Dr. Reiner Haseloff (Ministerpräsident):
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Ich war von Anfang für diese Rede vorgesehen. Es muss falsch übermittelt worden sein. Frau Zieschang hatte nicht vor, für die Landesregierung zu sprechen. Das war kein Vorwurf, sondern nur eine Bemerkung.
In Europa herrscht Krieg. Zwei Flugstunden von Berlin entfernt sind vor einem Monat russische Truppen in die Ukraine einmarschiert. Ich habe damals, wenige Stunden danach, hier eine Regierungserklärung abgegeben. Dieser völkerrechtswidrige Krieg ist durch nichts gerechtfertigt; das habe ich bereits damals festgestellt. Und die letzten Wochen haben das umso mehr bestätigt.
Weder die Ukraine noch die NATO haben die Russländische Föderation bedroht. Putins Angriffskrieg hat viele Gewissheiten zerstört oder infrage gestellt hat. Er hat schon heute die Welt verändert und uns unsere Verletzlichkeit drastisch vor Augen geführt. Dieser Krieg ist auch ein Angriff auf die grundlegenden europäischen Werte, auf unsere Freiheit und unsere Demokratie.
Nicht nur für unser Land stellt dieser völkerrechtswidrige Krieg eine tiefe Zäsur dar. Er konfrontiert uns mit einer ganz neuen sicherheitspolitischen Wirklichkeit. Ein Diktator will mit Gewalt die europäische Sicherheitsarchitektur verändern, und zwar dauerhaft. Die Folgen dieses Krieges sind nicht absehbar. Er hat auch auf unseren Alltag konkrete Auswirkungen, so muss den Flüchtlingen geholfen werden und z. B. die Energieversorgungssicherheit bei bezahlbaren Preisen gewährleistet bleiben.
(Zustimmung)
Trotz allem sind wir nicht machtlos. Die Weltgemeinschaft muss jetzt zusammenstehen und entschieden handeln; denn vor unseren Augen ereignet sich eine humanitäre Katastrophe schlimmsten Ausmaßes. Tausende Soldaten und Zivilisten sind in den ersten vier Wochen des Ukrainekriegs ums Leben gekommen und täglich werden es mehr. In der Ukraine gibt es mehr als 10 Millionen Binnenflüchtlinge, das entspricht etwa einem Viertel der Bevölkerung.
Laut Schätzungen des UN-Flüchtlingskommissariats sind bislang mehr als 3,5 Millionen Menschen aus der Ukraine ins Ausland geflohen. Das ist der Stand vom 21. März 2022; die Zahlen sind sicherlich inzwischen weiter angestiegen. 225 000 von ihnen sind mittlerweile in Deutschland angekommen. Die tatsächliche Zahl dürfte noch viel höher sein. Das gilt auch für Sachsen-Anhalt. Offiziell registriert sind derzeit mit Stand vom 20. März 2022 mehr als 10 500 Flüchtlinge. Von einer weitaus höheren Zahl muss aber auch an dieser Stelle ausgegangen werden; denn täglich, fast stündlich kommen Busse und andere Fahrzeuge an, die Menschen in die Kommunen bringen, und zwar meist in Oberzentren wie Magdeburg und Halle.
Die Entwicklung ist kaum vorhersehbar. Die Herausforderungen sind zwar immens, aber wir werden sie annehmen. Unsere Solidarität gehört den Ukrainerinnen und Ukrainern.
Ich will aber deutlich sagen: Anfeindungen, Diffamierungen gegenüber in Deutschland lebenden russischen Menschen sind nicht hinnehmbar und auf das Schärfste zu verurteilen.
(Beifall)
Diese Menschen haben mit Putins Angriffskrieg nichts tun. Wir dürfen uns nicht gegeneinander ausspielen lassen.
