Monolog
„Im Jahre 1942 schickte mich meine heldenhafte Mutter mit Essen zur Eisenbahnstation in Debrecen, dem Ort wohin die Flüchtlinge aus Polen gelangten. Der Blick in ihren Augen verursachte mir allnächtlich Schüttelfrost und Furcht. Als mein Vater aus dem Lager von der Zwangsarbeit kam, hatte er den gleichen Ausdruck in den Augen. Er starrte ins Leere und wagte nicht uns direkt anzublicken, denn er wusste ... und hatte Angst.
Als Kind war ich voller Furcht. Ich suchte einen Weg mich zu ermutigen, denn vor uns lag der Tod, so dachte ich. Es kann doch nicht sein, dass niemand an uns denkt … und so, mit der Phantasie eines Kindes, suchte ich nach einer Lösung. Im Ghetto, beim Anblick der Scheinwerfer, dich nach feindlichen Flugzeugen Ausschau hielten, glaubte ich Zeichen zu sehen, dass irgendjemand versuchte, mit uns Verbindung aufzunehmen, mir zu helfen, uns zu retten.
Später als mein Vater starb, weinte ich zum letzten Male als Kind. Ich lernte Gedanken zurückzudrängen an das, was über uns gekommen war. Ich bildete mir ein, dass ich nur „beiseite stand“, und nicht physisch anwesend sei. Als die Zahl der Toten ins Unendliche anwuchs und die Furcht immer größer wurde, dass unser Tod sich näherte, erfanden wir Kinder ein makabres Spiel, anhand bestimmter Anzeichen: wir wetteten, wer wohl morgen oder übermorgen sterben würde. In meiner kindlichen Naivität gab ich in jenen schrecklichen Tagen meiner Schwester Schoschana (Eva) meine tägliche Brotration.
In dieser fürchterlichen Zeit nahm jeder, der überleben wollte, alle Kraft zusammen, und damals – als jedermann nur an sich selbst dachte, sammelte meine Mutter Nahrung von Menschen, die bereit waren, auch nur einen Löffel ihrer mageren Ration abzugeben. Auf diese Weise rettete sie einige Häftlinge, denen sonst der sichere Tod schon am nächsten Tag bevorstand.
Nun befinde ich mich hier im Lande Israel. In meinem kindlichen Zorn war ich nicht bereit, ungarisch oder deutsch zu sprechen, wollte mich an nichts erinnern, nur mich in mich selbst zurückziehen, mich nicht vor dem Tode fürchten, nie mehr hungrig sein, ein anderes Leben führen, ein Leben voller Hoffnung … Erst viel später fing ich an zu lesen und zu verstehen, wo mein Platz in diesem traumatischen Bild war. Ich war zornig und hasste. Nur wusste ich nicht wen ich mehr hasste: die Ungarn, die uns den Deutschen zur Schlachtbank auslieferten? Die Österreicher, die uns verhungern ließen? Die Polen, die sich dem Handwerk des Tötens mit heiligem Ernst hingaben? Die Engländer, die die Juden daran hinderten, nach Palästina Israel einzuwandern und sich dadurch zu retten? Denn sie wollten ihre guten Beziehungen zu der arabischen Bevölkerung nicht trüben.
Oder vielleicht die Amerikaner, die dem Prozess des Massenmordes nicht Einhalt geboten, und sie hätten es gekonnt.
Meine Mutter hatte mich gelehrt, nicht zu hassen. Denn Hass „verunschönt“ die Seele des Menschen. Es ist verboten, Kinder mit Hassgefühlen großzuziehen. Unser Ziel soll es sein, eine gesunde israelische Familie zu gründen, ohne die Schatten des Holocaust. Man soll die Erinnerung daran zurückdrängen und alle Kräfte dem Aufbau eines neuen Lebens in einem starken und sicheren Lande, ohne Gefahr und Krieg, widmen. Denn dies ist der einzige vernünftige Weg zu leben. Man muss wieder Kraft sammeln und dann zurückkehren in die Hölle. Es ist notwendig, mit Furcht und mit verkrampften Eingeweiden zu malen und in dem Gefühl, dass das Herz erzittert und durch die Kehle herausdringt. Man muss den Mut aufbringen, einen kleinen Spalt zu öffnen, zunächst mit dem Gefühl zu malen, aus voller Kehle zu schreien: „Wie konnte man so etwas zulassen?“ Man muss in gewaltiger Angst dorthin zurückkehren, den Atem anhalten, ein Bild nach dem anderen malen, die Bilder folgen vor meinem geistigen Auge aufeinander. Jetzt bin ich stark, kann ohne Furcht zurückblicken. Kann ich es wirklich, nach sechsundzwanzig Jahren?
Ich sehe es als meine vornehmste Pflicht an, unserer und der nach uns kommenden Generation ins Bewusstsein zu rufen, was uns geschehen ist, und das nicht nur auf einer Reise nach Polen oder zu anderen Stätten der ehemaligen Zwangslager, wo die Steine schweigen. Die Erinnerungen sind vorhanden, wir selbst sind die Erinnerungen und wollen dazu beitragen, das „dies“ oder etwas Ähnliches sich niemals wiederholen möge.“
Sara Atzmon