auf freie Selbstbestimmung und persönliche Entfaltung. Das Prinzip der Gleichheit aller Menschen unabhängig von ihrer Religion, Herkunft, Hautfarbe und Nationalität ist eine der tragenden Säulen moderner demokratischer Verfassungsstaaten.

Das Grundgesetz steht für ein weltoffenes, pluralistisches Deutschland und ein aufgeklärtes Verständnis von Nationen. Es ist die Grundlage für unser Zusammenleben. Unsere Verfassung ist zum wichtigsten Dokument unseres demokratischen Selbstverständnisses geworden. Ganz bewusst wird der Grundrechtskatalog an ihren Anfang gestellt und mit der Garantie der Menschenwürde eröffnet. Artikel 1 Abs. 1 ist eine unmittelbare Reaktion auf das verbrecherische Regime der Nationalsozialisten. Das Grundgesetz gehört zu Deutschland.

(Beifall bei der CDU, bei der SPD und bei der FDP - Zustimmung bei der LINKEN, bei den GRÜNEN und von der Regierungsbank)

Wer unsere Verfassung und ihre Werte nicht akzeptiert, wer die Menschenwürde nicht anerkennt und stattdessen die Scharia als maßgebliche Ordnung betrachtet, der gehört nicht zu Deutschland und muss mit Konsequenzen rechnen.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP - Zustimmung von der Regierungsbank)

Das sage ich auch unmissverständlich allen Menschen, die zu uns kommen und hierbleiben wollen. Die Grundrechte gelten für alle in Deutschland lebenden Menschen ohne Ausnahme.

(Beifall bei der CDU, bei der LINKEN, bei der SPD, bei den GRÜNEN, bei der FDP und von der Regierungsbank)

Mit den Grundrechten gehen aber auch Pflichten einher. Mit Kant gesprochen: „Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des anderen beginnt.“ An diesen Werten hat sich unsere Gesellschaft auszurichten. Sie sind von allen ihren Mitgliedern anzuerkennen und nicht verhandelbar. Nur unter diesen Voraussetzungen kann in unserer Gesellschaft dauerhaft ein Klima der Toleranz und des gegenseitigen Respekts herrschen. Nur dann können Menschen unterschiedlicher Kulturen und Religionen in Frieden miteinander leben.

Der Bogen der Geschichte neigt sich aber nicht zwangsläufig in Richtung der Demokratie. Ihre Werte behaupten sich nicht von selbst. Sie ist uns nicht in die Wiege gelegt und kann auch verloren gehen. Das Scheitern der Weimarer Republik erinnert uns an diese Zusammenhänge.

Sehr geehrte Damen und Herren! Ich möchte abschließend noch einen Zeitzeugen zu Wort kommen lassen. Am Morgen des 10. November 1938 holte Hans Kremp seinen zehnjährigen Sohn Herbert - er wurde später ein bekannter Autor und Journalist - von der Schule in Frankfurt am Main ab. Man ging durch die Innenstadt. Der Junge erinnerte sich später an schluchzende und misshandelte Juden, an die Reste einer qualmenden Synagoge und an das Zerschellen einer zu einem Konzertflügel gehörenden Lyra. Sie wurde aus einem Fenster auf die Straße geworfen. „Warum?“, fragte er seinen Vater, und erhielt die lakonische Antwort: „Du sollst das sehen, um es nie mehr zu vergessen.“

Nie mehr vergessen - verstehen auch wir, die Nachgeborenen, diese Worte als Aufforderung und als einen moralischen Imperativ. Fragen wir uns also: Warum haben Menschen damals so und nicht anders gehandelt? Warum taten sie das eine und unterließen das andere? Wie hätten wir gehandelt?

Unsere Geschichte verpflichtet uns. Nennen wir Antisemitismus beim Namen und bekämpfen wir ihn mit aller Entschiedenheit. Stehen wir entschlossen und geschlossen an der Seite Israels. Wir müssen eine klare Haltung zeigen. Nie wieder ist jetzt. Das sind wir nicht nur den Opfern, sondern auch uns selbst schuldig.

Auch Schweigen und Gleichgültigkeit können Einstellungen prägen, verhängnisvolle Entwicklungen begünstigen und weitreichende Folgen haben. Aufstieg, Herrschaft und Verbrechen des Nationalsozialismus sind nicht nur auf ein Versagen der politischen Eliten zurückzuführen. Sie wurden auch durch den Zusammenbruch der Mitmenschlichkeit und den Verlust von Mitgefühl unter gewöhnlichen Deutschen möglich.

Ich weiß, der weitaus größte Teil unserer Gesellschaft verurteilt jede Form von Antisemitismus und Hass, aber dieser Teil muss viel lauter werden. Aufstehen und eindeutig Stellung beziehen ist das Gebot der Stunde, und zwar zu jeder Zeit und an jedem Ort. Wir müssen wachsam bleiben und den Anfängen wehren. Das sind unsere Aufgabe und mein Appell. Die Erinnerung an die Vergangenheit ist stets mit der Verantwortung für unsere Gegenwart und Zukunft verbunden.