(Zustimmung)
Sehr geehrte Damen und Herren! Solidarität erschöpft sich nicht in Worten, sie wird erst konkret durch Maßnahmen und Taten. Mein herzlicher Dank gilt den Menschen in Sachsen-Anhalt. Ihre Hilfsbereitschaft ist großartig. Vielerorts sammeln Hilfsorganisationen und private Initiativen Sachspenden für die Menschen in der Ukraine. Viele Vereine und Privatpersonen rufen zu Geldspenden auf. Es werden Hilfstransporte organisiert und dauerhafte Unterkünfte für Kriegsflüchtlinge bereitgestellt. Diese große Welle der Solidarität beeindruckt mich sehr.
Ich sage das auch mit Blick auf die jüdische Gemeinschaft in unserem Land. Sie ist durch vielfältige persönliche Verbindungen in besonderer Weise von diesem Krieg betroffen. Ich bin sehr dankbar für die große Hilfsbereitschaft der Gemeinden. Seit Kriegsbeginn unterstützen sie die Behörden auch mit ihren Sprachkenntnissen unermüdlich. Der jüdische Landesverband hat zudem sehr schnell und klar diesen Krieg Putins als völkerrechtswidrig verurteilt.
Es gibt einen breiten Konsens zur Aufnahme von Flüchtlingen aus der Ukraine in Sachsen-Anhalt. Unabhängig vom Königsteiner Schlüssel hat das Land Sachsen-Anhalt in den vergangenen Wochen im Bundesvergleich überproportional viele Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen. Die Zahl der Flüchtlinge, die das Land Sachsen-Anhalt aufnimmt, ist sogar um den Faktor 2 höher als das, was der Königsteiner Schlüssel ausweisen würde. Und wir werden den Menschen auch weiterhin helfen.
Im Landesverwaltungsamt wurde eine zentrale Koordinierungsstelle für die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine eingerichtet. Sie hat sämtliche damit verbundenen Aufgaben für das Land Sachsen-Anhalt übernommen und ist an sieben Tagen in der Woche rund um die Uhr erreichbar.
Im Rahmen des vom Sozialministerium geförderten Kooperationsprojektes „Koordinierungsstellen Engagement Ukraine“ wird mehrsprachig über Unterstützungsangebote vor Ort informiert. Die Koordinierungsstellen arbeiten eng mit den zwei großen Dachverbänden der migrantischen Selbstorganisationen im Land zusammen. Sie sollen die Arbeit der Landkreise und der kreisfreien Städte durch Sprachkompetenzen und Informationen ergänzen und unterstützen. Mit den regionalen Integrationskoordinatorinnen und koordinatoren sowie den Fachstellen tauscht sich das Land intensiv aus.
Mein großer Dank gilt den Kommunen im Land. Sie leisten herausragende Arbeit und erweitern permanent ihre Unterbringungskapazitäten. Zwischen dem Land und den Landkreisen sowie den kreisfreien Städten finden fortlaufend Abstimmungen und Besprechungen statt, auch heute mit den Landräten und den Oberbürgermeistern.
Zur Unterbringung der Flüchtlinge werden Gemeinschaftseinrichtungen, kommunale und private Wohnungen, Jugendherbergen, Hotels und andere geeignete Objekte genutzt. Ständig wird weiter akquiriert, um die zur Verfügung stehende Zahl zu erweitern; denn wir erwarten noch viele Kriegsflüchtlinge. Alle Kriegsflüchtlinge zeitnah in Wohnungen unterzubringen, wird aber immer schwieriger. Deswegen richten die Kommunen zunehmend auch Notunterkünfte in Hallen ein. Alle Landkreise und kreisfreien Städte haben zudem zentrale Anlaufstellen geschaffen. Dort können Kriegsflüchtlinge rund um die Uhr aufgenommen werden.
Darüber hinaus hat das Land zur temporären Entlastung der Kommunen Zwischenunterbringungsmöglichkeiten errichtet. Angesichts der Pandemielage werden neu ankommenden Kriegsflüchtlingen Coronaschnelltests zur Verfügung gestellt. Positiv getestete Personen werden in gesonderten Quarantänebereichen untergebracht.
