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Plenarsitzung

Transkript

Eva von Angern (DIE LINKE):

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordneten! „Mehr Fortschritt wagen“, das ist das Leitmotiv des Koalitionsvertrages von SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP. Welche Überraschung, dass Sie sich nicht für den Slogan „Mehr Rückschritt wagen“ entschieden haben. Fortschritt ist das, was alle Parteien grundsätzlich wollen. Aber das sagt erst einmal noch nichts.

(Zuruf)

Das Leitmotiv soll an das berühmte Zitat von Willy Brandt aus seiner damaligen Rede als Bundeskanzler im Herbst 1969 erinnern. Damals hieß es: „Wir wollen mehr Demokratie wagen.“ Nun, 52 Jahre später, sind das „Wir“ und das „wollen“ unter die Ränder gekommen.

(Zuruf: Och!)

Wir alle wissen, diese Aktuelle Debatte ist vor allem eines: ein politisches Ritual, eine vorgezogene Lobeshymne für eine Bundesregierung, die bisher kaum etwas geleistet hat.

Ich denke, Sie verstehen, dass wir als LINKE nicht bereit sind, eine Koalition zu feiern, die bereits jetzt für Deutschland wichtigen Projekten, wie der Bürgerversicherung und der Besteuerung höherer Einkommen und Vermögen, eine offizielle Absage erteilt hat.

(Beifall)

Hauptsache, Herr Scholz ist Kanzler!

Meine Damen und Herren! Die Herausforderungen sind groß. Eine ist die Bekämpfung der Pandemie und ihrer Folgen. Wir schaffen das nur gemeinsam als Bund, als Länder und selbstverständlich auch mit der LINKEN in den vier Ländern, in denen sie in der Regierungsverantwortung steht.

Die erste politische Handlung der Ampel-Koalition war, mitten in der vierten Welle die epidemische Lage aufzuheben. Herr Lauterbach verkündet den Impfmangel und zeitgleich fordert er eine Impfpflicht ein.

(Zuruf)

Herr Buschmann ruft schon einmal für den 20. März nächsten Jahres den „Freedom Day“ aus. Das alles lässt nichts Gutes ahnen.

(Zustimmung)

Einer der Tiefpunkte aber ist, liebe SPD:

(Zuruf)

Sie wollen im Bund den Eindruck hinterlassen, als hätten Sie mit all dem, als hätten Sie nichts mit der vorhergehenden Bundesregierung, nichts mit dem staatlichen Versagen bei der Impfstoffbeschaffung zu tun. Wenn das auch noch der damalige Vizekanzler jetzt in seiner neuen Rolle sagt, dann ist es absurd.

(Beifall)

So werden Sie an der Aufgabe scheitern.

Meine Damen und Herren! Ich komme zu den positiven Dingen. Allerdings sind sämtliche dieser Punkte bisher nur angekündigt worden.

(Zuruf)

Ja, Sie wollen einige überfällige gesellschaftliche Modernisierungsschritte gehen. Das Staatsangehörigkeitsrecht soll reformiert werden. Das Wahlalter soll auf 16 Jahre sinken. Das ist gut so. Im Übrigen ist das in allen Ländern bereits so, in denen DIE LINKE mitregiert. Für Frauen und Ärztinnen kommt ein lange überfälliges Signal: Der § 219 StGB soll endlich gestrichen werden.

(Beifall)

Haben Sie dann bitte den Mut zu mehr: Streichen Sie die §§ 218 ff. aus dem Strafgesetzbuch und setzen Sie sich für das Selbstbestimmungsrecht der Frauen ein!

(Beifall)

Als Mitglied des Netzwerkes gegen Kinderarmut freut es mich natürlich im Besonderen, dass die Kindergrundsicherung, eine langjährige Forderung meiner Partei, eingeführt wird. Insofern kann ich mich nur bei allen Vertretern auch hier im Hause dafür bedanken, die sich in diesem Netzwerk engagieren.