Kann man hoffnungsvoll enden mit Blick auf die jüdische Gemeinschaft? Die Folgen des 7. Oktober 2023 sind für sie noch überhaupt nicht absehbar, auch nicht in unserem Land. Was ich aber mit aller Entschiedenheit sagen kann: Als Landesregierung wollen wir weiterhin jüdisches Leben in Sachsen-Anhalt sichtbar machen, es fördern und schützen.

Noch in diesem Monat wird sich das Kabinett deshalb mit einem weiteren Umsetzungsbericht zum jüdischen Leben in Sachsen-Anhalt und zum Kampf gegen Antisemitismus beschäftigen. Er wird die nächsten Ziele in den Blick nehmen und dem Landtag anschließend zur Beratung vorgelegt werden. - Herzlichen Dank.

(Lang anhaltender Beifall bei der CDU und bei der FDP - Zustimmung bei der LINKEN, bei der SPD, bei den GRÜNEN und von der Regierungsbank)


Vizepräsident Wulf Gallert: 

Herr Haseloff, dazu gibt es eine Frage von Herrn Tillschneider. - Herr Tillschneider, Sie haben das Wort.


Dr. Hans-Thomas Tillschneider (AfD): 

Herr Ministerpräsident, Ihre Rede erschien mir in fast allen Punkten zustimmungswürdig. Ich habe nur an einem Punkt eine Frage. Sie haben gesagt, dass Israel jetzt unsere unbedingte Solidarität erhält.

Wir bekennen uns alle zum Existenzrecht Israels. Selbstverständlich hat Israel auch das Recht, sich gegen den Angriff der Hamas zu wehren und die Hamas anzugreifen. Aber sollte diese Solidarität nicht insofern bedingt sein, als sie dann endet, wenn Israel selbst in seiner Reaktion überzieht und seinerseits Menschenrecht verletzt, wenn es zivile Opfer billigend in Kauf nimmt, wenn es ein ganzes Gebiet von der Außenwelt abschneidet? Sollte dann nicht die unbedingte Solidarität der freundschaftlichen Kritik weichen? - Das ist meine Frage.


Vizepräsident Wulf Gallert: 

Sie können antworten.


Dr. Reiner Haseloff (Ministerpräsident): 

Ich glaube, dass jeder sehen kann, dass das Handeln Israels in der jetzigen Abwehrsituation, in der sich das jüdische Volk und die israelischen Bürger befinden, dass dieses alles im Kontext auch der internationalen Beziehungen Israels als Demokratie im Nahen Osten erfolgt.

Sowohl zwischen den Vertreterinnen und Vertretern der Bundesregierung, auch im Sinne der Außenvertretung des Bundes, als auch innerhalb der Bündnisse, denen wir angehören, gibt es eine sehr, sehr intensive Besprechung all dessen, was dort geschieht und was notwendig ist, sowie darüber, in welcher Form diese Solidarität geübt wird.

Ich bin mir sicher, dass das demokratische Israel mit dieser jetzt auch arbeitenden Regierung, die dort parteiübergreifend ihre Existenz versucht zu sichern, als Staat, der auch deswegen besteht, weil die deutsche Geschichte so, wie ich sie beschrieben habe, stattgefunden hat, dem Entscheiden, das dort notwendig ist, alle Prinzipien der Verhältnismäßigkeit zugrunde legen wird. Das wird ein dauerhafter auch internationaler Kommunikationsprozess sein, in den sich auch Deutschland mit einbringen wird. Das hat der Kanzler vorgestern ganz klar zum Ausdruck gebracht. Ich vertraue darauf, dass das im gemeinsamen Agieren, auch im Sinne unserer Staatsräson, auch in Zukunft der Fall sein wird.

(Beifall bei der CDU, bei der SPD und bei der FDP)


Vizepräsident Wulf Gallert:

Danke. - Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben uns auf eine Redezeit von 15 Minuten pro Fraktion verständigt. Wir haben dieses Mal dezidiert keine Redezeittabelle nach Anlage der Geschäftsordnung zur Grundlage genommen. Wir haben jetzt die Regierungserklärung des Ministerpräsidenten gehört. Ich stelle hiermit eine Überziehung der Redezeit um fünf Minuten fest. Da wir keine besondere Regelung getroffen haben, würde ich bei den entsprechenden Beiträgen der Fraktionen auch nachsichtig sein. Ich sage aber ausdrücklich: Wir sind nicht gezwungen, alle Redebeiträge auf diese Zeit auszuweiten.

Jetzt folgt die Aussprache zur Regierungserklärung. Als Nächster spricht für die AfD-Fraktion Herr Kirchner.

(Beifall bei der AfD)