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Plenarsitzung

Transkript

Tagesordnungspunkt 18

Beratung

Pflege zu Hause - Pflegende Angehörige endlich entlasten und wertschätzen

Antrag Fraktion Die Linke - Drs. 8/5146

Alternativantrag Fraktionen CDU, SPD und FDP - Drs. 8/5199


Einbringen wird den Antrag die Abg. Frau Anger. 


Nicole Anger (Die Linke): 

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Meine Damen und Herren! Pflegende Angehörige sind der größte Pflegedienst unserer Gesellschaft: Sie sind es, die den Großteil der Pflegearbeit leisten, oft unter schwierigen Bedingungen und ohne angemessene Unterstützung. Dennoch bleiben sie oft unsichtbar. Ihre Care-Arbeit findet abseits der öffentlichen Wahrnehmung statt, sie wird nicht ausreichend gewürdigt - wie auch in diesem Moment. Das dürfen wir so nicht länger hinnehmen.

(Beifall bei der Linken)

Meine Damen und Herren! Ich möchte an dieser Stelle namens meiner Fraktionen allen pflegenden Angehörigen danken: Sie leisten jeden Tag Großartiges - oft im Stillen  , mit viel Hingabe, Geduld und Liebe. Ihre Fürsorge bedeutet für Ihre Liebsten nicht nur Unterstützung, sondern auch Würde und Geborgenheit. 

(Beifall bei der Linken)

Auf Initiative meiner Fraktion fand ein Fachgespräch im zuständigen Ausschuss statt, sodass man sich in diesem Haus zum ersten Mal unter Beteiligung der pflegenden Angehörigen mit eben diesem Thema auseinandergesetzt hat. Diese Diskussion, meine Damen und Herren, war längst überfällig, und sie führte uns vor Augen, wie groß der Handlungsbedarf ist. 

Die Pflege und der Betreuungsbedarf ändern sich ständig in ihrer Art und Intensität. Während es in manchen Fällen um kleine Hilfestellungen geht, erfordert die Betreuung von Menschen mit schweren Erkrankungen, wie Demenz, eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung: 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, 365 Tage im Jahr. 

(Unruhe)

Und, meine Damen und Herren, wenn wir von pflegenden Angehörigen reden, reden wir nicht nur über Paare im Rentenalter, die den Partner oder die Partnerin pflegen, wir reden auch über Kinder, die ihre Eltern pflegen. Aber auch die umgekehrte Situation tritt ein, nämlich dass Eltern ihr Kind pflegen. Pflege und folglich pflegende Angehörige gibt es in jeder Lebensphase und in jeder Konstellation.

(Anhaltende Unruhe)


Vizepräsidentin Anne-Marie Keding: 

Meine Damen und Herren! Wäre es möglich, die allgemeinen Gespräche etwas in ihrer Lautstärke zu dämpfen oder sie nach draußen zu verlagern? Es ist für die Rednerin ausgesprochen schwierig, gegen eine solche Schallmauer anzusprechen. - Frau Anger, bitte.


Nicole Anger (Die Linke): 

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Sie alle eint jedoch eines: Trotz bestehender Pflegeversicherung fühlen sich viele Familien alleingelassen. Die Unterstützungssysteme greifen oft nicht oder sind viel zu kompliziert. Oft wissen die betroffenen Familien gar nicht, welche Leistungen ihnen eigentlich zustehen. Nicht nur die emotionale Belastung ist hoch, auch die finanzielle Situation ist oft prekär; pflegende Angehörige sind oft von Armut bedroht. Auch ihr Gesundheitszustand ist im Vergleich zu Nicht-Pflegepersonen deutlich schlechter. 

Insbesondere Frauen trifft diese Belastung hart: 70 % der pflegerischen Sorgearbeit zu Hause wird von Frauen geleistet. Die Konsequenzen sind gravierend: Nicht selten muss die eigene Erwerbstätigkeit reduziert oder ganz aufgegeben werden, was nicht nur zur unmittelbaren Einkommensminderung führt, sondern auch langfristig Auswirkungen auf die Rentenansprüche hat. Altersarmut ist für viele pflegende Angehörige eine direkte Folge der ungerechten Verhältnisse.

Eine vom Sozialverband VdK in Auftrag gegebene Studie hat erschreckende Zahlen ans Licht gebracht: Mehr als ein Drittel der pflegenden Angehörigen fühlt sich extrem belastet und kann die Pflegesituation nur unter Schwierigkeiten oder gar nicht bewältigen. 63 % haben täglich körperliche Beschwerden, und 59 % geben an, dass sie aufgrund der Pflege ihre eigene Gesundheit vernachlässigen. 

Diese Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Die Pflege von Angehörigen ist ein massiver Risikofaktor für die eigene psychische und physische Gesundheit und sie kann zur sozialen Isolation führen; denn eigene Freizeit gibt es in vielen Fällen nicht mehr. 

