Die Beauftragte des Landes Sachsen-Anhalt zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Birgit Neumann-Becker, hat Landtagspräsident Dr. Gunnar Schellenberger am Dienstag, 12. April 2022, ihren Tätigkeitsbericht 2021/2022 übergeben. Auf knapp 250 Seiten informiert sie darin wiederum über die Arbeit ihrer Behörde in den Bereichen Opferberatung, Aufarbeitung und Forschung, Erinnerung und Bildung.
Weniger Beratungen durch Corona-Bedingungen
Die Novellierung der SED-Unrechtsbereinigungsgesetze habe 2019 neue Rehabilitierungsmöglichkeiten für politisch Verfolgte eröffnet, die insbesondere für Beratungen zu Rehabilitierungen genutzt worden seien, erklärt Neumann-Becker. Und doch sei die Zahl der persönlichen und telefonischen Beratungen der Landesbeauftragten 2021 auf rund 2 600 zurückgegangen. Diesen Umstand sieht sie mit der Corona-Pandemie erklärt. Wegen der notwendigen Hygieneregeln seien Beratungen nur nach telefonischer Anmeldung möglich gewesen und hätten vielfach auch nur telefonisch erfolgen können. „Das ist unpersönlicher und stellt für viele traumatisierte SED-Opfer eine Hürde dar“, so Neumann-Becker. Doch es bestehe weiterhin ein großer Beratungsbedarf.
Erfolg: Härtefallfonds für SED-Opfer
Die Anerkennung gesundheitlicher Folgeschäden für Betroffene von SED-Unrecht bleibe weiterhin schwierig. Obwohl bereits im Jahr 2019 vom Deutschen Bundestag ein Prüfauftrag an die Bundesregierung ergangen sei, sei hier noch keine Verbesserung eingetreten. Die Landesbeauftragte unterstützt deshalb die Anregung der Bundes-Opferbeauftragten zur Einführung einer Vermutungsregelung, die eine erhebliche Erleichterung der Verfahren bedeuten würde und die bereits seit Langem im Bereich der Entschädigung von Opfern der nationalsozialistischen Verfolgung angewandt wird.
Als großen Erfolg für die Opfer wertet Neumann-Becker die Vereinbarung der neuen Regierungskoalition in Sachsen-Anhalt, einen Härtefallfonds für Opfer des SED-Unrechts zu schaffen. Damit könne, so Neumann-Becker, Betroffenen in finanziellen Notlagen konkret geholfen werden. Denn gerade SED-Opfer befänden sich häufig in wirtschaftlich prekärer Lage, etwa weil sie durch die Verfolgung gesundheitlich geschädigt oder traumatisiert worden seien oder weil das SED-Regime ihnen den angestrebten Berufsweg versagt habe.
Stasi-Unterlagen zum Bundesarchiv übergegangen
„Eine Zäsur bei der Aufarbeitung bildete 2021 der Übergang der Stasi-Unterlagen vom Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen in das Bundesarchiv“, konstatierte die Landesbeauftragte. Diese Veränderung führe jedoch nicht zu einer Einschränkung der Zugänglichkeit der Stasi-Akten für die Betroffenen und die Forschung. „Wir hoffen, dass sich die Bearbeitungszeiten verkürzen, weil lange Wartezeiten für viele Betroffene eine große Belastung darstellen. Insbesondere die Bearbeitungszeiten in Bezug auf notwendige Auskünfte im Zusammenhang mit Rehabilitierungsverfahren müssen sich beschleunigen“, sagte Neumann-Becker.
Neue Forschungsprojekte initiiert
Die Landesbeauftragte hat auch 2021 zahlreiche Forschungsprojekte initiiert und gefördert. Ein Meilenstein sei das im Juli gestartete Forschungsprojekt „Gesundheitlichen Langzeitfolgen von SED-Unrecht“, das in zwölf Teilprojekten von den Universitätsklinika Magdeburg, Jena, Leipzig und Rostock durchgeführt wird. Eine zentrale Aufgabe der Landesbeauftragten sei und bleibe, die Erinnerung an das SED-Unrecht und zivilgesellschaftliches Engagement in diesem Bereich zu fördern. Die Landesbeauftragte unterstützt, fördert und kooperiert deshalb auf vielfältige Weise mit Opferverbänden, Initiativen und auf diesem Gebiet tätigen Vereinen, etwa bei Informations- oder Gedenkveranstaltungen.
Die Landesbeauftragte zum Krieg in der Ukraine
„Der aktuelle Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und die verschärften Maßnahmen gegen die Zivilgesellschaft in Russland und Belarus zeigen auf eine beklemmende Weise die Aktualität der Aufgaben der Landesbeauftragten: das SED-Unrecht aufzuarbeiten, über Wesen und Gefahren von Diktaturen zu informieren und den SED-Verfolgten durch Beratung und die Vertretung ihrer Anliegen beizustehen. Viele von ihnen sind von der aktuellen Situation mehrfach betroffen: hinsichtlich ihrer prekären sozialen Lage, aber auch hinsichtlich der russischen Propaganda und Geschichtslügen, die schlimme Erinnerungen wecken.“
Schellenberger: „Aufarbeitung ist enorm wichtig“
Landtagspräsident Dr. Gunnar Schellenberger hob im Zuge der Übergabe des Tätigkeitsberichts hervor, wie wichtig es sei, sich mit der persönlichen Geschichte auseinanderzusetzen. Er lobte den von der Koalition geplanten Härtefallfonds, durch den Betroffene schneller auf (finanzielle) Hilfe rechnen könnten. „Beratung, Bildung und Erinnerungskultur – die drei Säulen, die die Arbeit der Landesbeauftragten ausmachen – sind enorm wichtig“, bekannte Schellenberger. Er freue sich insbesondere auf das Projekt „70 Jahre 17. Juni“ im kommenden Jahr, das den Volksaufstand in der DDR (1953) besonders in der Fläche, also im ländlichen und kleinstädtischen Bereich, näher beleuchten wird.