Ich erinnere gern an die hochkarätig bundespolitisch besetzte Diskussion im Rathaus von Magdeburg im Jahr 2019. Ein solches Engagement wirkt. Aber es kommt eben jetzt darauf an   das ist die Fehlstelle im Koalitionsvertrag  : Wie hoch wird die Kindergrundsicherung sein? Wie wird sie bemessen? Die Kindergrundsicherung wird nur dann für Geringverdiener tatsächlich eine Verbesserung darstellen, wenn sie deutlich über dem Kindergeld liegt. Die Kindergrundsicherung wird für Hartz-IV-Empfängerinnen nur dann eine Verbesserung sein, wenn sie deutlich über den jetzigen Regelsätzen liegt.

(Beifall)

Meine Damen und Herren! All diese Ankündigungen sind zunächst ein Fortschritt gegenüber der vorhergehenden Koalition, allerdings ein Fortschritt auf dem Papier. Wir wissen aus den Erfahrungen der letzten Wahlperiode, dass das nicht immer reicht. Ich erinnere an die traurige Debatte um Kinderrechte im Grundgesetz, die es bis heute nicht ins Grundgesetz geschafft haben. Gehen Sie deswegen davon aus: Wir werden Sie nicht an Ihren Worten, sondern selbstverständlich an Ihren Taten messen.

(Zustimmung)

Bei politischen Bündnissen mehrerer Parteien ist es nicht überraschend, dass auch Kompromisse gefunden werden müssen. Überraschend ist es nur dann, wenn ein oder zwei Partner diese Kompromisse kategorisch im Wahlkampf ausgeschlossen haben. Einige Beispiele sollen hier genannt werden: Das Tempolimit kommt nicht. Steuererhöhungen kommen nicht. Höhere Belastungen für Superreiche kommen nicht. Die Schuldenbremse bleibt.

(Zustimmung)

Finanz- und haushaltspolitisch ist dieser vorliegende Koalitionsvertrag ein Offenbarungseid:

(Zustimmung)

keine Entlastung für kleine und mittlere Einkommen   das ist übrigens etwas, das Sie alle drei im Wahlkampf besprochen haben   

(Beifall)

und keine Vermögenssteuer, die den Kommunen in Sachsen-Anhalt tatsächlich geholfen hätte, die sie dringend gebraucht hätten.

Unterm Strich lässt sich sagen: Sie wollen das Land moderner und liberaler machen. Aber die Kluft zwischen Arm und Reich bleibt bestehen.

(Beifall)

Für Verbesserungen für die arbeitende Bevölkerung wird die Erhöhung des Mindestlohnes auf 12 € gerade in einem Land wie Sachsen-Anhalt sicherlich sorgen. Aber was ist mit der Bürgerversicherung geworden? Was bedeutet ganz konkret die Formulierung „stabile Renten für ein Land wie Sachsen Anhalt“? Das bedeutet für uns Altersarmut. Für Ostdeutschland kann ich nur sagen: Altersarmut hat ein ostdeutsches, vor allem ein weibliches Gesicht. Das heißt, wir brauchen keine stabilen Renten, wir brauchen ein Mehr an Rente. Wir brauchen eine große Steuer- und eine große Rentenreform.

(Beifall)

Hinzu kommt, dass die mehr als fünf Millionen Menschen, die von Hartz IV betroffen sind, weitgehend leer ausgehen. Es gibt kaum materielle Verbesserungen. Ich glaube, wir sind uns einig darin, dass eine Umbenennung keine Verbesserung ist.

(Zuruf)

Auf die längst überfällige Einsicht, dass Menschen ihre Würde eben nicht durch ständig drohende Sanktionen genommen werden darf, müssen die Menschen weiter warten.

Meine Damen und Herren! Der vorgezogene Kohleausstieg ist doch nicht ernsthaft der Verdienst der Ampel. Das ist eine politische Konsequenz aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes.

Das Ziel der Klimaneutralität zu erreichen und zu gewährleisten wird das Leben eines jeden Menschen auf dramatische Weise verändern.