Meine Damen und Herren! Wenn ein Pflegefall in der Familie eintritt, übernehmen Angehörige die Aufgabe der Pflege oft aus Liebe und Pflichtgefühl. Seien wir einmal ehrlich: Nicht selten sind es die Angst vor den hohen Kosten einer stationären Pflege; denn die Preise in den Pflegeheimen steigen rasant und die Eigenanteile für Pflegebedürftige und ihre Familien sind kaum noch zu stemmen, und auch die Angst davor, dass die Angehörigen dort nicht die Zuwendung bekommen, die sie eigentlich benötigen - über den Personalmangel in der stationären Pflege wir hier wiederholt gesprochen. Das alles beeinflusst die Entscheidung der Familien. 

Wenn der Pflegefall eintritt, müssen sich die Angehörigen durch einen Dschungel aus Bürokratie kämpfen, ihre Rechte selbstständig einfordern und mit unzureichenden Beratungsangeboten zurechtkommen. Viele wissen gar nicht, welche Unterstützung ihnen zusteht. Wer plötzlich vor der Aufgabe steht, einen Angehörigen zu pflegen, sieht sich mit einem unübersichtlichen System konfrontiert. Die Möglichkeit einer Pflegeberatung bzw. einer unabhängigen Pflegeberatung kennen viele nicht. Und die, die sie in Anspruch nehmen, empfinden sie oft als oberflächlich und wenig hilfreich. 

Menschen, die bereits oftmals eine telefonische Pflegeberatung durchlaufen haben, fühlen sich nicht umfänglich über ihre Leistungsansprüche informiert. Die Krankenkassen haben eine Pflicht zur Pflegeberatung, allerdings - so wurde uns im Fachgespräch berichtet - muss man hier wissen, welche Fragen man stellen muss. Man wird gefragt, was man wissen will. Das weiß man aber nicht, wenn man gerade erst in dieser Situation angekommen ist. 

Noch schlimmer: Viele berichten, dass sie sich in einer akuten Pflegesituation von den zuständigen Stellen im Stich gelassen fühlen. Das fehlende Wissen führt häufig dazu, dass entlastende Angebote und Leistungen nicht genutzt werden, obwohl pflegende Angehörige dringend Entlastung benötigen. Das ist insbesondere nach Feierabend oder auch an Wochenenden der Fall, wenn Ansprechpartner*innen bei Behörden, Pflegekassen und Diensten nicht mehr erreichbar sind. 

Meine Damen und Herren! Es gibt zwar einzelne Maßnahmen, aber sie sind oft kaum bekannt. Ein Beispiel dafür sind die Nachbarschaftshelfer*innen. Für viele Menschen, die einfach helfen möchten, die unterstützen wollen beim Einkauf, im Haushalt, ist es eine völlig neue und ungewohnte Situation, sich plötzlich registrieren oder sogar schulen lassen zu müssen.

Wer jahrelang selbstverständlich den Gehweg für die ältere Nachbarin vom Schnee befreit hat, der fragt sich: Warum brauche ich jetzt eine offizielle Anmeldung und eine Ausbildung? Diese bürokratischen Hürden stehen der Bereitschaft zur Hilfe oft im Weg - und genau das müssen wir ändern.

(Beifall bei der Linken) 

Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass Hilfe einfacher wird - für diejenigen, die sie leisten wollen, und für diejenigen, die sie brauchen.

Meine Damen und Herren! In unserem Antrag haben wir dazu einige Punkte vorgeschlagen. Die oftmals unvermittelt eintretende Pflegesituation ist eine Ausnahmesituation für die Betroffenen, die diese emotional stark belastet - ein Umstand, der zu Überforderung und Hilflosigkeit führen kann. Deshalb wünschen sich viele eine Beratung, die sie mit ihren Problemen nicht allein zurücklässt. Viele Fragen ergeben sich außerdem erst im Verlauf einer Pflegesituation, bspw. dann, wenn diese sich verschlechtert. 

Dann tauchen oft Fragen auf wie: Wo finde ich Informationen zum Thema Entlastung, aber auch zur Frage des Umgangs mit Schuldgefühlen? Es ist wichtig, die pflegenden Angehörigen an dieser Stelle zu betreuen. Daher fordern wir ein Lotsensystem, welches durch das unübersichtliche System von Sozial- und Versicherungsleistungen und von ambulanten Hilfen führt. Einfacher wäre es, wenn ein Lotse die einzelnen Schritte vorgibt und diese dann nach einem Plan abgearbeitet werden können, also eine professionelle Begleitung durch Pflegelots*innen, die Angehörige durch das System führen, sie über ihre Rechte informieren und bei der Organisation der Pflege helfen, auch dann, wenn die pflegenden Angehörigen in den Urlaub fahren möchten, selbst Erholung brauchen oder auch einmal eine Reha in Anspruch nehmen müssen. 

Ferner braucht es ein Servicetelefon für Notfälle. Angehörige brauchen eine zentrale Anlaufstelle, die rund um die Uhr erreichbar ist, gerade für akute Notfälle außerhalb der regulären Sprechzeiten. Pflegende Angehörige sind oft hilflos, wenn sie selbst erkranken oder aufgrund von Notfällen plötzlich ausfallen. Manche verzichten sogar auf eigene Gesundheitsmaßnahmen wie OPs, Rehas, um ihre zu pflegenden Angehörigen nicht allein zu lassen. 