Die Kosten für die Unterbringung der Kriegsflüchtlinge können aller Voraussicht nach nicht nur durch die regulären quartalsweisen Abschlagzahlungen im Rahmen der Kostenerstattung nach dem Aufnahmegesetz des Landes gedeckt werden. Daher wurde mit Erlass des Ministeriums für Inneres und Sport am 16. März 2022 eine kurzfristige Vorauszahlung in Höhe von 5 Millionen € an die Landkreise und die kreisfreien Städte als Maßnahme zur finanziellen Unterstützung veranlasst. Darüber hinaus hat sich der Bund grundsätzlich zu seiner Mitverantwortung bei der Finanzierung bekannt, in der letzten Ministerpräsidentenkonferenz auch protokolliert. Das betrifft sowohl die Kosten für die Unterbringung als auch für die Verpflegung und Betreuung der Flüchtlinge und ist auch zwingend notwendig.
Das Land wird bis zur abschließenden Klärung die Liquidität für die Kommunen sicherstellen. Ich bringe nur ein Beispiel: Es ist jetzt in Gang gesetzt worden, dass die Wohnungsgesellschaften ihre frei stehenden und zur Verfügung stellbaren Möglichkeiten in vollem Umfang anbieten. Aber es geht auch um die Ausrüstung bzw. um das Inventar. Wir brauchen Möbel, wir brauchen Dinge, die auf dem freien Markt nicht in der Zahl, in der wir sie benötigen, zur Verfügung stehen. Das heißt, wir müssen improvisieren und ggf. neue Kanäle erschließen.
Entscheidend ist aber das wird den Landräten und den Oberbürgermeistern heute noch einmal gesagt : Die entsprechende Kostendeckung ist sichergestellt, unabhängig davon, was wir in der Arbeitsgruppe, die zwischen Bund und Ländern geschaffen wurde, schlussendlich an Systematik für die Finanzierungsteilung entwickeln. Über die abschließende Ausgestaltung werden wir auf der Grundlage des Ergebnisses der gerade erwähnten Arbeitsgruppe in der Ministerpräsidentenkonferenz am 7. April mit dem Kanzler entscheiden. Wie gesagt, bis dahin ist die Liquidität durch uns gesichert.
Kinder und Jugendliche leiden besonders unter dem Krieg. Ihnen soll effektiv geholfen werden. Das Ministerium für Bildung bereitet sich aktuell auf die Aufnahme von zusätzlich rund 2 000 Schülerinnen und Schülern aus der Ukraine vor. Es sollen an 14 Standorten Ankunftsklassen im Primarbereich und an 14 weiteren Standorten im Sekundarbereich eingerichtet werden. Für diese Standorte werden befristet qualifizierte ukrainische Pädagogen eingestellt. Auch diesbezüglich werden wir sehr pragmatisch entscheiden. Wir wissen, wie die Berufsanerkennungsverfahren nach deutschem System laufen und wie aufwendig sie sind. Wir sind in einer Ausnahmesituation; deswegen müssen ganz schnell praktikable Lösungen und Entscheidungen herbeigeführt werden.
Geplant ist ferner, Sprachlehrkräfte und Sprachmittler einzusetzen. Ziel ist die Schaffung eines flexiblen und bedarfsgerechten Einstiegsangebotes. Kinder und Jugendliche sollen sukzessive in den Schulalltag integriert werden. Wir möchten ihnen so viel Normalität wie möglich sowie einen strukturierten Tagesablauf ermöglichen. Beides kann dazu beitragen, die Traumata des Krieges zu überwinden.
Das gilt auch für die Integration in den Arbeitsmarkt. Eine Beschäftigungsaufnahme für Geflüchtete ist bereits nach der Ausstellung der Fiktionsbescheinigung möglich. Sie wird bei der Beantragung der Aufenthaltserlaubnis sofort ausgestellt. Die unbürokratische Erteilung führt also zu der Möglichkeit, schnell in den Arbeitsmarkt zu kommen.
(Zustimmung)
Im Falle einer Beschäftigungsmöglichkeit kann der Lebensunterhalt so also schnellstmöglich aus eigenen Mitteln gesichert werden.
