Im Auftrag des Landtags von Sachsen-Anhalt startet das Zentrum für Sozialforschung Halle e. V. (zsh) ein Forschungsprojekt zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der ersten beiden Landtage von Sachsen-Anhalt (1946–1952) und der Lebenswege seiner Mitglieder. Unter Leitung des zsh-Forschungsdirektors Prof. Dr. Everhard Holtmann wird in den nächsten drei Jahren der Prozess der autoritären Rückbildung des Länderparlamentarismus in der Sowjetischen Besatzungszone beziehungsweise frühen DDR am Fallbeispiel des 1. Landtags und seiner Abgeordneten nachgezeichnet und analysiert.
Im Fokus: Entdemokratisierungsprozess
Das singuläre Merkmal des 1. Landtags von Sachsen-Anhalt nach dem Zweiten Weltkrieg bestand darin, dass nach seiner Konstituierung alsbald eine Umkehrung der demokratischen Institutionenbildung in Richtung einer Entdemokratisierung eintrat. Dies erfolgt mit Hilfe parlamentarischer Praktiken, die nicht zuletzt das Ergebnis einer bei den Wahlen knapp verfehlten SED-Mehrheit waren. Zum Forschungsvorhaben gehören auch die Recherche und wissenschaftliche Auswertung von regionalem und überregionalem Archivmaterial für den Zeitraum von 1946 bis 1952 mit dem Ziel, die biografischen Daten der ehemaligen Abgeordneten zu verdichten und darstellen zu können.
zsh nutzt innovativen wissenschaftlichen Ansatz
Unter Einbeziehung auch des 2. Landtags (1948–1950) wird die Untersuchung somit eine biografische und die systemische Dimension aufweisen. Mit einem solchen analytischen Ansatz geht das zsh einen wissenschaftlich innovativen Weg und greift eine in der neueren politikwissenschaftlichen Systemwechselforschung vorhandene Denkrichtung auf. Diese fragt eigentlich danach, welchen Beitrag der Parlamentarismus beziehungsweise Parlamentswahlen zur Demokratisierung zum Beispiel postkommunistischer Systeme leistet. Hier wird dieser Ansatz nun unter umgekehrten Entwicklungsvorzeichen aufgegriffen.
Mit dem Forschungsprojekt will der Landtag von Sachsen-Anhalt einen weiteren Beitrag zur Geschichte des Parlamentarismus in der Region des heutigen Sachsen-Anhalt sowie zur Identitätsstiftung des Landes und seiner demokratischen Strukturen leisten. Seit Anfang 2020 liegt bereits die wissenschaftliche Dokumentation VER|FOLGT vor. Sie informiert über Abgeordnete aus der Region des heutigen Sachsen-Anhalt, die Opfer der nationalsozialistischen Diktatur von 1933 bis 1945 in Deutschland wurden.