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Plenarsitzung

Hinter jedem Namen ist eine Lebensgeschichte

Gedenkstunde zum Volkstrauertag im Plenarsaal des Landtags von Sachsen-Anhalt.

Bei der zentralen Gedenkstunde zum Volkstrauertag im Landtag von Sachsen-Anhalt wurde traditionell aller Toten der Kriege und der Opfer von Gewaltherrschaften gedacht. Die Gedenkrede hielt Oberst Bernd Albers, scheidender Kommandeur des Landeskommandos Sachsen-Anhalt, Landtagspräsident Dr. Gunnar Schellenberger sprach das Totengedenken. Der Volkstrauertag stand in diesem Jahr unter dem Eindruck gleich mehrerer Kriege und gewaltsamer Konflikte in der Welt. Dies zeigt auf erschütternde Weise, dass Frieden nicht selbstverständlich ist.

Die musikalische Gestaltung der Gedenkstunde hatte der Kinder- und Jugendchor Magdeburg übernommen. Zudem beteiligten sich Jugendliche der Projektgruppe „Tagebuch der Gefühle“ Halle (Saale) mit einem eigenen Beitrag. Im Anschluss an die Gedenkstunde fand eine Kranzniederlegung auf dem Westfriedhof in Magdeburg statt.

Bündnissysteme für den Frieden

„In diesem Jahr vereint uns die Trauer über das Leid so vieler Menschen stärker noch als in den Jahren zuvor“, sagte Landtagspräsident Dr. Gunnar Schellenberger. Man sehe mit Schrecken auf die Ereignisse in der Ukraine, in Israel, in Palästina, im Libanon und im Iran. Der Volkstrauertag biete einen Moment des Innehaltens, genau wie die Orte des Gedenkens. „Wir gedenken heute aller Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft, damit das, was geschehen ist, nicht verdrängt und vergessen wird“, betonte Schellenberger.

„Wir müssen das Leid der Betroffenen, wo irgend möglich, lindern“, so der Landtagspräsident weiter. Es gelte, durch stabile und regelgebundene demokratische Bündnissysteme den Frieden zu bewahren und Aggressoren beherzt entgegenzutreten. Der Volksbund trage über Grenzen hinweg mit Seminaren, Schulprojekten, Begegnungen und der gemeinsamen Gräberpflege zur kulturellen Verständigung zwischen den Völkern bei, lobte der Landtagspräsident. Aus Leid und Feindseligkeit solle so Versöhnung erwachsen.

Grundlagen einer zeitgemäßen Gedenkkultur

Der Volkstrauertag schärfe das Bewusstsein und das Verständnis für die Auswirkungen der Kriegsereignisse von damals auf die heutige Zeit, sagte Rüdiger Erben, Vorsitzender des Landesverbands Sachsen-Anhalt im Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V. „Derzeit erleben wir in Deutschland und vielen anderen Ländern Debatten darüber, wie mit der Vergangenheit umgegangen werden soll“, es sei keine leichte Aufgabe, die Erinnerung in der Breite der Gesellschaft wachzuhalten. Die jungen Generationen lebten in einer großen zeitlichen Distanz zu den Ereignissen vor hundert oder achtzig Jahren. Der Volkstrauertag sollte daher möglichst als inklusiver Gedenktag fungieren, der alle Bevölkerungs- und Altersgruppen einbeziehe.

Der Volksbund engagiere sich seit Jahrzehnten für Demokratie und Frieden. Die durch ihn gepflegten Kriegsgräber dienten nicht nur als Orte der Trauer, sondern auch als Orte der Bildung, des Lernens und Gedenkens, sie zeigten, so Erben, welch enormes Ausmaß an Leid und Zerstörung Menschen im Krieg anrichteten, sie seien ein wichtiger Bestandteil der demokratischen Erinnerungskultur. Der Volkstrauertag 2024 sei ein wichtiger Anlass, um Überlegungen für die Grundlagen einer zeitgemäßen Gedenkkultur anzustoßen.

Aus dem „Tagebuch der Gefühle“

Die vom Künstler Gunter Demnig verlegten Stolpersteine sollen an die Geschichten von bestimmten Menschen erinnern, sagte Nico von der Projektgruppe „Tagebuch der Gefühle“. Hinter jeder einzelnen Zahl von Opfern stehe eine Lebensgeschichte. Wenn nun ‒ wie in Zeitz und Halle (Saale) vor nicht allzu langer Zeit ‒ die Stolpersteine aus den Gehwegen gerissen würden, sei das bei Weitem nicht nur der Diebstahl eines Stolpersteins, sondern Diebstahl einer Lebensgeschichte. Gerade mit den Lebensgeschichten der Opfer des Holocausts setzt sich die Projektgruppe auseinander ‒ unter anderem mit Workshops, Gedenkfahrten und eben mit dem Schreiben eines gemeinsamen „Tagebuchs der Gefühle“.

Geschichte verstehen – daran werde im Unterricht oder bei Besuchen von Gedenkstätten regelmäßig gescheitert. Aus eigener Erfahrung habe man erkannt, dass dimensional große Orte des Verbrechens mit Besuchenden überlaufen und das Personal völlig überlastet sei. Die Gedenkstätte Auschwitz besuchten derzeit rund 4 500 Menschen am Tag, oft stünden sich die Besucher und Besuchsgruppen gegenseitig im Weg. Für ein bewusstes Innehalten gebe es gar keine Zeit.