(Zustimmung)
Das wurde mir gegenüber bei meinem Besuch in Halle von Betroffenen zum Ausdruck gebracht. Sie wollen so schnell wie möglich arbeiten. Weil es sich mehrheitlich um erwachsene Frauen handelt, ist es wichtig, dass wir das mit den Kitas so schnell wie möglich hinbekommen. Wir wissen, die Zugangsvoraussetzung ist die Masernimpfung. Wir als Gesundheitskabinett haben mit den medizinisch Verantwortlichen vor zwei Tagen zusammengesessen und haben dafür grünes Licht gegeben, wie wir das gemeinsam organisieren, damit das ganz schnell funktioniert, sodass sowohl die Arbeitsmarktintegration als auch die Betreuung der Kinder sichergestellt ist. Wir wollen den vor dem Krieg aus der Ukraine nach Sachsen-Anhalt geflüchteten Menschen so gut wie möglich helfen und ihnen Perspektiven bieten.
Sehr geehrte Damen und Herren!
„Sorgt Ihr, die Ihr noch im Leben steht, dass Frieden bleibe, Frieden zwischen den Menschen, Frieden zwischen den Völkern.“
Mit diesen Worten hat Bundespräsident Theodor Heuss nach dem Zweiten Weltkrieg den Toten eine Stimme gegeben und er hat die Aufgaben für die Überlebenden und die Generationen nach ihnen definiert. Seine Mahnungen und sein eindringlicher Appell sind heute aktueller denn je. - Herzlichen Dank.
(Beifall)
Vizepräsident Wulf Gallert:
Danke, Herr Ministerpräsident. - Es gibt zwei Fragen. Zuvor will ich die darauf folgenden Redner darauf hinweisen, dass ich eine Überziehung der Redezeit durch die Landesregierung um sieben Minuten feststelle. Das heißt, jeder folgende Redner hat eine Redezeit von zwölf Minuten. Er muss sie aber nicht ausnutzen. - Frau Quade, bitte.
Henriette Quade (DIE LINKE):
Vielen Dank. - Herr Ministerpräsident, ich habe eine Frage zu dem, was Sie sagten. Es geht um den Bereich Bildung. Ich stolpere, ehrlich gesagt, seit ein paar Tagen über meines Erachtens sehr unterschiedliche Aussagen aus den Reihen der Landesregierung bzw. der regierungstragenden Fraktionen zu der Frage, was denn jetzt der Ansatz der Landesregierung sei.
Wenn ich auf den Antrag der Koalitionsfraktionen schaue, dann stelle ich fest, dass dort einerseits steht zutreffend, wie ich finde , was die Voraussetzungen für gelingende Integration sind, nämlich gemeinsamer Spracherwerb in Schule und Kitas im Umfeld mit Gleichaltrigen, dass aber andererseits der Antrag das sagten Sie jetzt in Ihrer Rede; darauf beziehe ich mich mit meiner Frage den Ansatz zentraler Schulstandorte verfolgt aus dem, was Sie sagten, schließe ich, einen pro Landkreis, je nach Schulform , in denen eine gesonderte Beschulung stattfinden soll.
Die Frage, die sich mir stellt, ist: Was ist denn nun der Ansatz der Landesregierung - Integration oder Aussonderung an gesonderten Schulstandorten?
Dr. Reiner Haseloff (Ministerpräsident):
Wir haben es hierbei mit einer Frage hinsichtlich des Rechtsstatus zu tun. Deswegen auch die momentane Diskussion mit dem Bund: Lassen wir alles über das SGB II laufen, d. h., orientieren wir auch mit Blick auf die Leistungsgewährung auf eine dauerhafte Integration? Oder legen wir mit Blick auf die Leistungen das Asylbewerberleistungsgesetz zugrunde? Schon an dieser zu entscheidenden Frage, die jetzt die Arbeitsgruppe auf der Bundesebene bearbeitet, ist zu erkennen, dass es sehr unterschiedliche Bedürfnisse der Menschen gibt, die zu uns kommen. Die meisten wollen so schnell wie möglich wieder weg. Das ist ganz klar. Sie hoffen, dass die kriegerischen Aktivitäten in der Ukraine eingestellt werden und dass sie nach einer kurzen Sicherungsphase so schnell wie möglich, so ihre Ortschaften noch stehen und sie überhaupt in der Lage sind zurückzukehren, in ihre Heimat zurückkehren können.
