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Plenarsitzung

Transkript

Cornelia Lüddemann (GRÜNE): 

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Vor einigen Tagen begingen wir den Tag der Deutschen Einheit, ein bundesweiter Feiertag. 

Aber ganz ehrlich: Wie viele begeisterte Feiern von begeisterten Menschen, die sich zu Duzenden zusammengefunden haben, sind Ihnen bekannt? Welche Familien setzen sich an diesem Tag zusammen und erinnern sich an diese Ereignisse, die jetzt 33 Jahre zurückliegen. 

(Kathrin Tarricone, FDP: Meine, meine! - Minister Sven Schulze: Meine Familie! - Ministerin Eva Feußner: Meine!) 

- Es ist schön, dass Ihre Familie das tut, aber ich glaube und befürchte, dass es eher die Minderheit ist. 

Ich glaube, dass es ein Baustein zu dem Gefühl ist, das Menschen in diesem Land umtreibt, ein Gefühl der Fremdbestimmung, 

(Andreas Silbersack, FDP: Oh Mann! - Jörg Bernstein, FDP: Oh Mann! Fremdbestimmt seid ihr!) 

ein Baustein für das, was viele heute als „uns wurde damals so viel von Wessis übergestülpt“ beschreiben. 

Das wäre schon etwas anderes gewesen, wenn der 9. Oktober ein Feiertag wäre, der Tag, an dem die hochgerüstete bewaffnete Staatsmacht den friedlichen Demonstrantinnen und Demonstranten, den Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtlern, den Bürgerinnen und Bürgern mit Kerzen gegenüberstand. An dem Tag wurde die Freiheit verteidigt und das war ein Tag der Selbstermächtigung. 

(Beifall bei den GRÜNEN - Zustimmung von Eva von Angern, DIE LINKE)

Dieser Tag wäre es Wert, gefeiert zu werden. 

(Guido Kosmehl, FDP: Das machen wir in Leipzig übrigens jedes Jahr!) 

Oder wir nehmen den 9. November, einer der wenigen Tage, von denen jeder und jede noch weiß, wo er bzw. sie diesen Tag verbracht hat. An dem Tag, an dem endlich diese unsägliche Mauer, die im Herzen Deutschlands Europa trennte, durch den Druck mutiger Menschen in Ostdeutschland nachgab und zu Fall gebracht werden konnte. 

(Beifall bei den GRÜNEN)

Der 9. November, bei dem in jedem Kopf, egal, ob man dabei war oder nicht, sofort Bilder der Freiheit entstehen. 

An anderen Stellen ist ebenso wenig darauf geachtet worden, was vorher tatsächlich in diesem Teil des Landes passierte. Es ist mit Blick auf die Lebensgeschichten und die Tradition der Menschen nicht genug hingehört worden. Es gab wenig Interesse an ihren Lebensleistungen. Ich habe aufgrund meiner Biografie weiß Gott keinen Grund, dieses System zu verteidigen, aber es gehört zur Wahrheit, dass es einige Dinge gab, die es wert wären, aus dem Osten in das vereinte Deutschland übernommen zu werden. 

Natürlich - das will ich voranstellen - war die DDR ein Unrechtsregime, ein Unrechtsstaatsstaat, und das ohne Wenn und Aber. Ein Sturz des Regimes war die einzig mögliche Antwort, wenn man sich als Mensch und Bürger begreift. Eine echte Wiedervereinigung auf Augenhöhe mit denjenigen, die nach der ersten und einzigen freien Wahl in der DDR die Demokratie repräsentierten, bei der jeder Partner das Beste von seiner Seite einbringt, hat aber nicht stattgefunden. 

Ich will exemplarisch an den gescheiterten Verfassungsprozess erinnern. Das ist bis heute zu bedauern und nicht nur aus Identitätsgründen, sondern weil es das neue wiedervereinigte Deutschland vorangebracht hätte. Dafür haben viele Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler 1989 und 1990 gekämpft. 

(Beifall bei den GRÜNEN - Zustimmung von Eva von Angern, DIE LINKE) 

Es ist wohl unstrittig, dass das ideologiegetragene Schulsystem der DDR-Diktatur im Kern unmenschlich und auf keinen Fall vertretbar war. Aber die gemeinsame Beschulung aller Schülerinnen und Schüler bis zur 10. Klasse war sinnvoll. 

(Jörg Bernstein, FDP: Nö! - Lachen bei der AfD)

Der berufspraktische Unterricht in einem polytechnischen System war sinnvoll. 

(Beifall bei der FDP)

Das sind Themen, mit denen wir uns heute wieder sehr ernsthaft beschäftigen. 

Das sind Beispiele dafür, dass sich ein Blick ins System gelohnt hätte. Dann hätten wir diese Dinge heute nicht mit sehr viel Mühe wiederaufbauen müssen. 

Schauen wir uns die Bildungsstandards in unserem Land an. Kaum ein anderer Staat in der EU trennt und sortiert seine Kinder so früh wie wir hier in der Bundesrepublik Deutschland, in Sachsen-Anhalt sogar schon nach der 4. Klasse. Und nur wenige Länder in der EU schneiden in internationalen Vergleichen schlechter ab.

Ein anderes Beispiel: unser bundesweit gelobtes landesweites Angebot an frühkindlicher Bildung. Spitzenwerte erreichen wir in Sachen Betreuungsquoten. Das fußt auf dem System der damaligen Kinderbetreuung. 

Wir erleben aktuell, wie ein Westimport, nämlich die ärztliche Selbstverwaltung, Einzelarztpraxen und deren strikte Trennung vom stationären Bereich, absolut dysfunktional wird. Zunehmend schauen wir uns nach neuen Lösungen um. Ich glaube, vielen kommt das, was heute neu erfunden wird, doch sehr bekannt vor, wenn man an die Poliklinik oder an Schwester Agnes zurückdenkt. 

Aber insgesamt ist die Wiedervereinigung eine Erfolgsgeschichte. Es hat sich vieles positiv entwickelt. Wirtschaftlich, auf dem Arbeitsmarkt, in der Hochschullandschaft und in vielen anderen Bereichen ist Deutschland eine Einheit geworden. Wenn wir bspw. die derzeitigen Großinvestitionen angucken, dann steht Ostdeutschland sogar richtig gut da. Ich werde von Kolleginnen und Kollegen aus anderen Bundesländern oft darum beneidet. 

Trennendes besteht aber nach wie vor. Es existieren teilweise noch erhebliche Unterschiede zwischen alten und neuen Ländern. Exemplarisch sei auf die Einkommens- und Beschäftigungsmöglichkeiten, die Lohndivergenzen, die Haushaltsvermögen und das Rentenniveau verwiesen. Nach der friedlichen Revolution stieg bspw. das Bruttoeinkommen sehr rasch, um 31 %, in den 90er-Jahren auf 58 %. Doch seitdem geht es nur sehr, sehr langsam voran. Gegenwärtig liegt es noch immer mehr als ein Viertel unter dem Bruttoeinkommen im westlichen Teil. Da quasi eine Generation in unserem Land fehlt und der Anteil der Älteren und Alten immer größer wird, werden wir in dieser Situation auch noch vor weitere Herausforderungen gestellt werden. 

Oder nehmen wir die Netzentgelte, ein Paradebeispiel für neue Ungleichheit, für neue Ungerechtigkeit. Und eines kann ich der CDU nicht ersparen: Auch Sie waren offenbar zu schwach, hier etwas zu ändern, oder Sie waren daran in Ihrer Regierungszeit nicht interessiert. Aber Robert Habeck geht die Sache ja jetzt an.

(Beifall bei den GRÜNEN - Lachen bei der CDU - Guido Kosmehl, FDP: Das ist jetzt echt eine Drohung! - Jörg Bernstein, FDP, lacht - Zuruf von Xenia Sabrina Schüßler, CDU - Unruhe)

Gerade vor dem Hintergrund der von mir eben beschriebenen Dinge ist es nicht positiv genug zu bewerten, was die Menschen in den sogenannten neuen Ländern an Transformationsleistung erbracht haben. 

(Xenia Sabrina Schüßler, CDU: Ja!)

Vor 33 Jahren gab es in vielen Fällen eben kein Geld und nicht den politischen Willen, die Dinge zu erhalten - anders als das bei dem jetzigen Strukturwandel der Fall ist. Jetzt soll das Geld gezielt und mit den Menschen gemeinsam eingesetzt werden. Damals gab es viele Versprechen, die nicht gehalten wurden. Deshalb habe ich auch ein gewisses Verständnis dafür, deshalb kann ich auch nachvollziehen, dass manche die blühenden Landschaften jetzt nicht sehen können, auch wenn sie da sind. 

Deswegen ist es unheimlich wichtig, dass der Strukturwandel im Mitteldeutschen Revier gelingt - entschlossen raus aus der Kohle und rein in die kohlenstoffarme Wirtschaft. Der Ausbau erneuerbarer Energien und daran anschließend die Produktion und Speicherung von grünem Wasserstoff, das ist ein konkreter Fahrplan für ein zukunftsfestes Sachsen-Anhalt. Mit mutigem Agieren können der Saale- und der Burgenlandkreis ein Innovationsstandort für klimaneutrale Technologie und klimaneutrales Wirtschaften werden und damit eine gute Zukunft für die Menschen bieten.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Es geht eben nicht nur darum, Logistikfirmen mit geringer Wertschöpfung im Land anzusiedeln - das wäre sehr viel einfacher und sehr viel schneller umsetzbar  , sondern es geht darum, die begrenzten finanziellen Mittel für nachhaltige und zukunftsfähige Ideen einzusetzen. Wir haben in Sachsen-Anhalt das Potenzial, wir haben das Know-how für ökologische sowie marktfähige und zukunftsorientierte Geschäftsmodelle. Das gibt weiter Hoffnung für die Zukunft. 

Wir werden uns dafür einsetzen, dass Sachsen-Anhalt die Rahmenbedingungen dafür schafft, dass sich Unternehmen wie Meyer Burger - Fotovoltaik  , Tesvolt - Batteriesysteme  , Linde - grüner Wasserstoff  , Intel und andere mehr hier nicht nur ansiedeln, sondern auch bleiben und sich vergrößern. 

Hoffnung macht auch die Entscheidung, das Zukunftszentrum für europäische Transformation in Halle anzusiedeln und Sachsen-Anhalt damit einen weiteren Schub für eine erfolgreiche Entwicklung zu geben. Das Zukunftszentrum mit seiner Strahlkraft wird weit über Mitteldeutschland hinaus wirken. Die Aufgabe, aus den Erfahrungen der friedlichen Revolution in Ostdeutschland und allen Aspekten der deutschen Wiedervereinigung Ansätze und Erklärung für Transformationen in Osteuropa und vielleicht auch über Europa hinaus zu suchen und zu finden, Ansätze und Erklärungen, wie man den Umwälzungen der heutigen Zeit aktuell besser begegnen kann, das ist eine wichtige Aufgabe. Wir können stolz darauf sein, dass sie uns hier vor Ort zugetraut wird. 

Meine Damen und Herren! Mit dem Mut und der Tatkraft der Menschen hier wird Sachsen-Anhalt weiter erblühen und darüber freue ich mich.

(Beifall bei den GRÜNEN)