Tagesordnungspunkt 8
Die humanitäre Katastrophe an der polnisch-belarussischen Grenze beenden - Menschenrechte sichern, Schutzsuchende evakuieren - Aufnahmezusage jetzt!
Antrag Fraktion DIE LINKE - Drs. 8/632
Einbringen wird diesen Antrag die Abg. - Frau Quade. Frau Quade, bitte schön.
Henriette Quade (DIE LINKE):
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will, um vielleicht einige Nachfragen zu erübrigen, drei Dinge vorab klarstellen: Erstens. Ich halte Lukaschenko für einen Diktator und werfe ihm schwere Menschenrechtsverletzungen vor. Zweitens. Ich habe mit Wladimir Putin genauso wenig am Hut wie mit denjenigen, die ihm unkritisch gegenüberstehen. Drittens. Polen ist selbstverständlich ein souveränes Land, das das Recht hat, über seine Politik zu entscheiden. - Dies vorwegzunehmen, meine Damen und Herren, macht es vielleicht leichter, dass wir uns tatsächlich über das unserem Antrag zugrundeliegende Problem unterhalten statt darüber, was wir dem jeweils anderen unterstellen.
Ich habe mir in Vorbereitung der heutigen Debatte noch einmal einige Schlaglichter der Debatte im November 2021 hier im Hohen Hause dazu angeschaut. Herr Erben, Sie sagten in Ihrer Rede damals:
„Zu den Grundwerten der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten gehört, dass wir Menschen in Not nicht allein lassen.“
Herr Schulenburg führte aus:
„Allein aus diesem Grund ist es umso wichtiger, dass die Grenze bei Polen dicht bleibt, damit bei uns nicht die Kosten explodieren. Lassen Sie uns an der Seite unserer polnischen Partner stehen. Unterstützen wir Sie beim Schutz unserer EU-Außengrenze.“
(Zustimmung)
Herr Kosmehl sagte:
„Die Europäische Union ist ein gemeinsamer Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, und den müssen wir auch gemeinsam schützen.“
Lassen Sie uns also, bevor ich zu den Punkten des Antrags komme, anschauen, wie es um die Grundwerte der Europäischen Union an der polnisch-belarussischen Grenze bestellt ist. Lassen Sie uns anschauen, wie der Schutz der Außengrenze, den Herr Schulenburg gern unterstützen will, konkret aussieht. Lassen Sie uns einen Blick in diesen gemeinsamen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts werfen, bevor wir darüber reden, wie wir uns dazu verhalten.
(Zustimmung)
An der polnisch-belarussischen Grenze spielt sich eine humanitäre Katastrophe ab. Bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt sitzen Schutzsuchende zum Teil seit Wochen in den Wäldern und Sümpfen entlang der 400 km langen Grenze fest, ohne Zugang zu Nahrung, zu Wasser oder medizinischer Versorgung. Es ist schwer zu sagen, wie viele Menschen es aktuell sind, nicht nur weil keine Dokumentation stattfindet und nicht registriert wird, sondern auch weil Journalistinnen, Menschenrechtsorganisationen, medizinische Hilfsorganisationen und NGOs von der Grenze verbannt wurden.
Ich war vor nicht ganz zwei Wochen dort. Wir haben mit verschiedenen Hilfsorganisationen und polnischen Abgeordneten gesprochen. Sie gehen im Moment von insgesamt etwa 1 500 Menschen auf belarussischer und polnischer Seite aus. Der eigentlich wunderschöne Białowieża-Nationalpark, der als letzter Tieflandurwald Europas gilt, ist für Schutzsuchende, die von Lukaschenko gelockt wurden und von ihrer Not getrieben sind, zur Falle geworden. Die polnische Regierung hat das Grenzgebiet zur Sperrzone erklärt, behauptet eine Notlage und hat sich so einen rechtsfreien Raum unter Ausschluss der Öffentlichkeit geschaffen. Diese Notlage ist ein zentraler Punkt, sie ist die politische Erzählung der Rechten, nicht nur in Polen, und sie dient als Legitimation für die Aussetzung von Menschenrechten, EU-Recht und Pressefreiheit im Grenzgebiet und im Ausnahmezustand, dem die ca. 200 000 Menschen, die in diesem Gebiet wohnen und leben, ausgeliefert sind.
