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Plenarsitzung

Nane Khachatryan

Nane Khachatryan kam 2016 als Forschungsstipendiatin für das armenische Stipendienprogramm des Ministeriums für Wirtschaft, Wissenschaft und Digitalisierung des Landes Sachsen-Anhalt nach Halle (Saale). In ihrer Heimat Armenien hatte die 31-Jährige bereits Germanistik studiert, danach folgte ein Master in Politikwissenschaften in Konstanz. Und heute schreibt sie ihre Doktorarbeit an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Inhaltlich geht es in ihrer Dissertation um die Transformation des armenischen Parteiensystems nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Im Interview gibt Nane Khachatryan einen Einblick in Politik und Gesellschaft ihres Heimatlandes.

Portrait Nane Khachatryan

Neben ihrer fast fertigen Dissertation arbeitet die Armenierin Nane Khachatryan für den Verein DaMOst.

Viele Sachsen-Anhalter wissen sicher nur sehr wenig über Armenien. Welche drei Fakten über Armenien sollte man unbedingt wissen und warum?

Erstens: Armenien hat das Christentum bereits im Jahr 301 als Staatsreligion angenommen und gilt somit als ältestes christliches Land der Welt. Zweitens: Armenien ist weltweit eines der ältesten Weinanbaugebiete, die Geschichte des Weinbaus begann hier vor mehr als 6 000 Jahren. Archäologen entdeckten in einer Höhle in Areni (im Südosten des Landes) vor etwa 15 Jahren zahlreiche Beweise für den Weinanbau (Krüge für die Gärung, Trinkbecher und sogar Reste von gepressten Trauben und Blättern). 

Und drittens: Seit dem Schuljahr 2011 ist Schach ein Pflichtfach in allen Schulen Armeniens. Das Schachspiel ist in Armenien schon seit dem frühen Mittelalter bekannt, während der Sowjetzeit wurde es immer populärer, vor allem in den 1960er Jahren, als Tigran Petrosyan Schachweltmeister wurde. Auch der vielleicht eher bekannte 13. Schachweltmeister Garri Kasparow ist Halbarmenier. In einem Interview hat er die Popularität des Schachs in Armenien einmal mit der Popularität des Fußballs in Lateinamerika verglichen. Armenien hat 41 Großmeister und es hat dreimal in der Schacholympiade (das bedeutendste Mannschaftsturnier im Schach) die Goldmedaille gewonnen.

Welche Träume, Wünsche, Hoffnungen haben die Menschen zurzeit in Armenien?

Natürlich hat sich die Welt nach der Covid-Pandemie verändert, die Wirtschaftskrise, die steigenden Preise, Konflikte und Krisen – von alldem ist in Armenien in gleicher Weise betroffen. Aber wenn wir es als Traum formulieren und das, was ich mir persönlich am meisten für Armenien wünsche, dann wäre der größte Traum Frieden in der Region und damit verbundene Stabilität. Ich denke, diesen Traum werden viele teilen, denn viele praktische Fragen sind abhängig vom Frieden.

Auch aktuelle Umfragen aus dem Jahr 2021, durchgeführt vom Kaukasischen Zentrum für Forschungsressourcen („Kaukasisches Barometer 2021–2022“), belegen, dass 41 Prozent der Befragten den fehlenden Frieden für das wichtigste Problem halten, 8 Prozent gaben „ungelöste territoriale Fragen“ an, 4 Prozent die Armut. In den Jahren 2012 und 2019 nannten die Befragten noch „Arbeitslosigkeit“ und „Armut“ als Hauptprobleme.

Portrait Nane Khachatryan

Ihr größter Wunsch für Armenien sei Frieden, sagt Nane Khachatryan im Interview.

Wie schätzen Sie die politische Situation in Ihrem Heimatland momentan ein?

Die politische Lage ist weiterhin instabil. Zwei Jahre nach dem Berg-Karabach-Krieg haben wir eine Mischung aus brüchigem Frieden und schleichendem Krieg. Der Konflikt ist noch nicht gelöst, es sitzen zum Beispiel immer noch armenische Kriegsgefangene in aserbaidschanischen Gefängnissen (trotz des Waffenstillstandsabkommens vom 9. November 2020, dass die Kriegsgefangenen freigelassen werden), außerdem bleibt unklar, welche Zukunft die in Karabach lebenden Armenierinnen und Armenier haben.

