Das Nebeneinanderherleben von Christum und Judentum auf deutschem und europäischem Boden sei erst gestört worden, als die Unterschiede zwischen beiden Religionen als relevant erklärt worden seien, erläuterte Prof. Dr. Moshe Zimmermann vor einer Klasse von Anwärterinnen und Anwärtern der sachsen-anhaltischen Polizei aus der Fachhochschule in Aschersleben in der Moses-Mendelssohn-Akademie in Halberstadt. Judenfeindlichkeit habe es über Jahrhunderte hinweg gegeben, in eine neue negative Dimension sei diese mit der Schaffung des Begriffs Antisemitismus (1879) getreten, als die Unterschiede zwischen Juden und „Germanen“ mit einer vermeintlichen anderen rassischen Zugehörigkeit begründet worden sei.
Offen antisemitische Parteien hätten vor dem Ersten Weltkrieg noch keinen großen Zulauf erlebt, etwa vier Prozent der Wählerstimmen fielen bei den letzten Wahlen 1913 auf diese, rekapitulierte Zimmermann. Um die Jahrhundertwende habe es antisemitische Gefahren eher in Russland (Pogrome) und in Frankreich (Dreyfus-Affäre) gegeben.
Aber auch in Deutschland hinterfragte man zu Kriegsbeginn im Militär die Zahl der Juden in der deutschen Armee. Die Untersuchung habe gezeigt, dass es durchaus Potenzial für Antisemitismus gebe, das in einer Krise noch Bedeutung gewinnen könnte. Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg seien in Deutschland unter anderem die Juden als Ursache ausfindig gemacht worden. „Es kam zu einer breiten Bereitschaft, antisemitische Vorurteile zu akzeptieren“, sagte Zimmermann. Die NSDAP gewann 1930 rund 17 Prozent der Stimmen bei den Reichstagswahlen. Daraufhin wurde das antisemitische Programm reduziert, um noch mehr nicht-antisemitische Wählerstimmen zu erzielen. Bei den Reichstagswahlen 1932 zeigte sich der Erfolg: 38 Prozent. „Bei zwei anschließenden Wahlen reduzierte sich das Wahlergebnis, aber Reichspräsident von Hindenburg ernannte Hitler im Januar 1933 zum Reichskanzler …“
Aus dem Gespräch mit den Polizeischülerinnen und Polizeischülern
„Warum haben Juden Deutschland nicht verlassen, als die antisemitischen Aktionen so deutlich zunahmen?“ – Deutschland zu verlassen, sei für viele deutsche Juden eine völlig irrelevante Frage gewesen, sagte Zimmermann. In der Verfassung des Deutschen Kaiserreichs von 1871 und in der Verfassung der Weimarer Republik von 1919 sei die Gleichberechtigung von Juden in Deutschland verankert gewesen – sie konnten Beamte, Professoren und Offiziere werden. Antisemitische Zwischenfälle seien mit dem gesetzlichen System zu überwinden – so, bis auf wenige Ausnahmen, die einhellige Meinung unter den deutschen Juden. Bis Hitlers Machtergreifung seien also nur etwa 2 000 Jüdinnen und Juden beispielsweise nach Palästina ausgewandert.
Erst sehr spät, zu spät nach der Machtergreifung habe man erkannt, dass man sich geirrt hatte. Mit den Nürnberger Gesetzen (September 1935) habe das Regime zwei Jahre und acht Monate gewartet, man habe die Bevölkerung und das Ausland erst ausführlich propagandistisch darauf vorbereiten müssen, erklärte Zimmermann. Die „Lösung der Judenfrage“ sei vorgelegt worden – für viele Juden immer noch ertragbarer, als in die Fremde zu gehen, zumal die Aufnahmezahlen der Staaten begrenzt war, auch im britisch verwalteten Palästina.
In der Diskussion ging es außerdem um die strafrechtliche Verfolgung von antisemitischen Handlungen: Wann ist heute ein Wort nur persönliche Meinungsäußerung und wann schon eine politisch motivierte Straftat?
Zeugnisse jüdischen Lebens in Halberstadt
Nächste Station Moshe Zimmermanns während seines Besuchs in Sachsen-Anhalt war – ausgehend von der Moses-Mendelssohn-Akademie – ein Rundgang zu Orten jüdischen Lebens in Halberstadt.