Die Schutzsuchenden, die in diesem Gebiet festsitzen, kommen, übereinstimmenden Berichten zufolge, überwiegend aus Kriegs- und Krisengebieten wie Irak, Syrien, Afghanistan, dem Jemen oder dem Iran und hätten nach europäischem Asylrecht und nach der Flüchtlingskonvention gute Aussichten auf einen Schutzstatus. Selbst wenn das nicht so wäre, haben sie das Recht auf ein faires Verfahren und die Prüfung ihres Falls.
(Beifall)
Sie werden unter Ausschluss der Öffentlichkeit sich selbst und der illegalisierten Hilfe der Engagierten überlassen. Mindestens 21 Menschen sind bisher in diesem Grenzgebiet gestorben, darunter auch Kinder. Die „Ärzte ohne Grenzen“ mussten sich Anfang Januar 2022 aus dem Grenzgebiet zurückziehen, weil sie von den polnischen Behörden wiederholt daran gehindert wurden, Menschen zu helfen.
Meine Damen und Herren! Das muss man sich einmal überlegen: Eine Organisation, die professionell in Kriegs- und Krisengebieten agiert, muss sich aus einem Gebiet in der Europäischen Union zurückziehen, weil sie von der Regierung eines Mitgliedsstaates an der Ausführung ihrer Arbeit gehindert wird. Ich finde, das ist unfassbar.
(Beifall)
Ich finde es ebenso unfassbar, dass es in den Reihen der CDU-Fraktion dabei Lachen gibt, wenn ich das hier sage.
(Zuruf: Nein, wir haben überhaupt nicht gelacht!)
Nun könnten Sie fragen: Warum wenden sich diese Schutzsuchenden denn nicht an die Grenzpolizei und das Militär? Diese würden doch sicherlich dafür sorgen, dass die Leute einen Asylantrag stellen können, irgendwo untergebracht und versorgt werden.
(Zuruf)
Die Antwort ist so einfach wie frappierend: Kälte, Nässe, Hunger sind nicht die einzigen Gefahren, die im Grenzgebiet auf sie warten. Grenzpolizei, Armee und eigens rekrutierte bewaffnete Bürgerwehren patrouillieren das Gebiet auf der Suche nach diesen Menschen, die angeblich Polen angreifen. Finden sie sie, gibt es im Wesentlichen zwei Optionen: Pushback zu dem Diktator Lukaschenko oder Inhaftierung in einem der acht Haftlager, in denen ca. 2 000 Menschen festgehalten werden, ohne Zugang zu Informationen und Kommunikationsmitteln, ohne Zugang zu rechtlicher Beratung, ohne ausreichende medizinische Betreuung, ohne zu wissen, warum, wie lange noch und was dann passiert.
Beides widerspricht eindeutig dem Asylrecht der EU. Beides ist schlichtweg illegal und zwingt uns wie auch die anderen EU-Mitgliedstaaten, sich dazu zu verhalten.
(Zustimmung)
Wissen Sie, dass Pushbacks stattfinden, war bekannt; davon wurde berichtet. Das war einer der Gründe, warum wir uns mit einer Gruppe Abgeordneter dafür entschieden hatten, dorthin zu fahren. Mit welcher Brutalität Pushbacks vollzogen werden, hat mich dennoch schockiert. Ja, so etwas hätte ich nicht für möglich gehalten. Vor allem sollte so etwas in der EU nicht möglich sein.
(Zustimmung)
NGOs wie das Norwegische Helsinki-Komitee, Medizinerinnen und Anwältinnen beschreiben eine regelrechte Jagd auf Menschen. Mit Maschinengewehren und Knüppeln treiben sie die Menschen durch den Wald und zwingen sie durch die Löcher im Zaun zurück nach Belarus. Dabei werden Menschen geschlagen, in die Sümpfe gestoßen und genötigt. Familien werden getrennt. Kinder gehen in dem Wald verloren. Kommunikationsmittel werden den Schutzsuchenden abgenommen. Medizinisches Personal wird ferngehalten. Es findet keinerlei Dokumentation oder Registrierung statt. Kurz: In der EU wird systematisch Recht gebrochen, finden schwere Menschenrechtsverletzungen statt und ist es illegal, Menschen vor dem Erfrieren im Wald zu retten.
Ist das dieser gemeinsame Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, den Polen in unser aller Interesse gerade verteidigt? Ist es das, wofür wir der polnischen Regierung danken sollen? Sind das die europäischen Werte, die Sie meinen, die wir nicht aufgeben dürfen, weil Lukaschenko diese Menschen instrumentalisiert und entmenschlicht, indem er sie als Waffe einsetzt?