Das ist immer wieder geäußert worden, sodass auch vor diesem Hintergrund die Integrationsüberlegungen und auch unser Leistungsangebot sehr ausdifferenziert organisiert werden müssen. Das heißt: Für diejenigen, die ein klares Signal geben, dauerhaft hierbleiben zu wollen, muss etwas anderes im Angebot sein, als für diejenigen, für die nur zwischenzeitlich eine Betreuung notwendig ist und die Sicherheit gewährleistet werden muss, die sie vor Ort, zu Hause, nicht hatten. Demzufolge ist in dieser Anfangsphase unsere Schulgesetzgebung im Hinblick auf die Schulpflicht und all diese Dinge sehr differenziert zur Anwendung zu bringen.
Wir brauchen jetzt wirklich einen sehr flexiblen ich möchte es einmal so bezeichnen Handlungskanon, der sich von den Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger, die zu uns gekommen sind, ableitet. Wir sind gerade dabei, das bei der Erfassung festzustellen. Es wird versucht, das beim Erstkontakt einzugrenzen, damit wir das, was wir von der Systematik her aus der Metaebene heraus nach unten durchgeplant haben, dann auch zur Anwendung kommt.
Diese zwölf Standorte, die ich genannt habe, haben übrigens nicht automatisch etwas mit den Landkreisen zu tun. Wir wissen, wo es aufgrund der Ankünfte Konzentrationen gibt, wo die Busse mehrheitlich eintreffen usw. usf. Wir wissen, was z. B. in Magdeburg und in Halle für Zahlen zu bewältigen sind und in welchem Umfang in den ländlichen Landkreisen derzeit Flüchtlinge ankommen. Das muss bis hin zu dem Personalangebot, das wir rekrutieren können, sehr unterschiedlich entwickelt werden.
Obwohl es uns schon unendlich lange vorkommt, befinden wir uns - ich möchte es einmal so sagen - erst wenige Tage in diesem Krieg in Europa mit all den Konsequenzen. Sie können doch nicht erwarten das sieht man auf der Bundesebene genauso, weil man auch dort nach Lösungswegen sucht, wie man bestimmte Sachen koordiniert und strukturiert , dass wir hierfür schon überall die Patentlösung haben, zumal - das ist entscheidend - diese Bürgerinnen und Bürger auf der Basis eines Visums hierherkommen und bis hin zum Wohnort selber entscheiden können, wohin sie wollen und was mit ihnen und ihren Kindern passiert.
Diskussionen auf der Kultusministerkonferenz von ukrainischen Botschaftsangehörigen zu dem Thema „Bildungssystem Deutschland und Integrationsnotwendigkeit und -wunsch“ möchte ich an dieser Stelle nicht weiter vertiefen, weil uns das durchaus einen Reflex gibt, über unsere eigene Qualität nachzudenken.
Vizepräsident Wulf Gallert:
Jetzt noch eine kurze Nachfrage von Frau Quade.
Henriette Quade (DIE LINKE):
Ehrlich gesagt, bin ich jetzt ein bisschen verwirrter als vorher.
(Zustimmung)
Verstehe ich Sie richtig, Herr Ministerpräsident, dass die gesonderten Schulstandorte dazu dienen, eine Extra-Beschulung für ukrainische Kinder sicherzustellen, weil Sie davon ausgehen, dass sie sowieso nicht lange hierbleiben werden und deswegen eine Integration in Regelschulen nicht funktionieren würde?
(Beifall - Unruhe)
Wenn ich Sie falsch verstanden habe, dann haben Sie die Gelegenheit, das richtigzustellen.
Dr. Reiner Haseloff (Ministerpräsident):
Nein, ich habe Ihnen das gesagt.