Die Projektgruppe hatte sich zuletzt intensiver mit der NS-Opfergruppe der Menschen mit Behinderung auseinandergesetzt. Oft sei Menschen mit Behinderung von heute gar nicht bewusst, dass sie selbst zu einer der Opfergruppen gehört hätten. Nicht alle Menschen haben den gleichen Zugang zu Geschichte, merkte Nico an. Auch in den Gedenkstätten sei ein barrierefreier Zugang oft nicht vorhanden. Dies sei aber nötig, um den Dialog zwischen den Menschen zu ermöglichen – „es braucht ihn mehr denn je“. Dafür seien zum Teil große strukturelle Veränderungen in den Gedenkstätten notwendig, manchmal reichten allerdings auch schon eine größere Textschrift, eine Übersetzung oder eine bessere Ausleuchtung. Diese Veränderungen sollten allerdings immer im Diskurs mit den betroffenen Menschen umgesetzt werden.

„Tag der Verantwortung“

Die Lehren aus den Kriegen des 20. Jahrhunderts würden leider immer wieder verschüttet, mahnte Oberst Bernd Albers, Kommandant des Bundeswehr-Landeskommandos Sachsen-Anhalt. Aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs sei ein neuer Wille des Friedens erwachsen. Wir müssten uns bewusst sein, dass Frieden und Freiheit keine Selbstverständlichkeit seien, sondern jeden Tag aufs Neue erkämpft werden müssten. „Kriege brechen nicht plötzlich aus, sie werden vorbereitet durch Feindbilder und Hass.“ Heute seien wir wieder Zeitzeugen zahlreicher bewaffneter Konflikte auf der ganzen Welt. „Millionen von Menschen haben ihre Heimat verloren.“ Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine habe die gesamte europäische Friedensordnung erschüttert, der Frieden in Europa sei fragiler als gedacht, so Albers. „Wir müssen tun, was wir tun können, wo unser Tun etwas bewirkt.“

Etwas ratlos zeigte sich Albers angesichts der Gruppe Menschen, die vermeintlich über der Debatte stünden und einfach Frieden forderten. Eine der Lektionen der deutschen Geschichte sei aber nicht, dass die Deutschen immer Pazifisten sein müssten. Angesichts einer aggressiven Diktatur könne man sich nicht mit Appeasement-Politik und dem Hinnehmen einer Diktatur begnügen. Die Behauptung, Autokratie führe zu Sicherheit und Stabilität, werde von Russland verbreitet und auch von Menschen, die hierzulande das blutige Handeln Russlands widerspruchslos hinnähmen. Der Volkstrauertag verweise darauf, dass Frieden kein Zustand sei, den man einmal und für immer erreiche.

Der Volkstrauertag sei nicht nur ein Tag der Trauer, sondern auch ein Tag der Verantwortung, so Albers. Man müsse den Blick nach vorn richten, „dass wir die Lehren der Vergangenheit in die Zukunft tragen“. Er sei Mahnung und Ansporn für eine friedlichere, gerechtere und menschlichere Welt.

Auszeichnung mit Spinoza-Medaille

Nach seiner Rede erhielt Oberst Bernd Albers aus den Händen von Volksbund-Landeschef Rüdiger Erben die Spinoza-Medaille, die an Personen verliehen wird, die sich für humanistische Ziele wie Frieden, Völkerverständigung, Versöhnung und Verständigung einsetzen. Die Gedenkrede am Volkstrauertag im Landtag von Sachsen-Anhalt war zudem die letzte Amtshandlung des Obersts, der seinen Kommandeursposten abgibt.

Bevor es zur abschließenden Kranzniederlegung auf den Magdeburger Westfriedhof ging, sprach Landtagspräsident Dr. Gunnar Schellenberger das traditionelle Totengedenken.

Die Veranstaltung wurde musikalisch von den 12. Klassen des Kinder- und Jugendchors Magdeburg am Hegel-Gymnasium Magdeburg begleitet.

Hintergrund: Volkstrauertag

Der 1919 ins Leben gerufene Verein Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge initiierte noch im Jahr seiner Gründung den späterhin genannten Volkstrauertag als Gedenktag für die gefallenen deutschen Soldaten des Ersten Weltkrieges. Die erste Gedenkstunde wurde 1922 im Berliner Reichstag abgehalten. Mit dem Volkstrauertag verband der Volksbund eine klare Zielvorstellung: Er wollte bei allen Deutschen eine einheitliche Erinnerung an das Leid des Krieges bewirken und so die Menschen über die Schranken der Parteien, der Religionen und der sozialen Stellung hinweg zusammenführen. Die zentrale Gedenkstunde zum Volkstrauertag findet jährlich im Deutschen Bundestag statt, parallel dazu gibt es Veranstaltungen in den Landesparlamenten. Fester Bestandteil ist das sogenannte Totengedenken.

Text des traditionellen Totengedenkens.

Text des traditionellen Totengedenkens.