(Zuruf)

Es wird die sozial ohnehin schon tief gespaltene Gesellschaft weiter spalten, wenn die Kosten der Klimawende auf die Verlierer der Modernisierung abgewälzt werden sollen. Schon jetzt wissen wir ja, dass die Verlierer dieser Veränderungen vor allem Menschen mit geringem Einkommen sind. Klimaschutz ist für diese Koalition vor allem ein Geschäftsmodell, das die Profite der Konzerne möglichst nicht antasten soll.

(Beifall - Zuruf - Unruhe)

Über eine einmalige Anpassung des Mindestlohns und eine soziale Abfederung des Kohleausstiegs hinaus findet sich eben in diesem Koalitionsvertrag keinerlei weitere Umverteilung, keine Steuer zur Belastung der besonders großen Vermögen im Land, keine Erhöhung der Einkommensteuer für Besserverdienende, keine steuerliche Entlastung von Geringverdienern, geschweige denn eine sozial gerechte Änderung des Erbschaftssteuerrechts.

An die Adresse von SPD und GRÜNE gerichtet   bei der FDP mache ich mir diesbezüglich keine Hoffnung  : Wo an der Verteilungspolitik nichts geändert wird, wird automatisch die soziale Ungleichheit zunehmen.

(Beifall)

Ein Finanzminister Lindner wird doch nichts dafür tun, um diese Ungerechtigkeit zu beheben. Er ist der Pate des leistungslosen Reichtums, die Stütze der Spekulanten, während für anständige Löhne in den Krankenhäusern und in den Pflegeeinrichtungen angeblich kein Geld da ist. Sie haben nicht nur in Sachsen-Anhalt den Bonus für diese Beschäftigten abgelehnt, sondern dies auch im Bund in das nächste Jahr verschoben. Mal schauen, ob es kommt. Das ist ein katastrophales Signal an diejenigen, die gerade von Überbelastung massiv betroffen sind, die immer mehr kündigen, weswegen wir nicht nur auf einen Fachkräftemangel zugehen, sondern uns in diesem Bereich bereits in einem Fachkräftemangel befinden.

Meine Damen und Herren! Sie sprechen hier von „Zukunft“. Auch heute ist das Wort oft gefallen. Doch wenden wir uns der kalten Gegenwart zu. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes haben rund zwei Millionen Menschen in Deutschland zu wenig Geld, um im Winter ausreichend heizen zu können. Das Versprechen, das Sie abgegeben haben, die EEG-Umlage im Jahr 2023 abzuschaffen, wird in diesem Winter kein Kinderzimmer heizen. Das sind die alltäglichen Probleme von zwei Millionen Menschen in unserem Land. Ich habe große Sorge, dass unter den Bedingungen der gewaltigen klimapolitischen Veränderungen die Spaltung unserer Gesellschaft ungeahnte Dimensionen erreichen wird.

Die Schere zwischen Arm und Reich wird weiter aufgehen. Wir müssen begreifen, dass das Wagnis des durchaus alternativlosen klimapolitischen Wandels vor allem eines sein wird: eine Herausforderung. Im Mittelpunkt steht: Es ist ein soziales Wagnis. Ich bitte Sie: Schauen Sie in die USA. Erinnern Sie sich an die Entwicklungen, die im Jahr 2016 zum Wahlsieg von Donald Trump geführt haben. Nancy Fraser spricht von einer „quasi halbierten Sozialpolitik in den USA“, auf der einen Seite die bürgerlich geprägte sozialpolitische Allianz des progressiven Liberalismus und auf der anderen Seite die abgehängten Arbeiterinnen in dem sogenannten industriellen Rostgürtel der USA.

Als LINKE versprechen wir Ihnen: Wir werden weiterhin die Stimme derer sein, die sich der unteren Mittelklasse zuordnen müssen, die bereits abgehängt sind. Wir werden sie weiter hier in den politischen Diskurs hineintragen.

Vielleicht denken Sie gelegentlich auch an die weiteren Worte von Willy Brandt: Wo Hunger herrscht, herrscht kein Frieden. Wo bestehende Gräben in der Gesellschaft tiefer zu werden drohen und neue hinzukommen werden, sind gesellschaftliche Brücken nötiger denn je.

Deshalb sage ich: Wir brauchen vor allem mehr Menschlichkeit in unserer Gesellschaft. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall)