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Plenarsitzung

Gegen das Schweigen, für die Aufklärung


Sehr geehrtes Hohes Haus,
verehrter Herr Ministerpräsident Dr. Haseloff,
meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordnete,
sehr geehrte Damen und Herren der Medien und sehr geehrte Gäste.

Seit 1996 begeht die Bundesrepublik Deutschland am 27. Januar den Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. In diesem Jahr gedenken wir dem 77. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee – dem Ort eines historisch beispiellosen industriellen Völkermords.

Wir gedenken heute der Entrechteten und Ermordeten – der europäischen Juden, der verfolgten Sinti und Roma, wir gedenken der Millionen verschleppten Slawen, der politischen Häftlinge und Zwangsarbeiter, der ermordeten Kranken und Behinderten, wir gedenken all derer, die die verbrecherische Ideologie der Nationalsozialisten zu Ihren Feinden erklärt und verfolgt hat.
 

Meine Damen und Herren, für die schreckliche Vergangenheit unseres Landes sind die nachfolgenden Generationen nicht verantwortlich – für den Umgang mit dieser Vergangenheit schon. Der heutige Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz wurde durch die Vereinten Nationen im Jahr 2005 zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust erhoben.

Damit rückte die Befreiung des KZ Auschwitz auch international ins Zentrum der Aufmerksamkeit. An diesem Ort wurden mehr als eine Million Menschen ermordet. Das entspricht ungefähr der Hälfte der heutigen Bevölkerung Sachsen-Anhalts. Darüber darf nicht vergessen werden, dass die Nationalsozialisten ein Netz von Konzentrationslagern über ganz Europa spannten, so auch in Sachsen-Anhalt.

Hier trägt die Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt, deren Vorsitzender ich von 2016 bis 2021 war, durch ihre Arbeit dazu bei, dass das Wissen um die einzigartigen Verbrechen während der nationalsozialistischen Diktatur im Bewusstsein der Menschen bewahrt und weitergetragen wird. Die Stiftung umfasst sieben Gedenkstätten an neun Standorten: die Gedenkstätte KZ Lichtenburg Prettin, die Gedenkstätte KZ Langenstein-Zwieberge, in Bernburg die Gedenkstätte für die Opfer der NS-„Euthanasie“, die Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe in Gardelegen, die Gedenkstätte Roter Ochse in Halle und die Gedenkstätten Moritzplatz Magdeburg und Deutsche Teilung in Marienborn.
 

Die Art und Weise wie wir uns zur eigenen Geschichte verhalten, verweist auf das Selbstverständnis unserer Gesellschaft, sie verweist darauf, mit welchen Orientierungen wir den Herausforderungen der Gegenwart begegnen und unsere Zukunft gestalten wollen. Deshalb ist es eine bleibende Aufgabe, die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus unter den kommenden Generationen wachzuhalten.

Deshalb ist es wichtig, auch heute daran zu erinnern, dass mit der Zerstörung der Weimarer Demokratie der Weg frei gemacht wurde zur anschließenden Pervertierung legitimer Macht in Willkür und Despotie, die bis zum Konzentrationslager in Auschwitz führte. Der frühere Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, sagte über die nationalsozialistische Gewaltherrschaft: „Alles, was das Böse benötigt, um zu triumphieren, ist das Schweigen der Mehrheit.“ Das Wissen um die Vergangenheit ist daher auch Verpflichtung für alle Demokraten, ihre Stimme zu erheben gegen jegliche Ansätze und Formen von Ausgrenzung, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Extremismus.
 

In jüngster Vergangenheit entsetzte der mörderische antisemitische Anschlag 2019 auf die Synagoge in Halle am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur. Auch entsetzt die offene Zurschaustellung und die zunehmende Verrohung über das Medium Internet, wenn Rechtsextremisten ihren Judenhass nicht nur über vermeintlich geheime Codes und Verschwörungstheorien in der unseligen Tradition der antisemitischen fiktiven „Protokolle der Weisen von Zion“ verbreiten, sondern direkt in der Öffentlichkeit.

In direkter Reaktion auf den Anschlag in Halle ergänzte der Landtag von Sachsen-Anhalt die Landesverfassung um den Artikel 37a. Er lautet: „Die Wiederbelebung oder Verbreitung nationalsozialistischen Gedankenguts, die Verherrlichung des nationalsozialistischen Herrschaftssystems sowie rassistische und antisemitische Aktivitäten nicht zuzulassen ist Verpflichtung aller staatlicher Gewalt und Verantwortung jedes Einzelnen.“

Die beiden neuen in der Entstehung befindlichen Synagogen in Dessau und Magdeburg sind ein gutes Zeichen dafür. Sie erfahren große Unterstützung durch das Parlament und die Regierung, zusammen mit den zivilgesellschaftlichen Akteuren in Vereinen, Kirchgemeinden und Kommunen.
 

Wir leben heute in einer gefestigten selbstbewussten Demokratie. Sie ist uns aber nicht ein für alle Mal geschenkt, sie muss täglich neu gestaltet, mit Leben erfüllt und verteidigt werden. Dies sei uns allen stets bewusst. Unser vorgelegtes „Landesprogramm für jüdisches Leben in Sachsen-Anhalt und gegen Antisemitismus“ richtet sich ebenso gegen Antisemitismus wie langfristig entschieden für das jüdische Leben in der langen Tradition unseres Landes Sachsen-Anhalt, gegen jegliche Form der Diskriminierung der Sinti und Roma und für ein gedeihliches Miteinander aller.
 

Meine sehr geehrten Damen und Herren,
wir erfahren nun immer häufiger vom Ableben der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die sich durch die eigenen Kriegserlebnisse geschworen hatten: Nie wieder Krieg, nie wieder Gewalt, nie wieder Diktatur. Die Erlebnisse der Betroffenen sind für nachfolgende Generationen teilweise festgehalten in Literatur oder Filmmaterial, und auch in den sozialen Medien findet sich neben den Hashtags: #WeRemember, #GegendasVergessen, #NieWieder auch ein TiKTok-Account der Ausschwitz-Überlebenden Lily Ebert, die sich geschworen hat: „Wenn ich überlebe, warne ich die Welt davor, wohin Hass führen kann.“

Weil Lily Ebert durch die Pandemie an ihren Besuchen in Schulen und auf Podien verhindert wurde, hat ihr Urenkel Dov Forman mit ihr einen TikTok-Account ins Leben gerufen, um möglichst viele und junge Menschen zu erreichen. Mit ihren Schilderungen, den Ratschlägen und Antworten erreicht sie mittlerweile 1,6 Millionen Follower und für die Beiträge zählt man rund 23 Millionen Likes. Lily Eberts Credo, Zitat: „… ihr jungen Leute könnt die Welt zum Besseren verändern,  ich wünsche allen jungen Menschen ein friedliches und cooles langes Leben“, Zitat Ende.

An dieser Stelle danke ich der Zeitzeugin Frau Dr. Eva Umlauf, die ich gerne heute im Landtag persönlich begrüßt hätte, doch haben wir uns aufgrund der Pandemie dazu entschieden, in ihrem Zuhause ein mit ihr geführtes Interview aufzuzeichnen, das auf der Website des Landtags sowie auf unserem YouTube-Account ausgestrahlt wird.
 

Meine Damen und Herren, lassen Sie uns nicht damit aufhören, die Erzählungen unserer Vorfahren an unsere Kinder, Enkel- und Urenkelkinder weiterzugeben. Oder wie der damalige Bundespräsident Richard von Weizäcker 1985 mahnte: „Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird anfällig für neue Ansteckungsgefahren“.

Ich bitte Sie jetzt, erheben Sie sich zu einer schweigenden Gedenkminute.