(Zurufe)
Ich kann im Rahmen der Redezeit der Landesregierung gern an Eva Feußner als zuständige Ministerin abgeben, wenn es der Präsident erlaubt. Es ist ein sehr differenziertes Verfahren notwendig, weil die Bedürfnisse, die wir zu befriedigen haben, sehr unterschiedlich sind. Das hängt schlicht und einfach davon ab: Wenn jemand länger oder dauerhaft hier bleiben will, dann brauchen wir eine andere Integrationsmöglichkeit dazu haben wir unsere Erfahrungen aus den Jahren 2015 ff. als bei denjenigen, die teilweise nur einen oder zwei Tage bei uns bleiben, sich nicht einmal abmelden müssen und schlicht und einfach zu gefundenen Verwandten, Bekannten usw. in Deutschland oder in Europa weiterziehen.
Wir haben es hierbei mit einer riesigen Dynamik zu tun. Die Landräte und die Oberbürgermeister signalisieren mir jeden Tag, dass die Registrierungen und der Versuch, Platz bzw. Unterbringungsmöglichkeiten zu finden, nicht immer von Erfolg gekrönt ist, weil schon nach Stunden eine Weiterreise erfolgt ist.
Wir in Europa müssen jetzt einfach zur Kenntnis nehmen, dass wir mitten in einem riesigen Bevölkerungsfluss sind, der durch diesen Krieg erzeugt wurde. Wir werden uns unter Berücksichtigung der vorhandenen Möglichkeiten sehr flexibel anpassen. Wir werden dieses Thema - darin bin ich mir sicher - in zwei Jahren noch immer auf der Tagesordnung dieses Landtages haben.
(Unruhe)
Vizepräsident Wulf Gallert:
Es gibt jetzt eine Frage von Herrn Lippmann. Um das kurz zu sagen, Herr Ministerpräsident: Wenn die Landesregierung das will, kann sehr wohl auch Frau Feußner darauf antworten. Aber ich weiß ja nicht, welche Frage Herr Lippmann stellen will.
Dr. Reiner Haseloff (Ministerpräsident):
Wir warten erst einmal die Frage von Herrn Lippmann ab.
Vizepräsident Wulf Gallert:
Herr Lippmann stellt jetzt erst einmal seine Frage an den Ministerpräsidenten. Danach können Sie selber entscheiden. - Herr Lippmann, Sie haben das Wort.
Thomas Lippmann (DIE LINKE):
Vielen Dank, Herr Präsident. - Es geht um das gleiche Thema. Das waren jetzt sehr ausführliche Antworten. Wir haben einen Schulleiterbrief der Ministerin vor zwei Tagen zur Kenntnis genommen. Darin ist nur von Anfangsklassen ganz allgemein die Rede, nicht von diesen Standorten.
(Zuruf - Unruhe)
Das, was Sie jetzt geschrieben haben, ist trotzdem nichts anderes als das, was wir seit 2015 haben. Sie haben einen anderen Sachverhalt jetzt aufgemacht, der bisher keine Rolle spielte. Wir haben ein etabliertes System, wie mit migrantischen Kindern in den Schulen umgegangen werden muss. Wir fragen uns nach wie vor, warum wir jetzt diese Lex Ukraine kriegen. Sie haben die Schnittstelle aufgemacht: Man fragt sie, ob sie schnell wieder zurück wollen. - So habe ich es verstanden.
Wer nicht schnell wieder zurück will, der durchläuft sozusagen das normale Integrationsprozedere. Sie sind bisher auch weitergezogen. Auch EU-Migrationskinder sind weitergezogen,
(Zuruf von Ministerpräsident Dr. Reiner Haseloff)
aus Bulgarien, aus Rumänien. Jetzt machen wir für die Ukraine auf einmal etwas völlig anderes, was wir im Prinzip seit sieben Jahren nicht machen.
(Zuruf: Sie wollen das so! - Daniel Rausch, AfD: Sie wollen das so! Mensch!)
Sie wollen also Tausende Kinder an zwölf oder 14 Standorten zusammenfassen. Dann haben wir 150 Kinder, 200 Kinder an einem Standort. Das sind 15 oder 20 Klassen. Das ist doch alles Ich sage es jetzt einmal - nein, ich sage es nicht, was es ist. Das ist doch eine Idee, die nicht funktioniert. Also, das sieht man doch schon im Vorhinein. Es gibt doch nur Probleme.