Für meine Fraktion ist klar: Die polnische Regierung verstößt systematisch gegen die Genfer Flüchtlingskonvention, Völkerrecht und Unionsrecht.
(Zustimmung)
Wir können als Menschen und als politische Entscheidungsträgerinnen nicht weiter die Augen davor verschließen und so tun, als ginge uns das nichts an. In unserem Antrag schlagen wir deshalb konkrete Dinge vor, mit denen wir als Landtag die Landesregierung jetzt beauftragen müssen, wenn die Beschwörung europäischer Werte und Prinzipien auch nur ansatzweise ernst gemeint sein soll und wenn wir die humanitäre Katastrophe, die sich keine 1 000 km von hier entfernt abspielt, nicht einfach hinnehmen wollen. Die Menschen, die mitten im Winter im Grenzgebiet festsitzen, müssen so schnell wie möglich evakuiert werden. Sie müssen in Sicherheit gebracht werden und in der EU ein rechtsstaatliches Asylverfahren erhalten.
(Zustimmung)
Dafür muss die Bundesregierung auf europäischer Ebene kämpfen. Dafür braucht es weil wir doch wissen, dass es die europäische Lösung, die Sie immer wieder beschwören, nicht schnell geben wird ein Aufnahmeprogramm und die Aufnahmebereitschaft der Bundesrepublik. Dazu wäre ein Aufnahmeprogramm des Landes ein wichtiger und leistbarer Beitrag. Wir haben Kommunen, die schon längst als sichere Häfen agieren wollen. Die Landesregierung sollte dieses wichtige Signal endlich aufnehmen.
(Zustimmung)
Die Bundesregierung muss in der EU dafür streiten, dass illegale Pushbacks gestoppt werden, dass Haftlager für Asylsuchende geschlossen werden, dass Menschenrechte gewahrt werden und dass die systematischen Rechtsverletzungen, die in Polen im Umgang mit Schutzsuchenden geschehen, sofort aufhören. Ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen durch die Europäische Kommission wegen schwerwiegender Verletzung der in Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union genannten Werte wäre das auf der Hand liegende Mittel, zu dem die EU jetzt greifen müsste.
(Zustimmung)
Ganz konkret und ebenso dringend wie die Evakuierung sind die Aufnahme und die Ahndung der Rechtsverstöße. Polen ist für Schutzsuchende nicht sicher. Es dürfen keine Menschen mehr nach Polen abgeschoben oder rücküberstellt werden. Die Landesinnenministerin hat die Kompetenz, einen Abschiebestopp zu verhängen. Sie muss diese Chance auch nutzen.
(Zustimmung)
Das ist aus humanitären Gründen genauso dringend geboten wie das Aussetzen der Dublin-Überstellungen nach Polen auf Bundesebene, für das die Landesregierung sich einsetzen soll.
Meine Damen und Herren! Wir haben in Polen Menschenrechtsgruppen und Anwältinnen getroffen, die mittlerweile humanitäre Hilfe leisten. Wir haben Abgeordnete getroffen, die versuchen, die Rechtsverletzungen zu stoppen, aber an der polnischen Regierung scheitern. Wir haben Anwohnerinnen des Grenzgebietes getroffen, die mit radikaler Menschlichkeit bereit sind, Illegalisiertes zu tun, weil sie nicht bereit sind, Menschen vor ihrer Haustür sterben zu lassen. Sie alle tun das, was eigentlich die Aufgabe der EU wäre.
(Zustimmung)
Sie alle sagen genauso klar: Dies ist keine Migrationsnotlage, dies ist eine humanitäre Notlage. Lukaschenko behandelt diese Menschen wie Gegenstände und setzt sie als Waffen ein. Es wäre die Aufgabe der EU, dafür zu sorgen, dass er das nicht länger kann. Es wäre Aufgabe der EU, diese Menschen in Sicherheit zu bringen. Da die polnische Regierung ihren Kampf gegen die Schutzsuchenden als Kampf für Sicherheit inszeniert und das auch hier in diesem Hause immer wieder eine zentrale politische Rolle spielt und ein zentrales politisches Schlagwort ist, sagen sie und sage ich Ihnen sehr, sehr klar: Eine sichere Grenze ist eine, an der keine Menschen sterben müssen. - Danke.
(Zustimmung)