Auch die innenpolitische Lage kann man als instabil bezeichnen. Dabei lassen sich die Parteien in Armenien nicht so sehr durch ihre ideologische Selbstverortung oder Programmatik unterscheiden, sondern eher dadurch, ob sie sich pro-westlich oder pro-russisch positionieren. Die momentane Konfrontation zwischen dem Westen und Russland hat direkte Auswirkungen auf die Parteien. Einmal wird die Regierung beschuldigt pro-russisch und ein anderes Mal pro-westlich zu sein. Auf der einen Seite haben wir die regierende Partei, das sind die Kräfte, die durch die „Samtene Revolution“ 2018 an die Macht gekommen sind, und auf der anderen Seite – in der Rolle der Opposition – die ehemalige Elite, die der Korruption beschuldigt wird. Man hat als Bürgerin und Bürger nicht so eine große Wahl.

Die Menschen hatten große Hoffnungen mit der „Samtenen Revolution“ verbunden, sind jetzt aber enttäuscht, weil Premierminister Nikol Paschinjan seine Versprechen, mit denen er an die Macht kam, nicht gehalten hat. Auf der anderen Seite wollen die Menschen keine Rückkehr der alten Elite. Trotz all dieser Kritikpunkte hat Armenien, im Gegensatz zu einigen seiner Nachbarländer (Aserbaidschan, Türkei, Iran und Russland) den Weg der Demokratie eingeschlagen. Laut dem letzten Bericht von „Freedom House“ [Red.: Internationale Nichtregierungsorganisation zur Förderung liberaler Demokratien, gegründet 1941 von Eleanor Roosevelt] ist Armenien neben der Ukraine, Georgien und Moldau einer der vier Staaten des postsowjetischen Raums, die als teilweise freie Staaten eingestuft werden. 

Warum ich das erwähne? Jüngste Studien deuten darauf hin, dass die Wahrscheinlichkeit von Konflikten und Aggressionen tendenziell abnimmt, wenn es in einer Region mehr Demokratien gibt. [Vgl. dazu den Beitrag von Anna Ohanyan, Professorin für Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen am Stonehill College in Syracuse, im Bundesstaat New York].

Welche Rolle spielen Religion, Musik und Tradition in Armenien?

Auch nach 70 Jahren als Teil der Sowjetunion, in dem Atheismus propagiert wurde, habe ich den Eindruck, dass die Religion für einen Teil der Gesellschaft weiterhin eine große Rolle spielt, zum Beispiel lassen sich wieder mehr Paare kirchlich trauen und dementsprechend auch vorher taufen. Und hohe kirchliche Feiertage, wie Ostern und Weihnachten, werden gefeiert. Ich glaube allerdings, das alles hat eher einen symbolischen Charakter, denn die meisten Menschen praktizieren ihre Religion nicht, sie gehen nicht regelmäßig in den Gottesdienst. Ich denke, die Armenische Apostolische Kirche und das Christentum sind Teil der armenischen Identität geworden.

Eine ähnliche Hinwendung zu alten Traditionen ist zum Beispiel im Tourismus zu beobachten. Neben den traditionellen Hotels sind in den vergangenen Jahren Gästehäuser in ländlichen Gebieten sehr beliebt geworden, und ihre Zahl wächst. Die Gäste und Touristen können dort zum Beispiel traditionelle Nationalgerichte probieren, es gibt Kochkurse und Kurse für Handwerksarbeiten, der „Öko-Tourismus“ ist wirklich im Kommen.

In der traditionellen armenischen Musik ist die Schlüsselfigur Komitas Vardapet, der als Vater der armenischen Musik gilt und symbolisch für die engen deutsch-armenischen Beziehungen steht, weil er als international anerkannter Komponist, Musiker und Musikwissenschaftler sowohl in Armenien als auch in Deutschland wirkte. Im Oktober 2019 fand in Halle und in Berlin eine internationale wissenschaftliche Konferenz anlässlich des 150. Geburtstags von Komitas Vardapet statt.

Neben ihrer wissenschaftlichen Arbeit sind Sie auch bei DaMOst e. V. engagiert – warum und was machen Sie da konkret?

DaMOst e. V. ist der Dachverband der Migrantinnen*organisationen in Ostdeutschland und vernetzt die Landesverbände der Migrant*innenorganisationen in den fünf ostdeutschen Bundesländern. Seit 2018 arbeitet DaMOst daran, die ostdeutschen Perspektiven von Migrantinnen und Migranten sichtbarer zu machen und konkrete Vorschläge für mehr Partizipation, Teilhabe und Zusammenhalt auf Landes- und Bundesebene umzusetzen.

Seit gut einem Jahr leite ich im Verein das Projekt Kompetenznetzwerk „Zusammenleben in der Migrationsgesellschaft‘‘. Das Projekt legt den Fokus auf die politische Bildung, wo ich mein Wissen und meine Erfahrung als Politikwissenschaftlerin sehr gut einbringen kann. Gleichzeitig fühle ich mich als jemand, der mit Migrationsgeschichte in Ostdeutschland wohnt, von DaMOst auch vertreten. 

Vielen Dank für das Gespräch!