Hierbei müssen wir dringend unterstützen. Das kann eine unabhängige Pflegeberatung sehr gut, da sie keine eigenen Interessen vertritt, sondern einzig die individuelle Situation und die Bedarfe der Betroffenen und ihrer pflegenden Angehörigen im Blick hat. Aber wie schon eingangs erwähnt: Dazu müssen die Familien erst einmal wissen, dass es solche Beratungsangebote überhaupt gibt und sie zur Verfügung stehen und wie sie diese erreichen.

Meine Damen und Herren! Wir stehen an einem Punkt, an dem wir handeln müssen. Hinter jedem pflegebedürftigen Menschen steht eine Familie, die für ihn sorgt. Diese Menschen brauchen nicht nur unsere Anerkennung, sie brauchen echte Unterstützung. Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass Pflegearbeit endlich den Stellenwert bekommt, den sie verdient. - Vielen Dank.

(Beifall bei der Linken und bei den GRÜNEN)

Vizepräsidentin Anne-Marie Keding:

Frau Anger, es gibt eine Nachfrage von Herrn Hövelmann.


Nicole Anger (Die Linke): 

Oh! 


Vizepräsidentin Anne-Marie Keding:

Herr Hövelmann, bitte.


Nicole Anger (Die Linke): 

Er war so ins Gespräch mit Frau Gensecke vertieft. Das überrascht.


Holger Hövelmann (SPD): 

Vielen herzlichen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Anger, ich will einmal einen Satz vorwegstellen: Ich habe mit meiner Frau bis zum Tod meiner Mutter im letzten Jahr selbige gepflegt. Bis zum Wechsel meiner Schwiegermutter in ein Pflegeheim haben wir auch unsere Schwiegermutter gepflegt. Ich habe also eine persönliche Erfahrung bei dem Thema, über das wir reden. 

Die Beschreibung, die Sie gerade gemacht haben, finde ich nicht zutreffend. Sie haben ein Bild gezeichnet, dass alle Pflegenden, also Angehörige, Freunde, Familie, mit der Situation völlig überfordert sind, keinerlei Informationen haben. Das stimmt nicht.

(Beifall bei der CDU und bei der SPD)

Deshalb will ich fragen: Sind Sie mit mir einer Meinung oder ich frage nach Ihrer Auffassung dazu, dass es nicht immer automatisch eine Pflicht des Staates ist, mit einem Rundum-sorglos-Paket auf die Menschen zuzugehen und zu sagen: „Suche dir etwas aus, das du brauchst“, sondern dass es auch eine Holpflicht der Menschen ist, sich die Hilfsangebote zu organisieren,

(Beifall bei der CDU und bei der SPD)

die es gibt und die es braucht, und dass heute schon genügend Informationsmöglichkeiten vorhanden sind? Dazu hätte ich gern Ihre Einschätzung gewusst.


Nicole Anger (Die Linke): 

Vielen Dank, Herr Hövelmann, für diese Nachfrage und für den persönlichen Einblick. Ich habe meinen extra außen vorgelassen, weil ich nicht meine persönliche Situation schildern möchte, sondern die der pflegenden Angehörigen, die uns im Sozialausschuss im Fachgespräch vorgestellt wurden. Ich empfehle Ihnen ausdrücklich das Protokoll des Fachgespräches aus dem Sozialausschuss, aus dem Sie die entsprechenden Punkte entnehmen können. Es ist in der Tat für die meisten eine herausfordernde Situation.

Wenn ich uns beide anschaue: Wir sind vielleicht noch in einer prädestinierteren Situation, dass uns Ansprechpersonen eher bekannt sind als Menschen, die nicht in diesem Parlament tätig sind oder als Menschen, die bspw. nicht bei einer Krankenkasse arbeiten oder Ähnliches. Es ist in der Tat schwierig, an Informationen heranzukommen. Ich habe ausgeführt, dass von den Pflegekassen erwartet wird, dass man die richtigen Fragen stellt. Das habe ich mir nicht ausgedacht, das haben die pflegenden Angehörigen gesagt. Wenn man nicht die richtigen Fragen stellt, bekommt man keine Antwort, weil die Pflegekasse fragt: Was wollen Sie denn wissen? Wenn ich nicht weiß, was ich wissen muss und wo ich diese Fragen beantwortet bekomme, kann ich diese nicht stellen.

Insofern ist es unsere Aufgabe, die Punkte, die wir bereits haben, besser zu präsentieren, besser zu vernetzen, besser öffentlich zu kommunizieren und eine entsprechende Lotsenfunktion, wie in unserem Antrag gefordert, einzurichten, damit ich einen Anlaufpunkt habe, an den ich mich wende, den ich anrufe und der mich gefühlt an die Hand nimmt und durch dieses System führt, wenn ich selbst nicht dazu in der Lage bin. Genau das wollen wir mit unserem Antrag, und ich denke, da tun wir nicht zu viel, um den Menschen hier zu helfen. - Vielen Dank.