Dr. Reiner Haseloff (Ministerpräsident):
Herr Lippmann, nehmen Sie doch bitte zur Kenntnis, dass in den letzten vier Wochen, in denen Krieg in Europa stattfindet, dessen Auswirkungen wahrscheinlich noch relativ lange zu verzeichnen sein werden, die Europäische Union eine Entscheidung getroffen hat bezüglich der Flüchtlingsströme, die eine völlig andere Rechtsbasis hat, sowohl bezüglich der Handhabung der EU als auch der Handhabung in Deutschland, was den Status dieser Bürgerinnen und Bürger aus der Ukraine anbelangt.
(Beifall)
Sie sind, um humane Leistungen anbieten zu können, um helfen und Leben retten zu können, erst einmal aus Praktikabilitätsgründen über ein Tourismusvisum hier bei uns und können sich frei bewegen, mit allem Drum und Dran, sodass wir, was die Regularien angeht, die wir für Asylbewerber haben, von der Registrierung über die zeitweise Residenzpflicht bis hin auch zu den rechtlichen und finanziellen Konsequenzen, welches Gesetz eigentlich greift, eine völlig andere Situation haben.
Dass jetzt z. B. die Arbeitsgruppe in Berlin arbeitet, acht Länder, also vier plus vier, A und B, und die Bundesregierung, das hängt genau damit zusammen, dass bezüglich der Integration und der Kostentragung usw. usf. bezüglich dieses Status derzeit eigentlich keines unserer Gesetze, die für den Frieden gemacht sind, greift. Eigentlich brauchen wir etwas genau in der Mitte, weil nämlich bei der Anwendung des SGB II die Kosten der Unterkunft und die Belastung der Kommunen in einem ganz anderen Bereich und vom Volumen her gesehen in einer ganz anderen Dimension sind. Demgegenüber steht das Asylbewerberleistungsgesetz.
Wir bieten den ukrainischen Bürgerinnen und Bürgern, Frauen und Kindern, Vulnerablen, Älteren usw. viele Leistungen. Ich habe gerade erlebt, wie wir einen Patienten, der nierenkrank ist, sozusagen bei uns im Krankenhaus mit einem sehr erheblichen Aufwand unterbringen mussten, damit er nach den Fluchttagen mit allem Drum und Dran überhaupt überlebt. Es muss klar sein, für welche medizinischen Leistungen der Kostenträger aufkommt und in welchem Status diese Personen sind, die erst einmal als Touristen bei uns sind.
Wenn Sie in der Situation, dass dort Not am Mann oder an der Frau ist, sind, während Sie als Tourist möglicherweise über Ihre eigene Botschaft, wenn dort Frieden wäre, dorthin zurückgeführt würden, und Sie hierbleiben, dann muss klar sein, wer die Behandlung macht, wo die Dialyse durchgeführt wird wie in dem eben von mir genannten konkreten Fall; das sind immerhin 100 000 € im Jahr und wo der Arzt sozusagen seine Rechnung bezahlt bekommt. Darüber müssen wir Klarheit haben.
Das Entscheidende ist, wir helfen. Wir werden jedem helfen, der kommt. Wir sind human. Wir werden Menschenleben retten.
Alles, was Sie jetzt versuchen, bürokratisch durchzudeklinieren, und was Eva Feußner für ihren Geschäftsbereich gern noch etwas für Sie untersetzen wird, das ist sozusagen völlig nachrangig gegenüber dem, was als humane Aufgabe momentan in Europa vor uns steht. Darauf sollten wir uns konzentrieren.
(Zustimmung)
Vizepräsident Wulf Gallert:
Ich würde jetzt in Anbetracht der Zeitabläufe dafür plädieren, dass die nähere Erläuterung vielleicht im Ausschuss realisiert werden kann.
(Zurufe: Genau! - Sehr richtig!)
Wir haben jetzt eine Antwort der Landesregierung bekommen. Das wäre jetzt meine Bitte.
Dann würden wir jetzt in die Debatte der Fraktionen eintreten.