Die Sicherheitslage in der Stadt Magdeburg hätte zu Beginn des Herbstes 1989 nicht brisanter sein können. Die Unzufriedenheit der Menschen mit dem sozialistischen System wuchs von Tag zu Tag, die Zahl der Ausreisewilligen nahm zu. Schon seit dem Sommer trafen sich regelmäßig die, die den Staat verlassen wollten, donnerstags zum Friedensgebet am Ernst-Barlach-Denkmal im Magdeburger Dom.
In kleinen Gruppen spazierten die 30 bis 40 Leute anschließend zum Reiterstandbild auf dem Alten Markt, argwöhnisch verfolgt von der Volkspolizei und bespitzelt von der allmächtigen Stasi. Die Polizei war in Mannschaftswagen angerückt, von denen einer mit offener Heckklappe langsam rückwärts gegen die Ausreisewilligen, die als gemeinsames Erkennungszeichen ein weißes Bändchen am Revers trugen, rollte. „Wir haben die Macht, und ihr müsst euch fügen“, sollte das wohl heißen. Doch keiner ließ sich provozieren, friedlich gingen die Demonstranten nach Hause.
Dann kam der Oktober 1989. „Wir hatten große Befürchtungen vor einer Eskalation der Gewalt“, erinnert sich der damalige Domprediger Giselher Quast. Wenige Tage vor dem 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober sei die Lage noch brenzliger geworden. Zu den Montagsgebeten um gesellschaftliche Erneuerung im Magdeburger Dom waren inzwischen immer mehr Leute gekommen. Bis zu 300 Ausreisewillige hatten sich am 5. Oktober in dem Gotteshaus getroffen. Vor den Toren warteten noch einmal mehrere Hundert Unzufriedene.
Nach dem Gebet wollten alle gemeinsam zum Alten Markt spazieren. Doch die in Sturmuniform angerückte Volkspolizei zeigte zum ersten Mal in diesem Herbst ihr wahres Gesicht und prügelte mit extralangen Schlagstöcken vor der abgeriegelten Bärstraße auf die friedlichen Demonstranten ein. Viele wurden ergriffen, auf Lkws geworfen und dort weiter verprügelt. Es gab zahlreiche Verletzte, manche retteten sich blutend zurück in den Dom.
Zwei Tage später gab es am Staatsfeiertag in der Elbestadt die zweite Attacke der Polizei gegen Demonstranten. In der Leiterstraße hatten sich zwei Jugendliche auf die Straße gesetzt und sangen Lieder zur Gitarre. Die Uniformierten setzen 20 Hundeführer gegen die jugendlichen Sänger und andere unschuldige Passanten ein. Ein paar Meter weiter an der Johannisbergstraße hatten sich Jugendliche zu einem Konzert versammelt. Als es wegen eines Jugendlichen, der einen Schwächeanfall erlitten hatte, zu einem kleinen Tumult kam, sah die Polizei darin einen willkommenen Anlass, die Konzertgäste mit brutaler Gewalt auseinanderzutreiben. Es begann ein Kesseltreiben gegen Andersdenkende, das auf dem Alten Markt mit zahlreichen Festnahmen endete.
Spürbare Angst vor Friedensgebet am 9. Oktober
„Angesichts dieser brutalen Ereignisse waren wir in großer Sorge vor dem Friedensgebet am 9. Oktober“, sagt Giselher Quast heute. Die Bedrohung durch die Staatsmacht sei spürbar gewesen. An dem Tag selbst waren bis zu 20 000 Polizisten, Stasi-Leute und Mitglieder der Kampfgruppen aus den Großbetrieben in der Magdeburger Innenstadt zusammengezogen worden. Gepanzerte Fahrzeuge und Wasserwerfer rollten durch die Stadt, im Ernst-Grube-Stadion [heute MDCC-Arena; A.d.R.] brannte das Flutlicht, weil dort die Gefangenen untergebracht werden sollten.
„In dieser Situation bewährte sich die Strategie unserer Gruppe von etwa 40 Personen, die regelmäßig die Gebete und Demonstrationen vorbereitet hatte. In ihrem Sinne verhandelten meine damalige Kollegin Waltraut Zachhuber und ich den ganzen Tag mit der Abteilung Inneres des Rates der Stadt, um gewalttätige Ausschreitungen zu verhindern.“ Als ein Zugeständnis konnte erreicht werden, dass am Abend in Domnähe zehn Großraumzüge der Straßenbahn bereitgestellt wurden, um mehr als 2 000 Dombesucher nach dem Gebet ohne Zwischenfälle nach Hause transportieren zu können. „Darin, dass sich die Stadt nach den Demonstranten richtete und den Fahrplan der Verkehrsbetriebe änderte, sahen wir einen kleinen Sieg“, so Quast.
„Ruft nicht! Singt nicht! Sagt nichts!“
An diesem Abend verdreifachte sich die Zahl der Dombesucher. 4 500 Leute kamen zum Gebet um gesellschaftliche Erneuerung. Draußen vor dem Dom drehte die Stadt die Straßenbeleuchtung ab. „Es war gruselig“, sagt der Domprediger. Tödliche Gewalt lag in der Luft. „Auf keinen Fall wollten wir die Leute ins Messer laufen lassen.“ Deshalb wurde zum Abschluss der Veranstaltung immer wieder aufgerufen: „Ruft nicht! Singt nicht! Sagt nichts! Hebt keine Steine von den Straßenbahnschienen im Südabschnitt der Karl-Marx-Straße [heute Breiter Weg; A.d.R.] auf!“ Alle richteten sich danach, es blieb an diesem Abend absolut ruhig. Ein riesengroßer Erfolg der Magdeburger Montagsdemonstranten.
Am 23. Oktober öffneten sich die Domtore zum ersten Mal nach dem Friedensgebet zu einer Demonstration außerhalb der Kirche. Mehrere Tausend Menschen strömten nach draußen, aber nicht um nach Hause zu gehen, sondern um auf Magdeburgs Straßen friedlich für ihre Ziele zu demonstrieren. Auch diese Aktion hatten Quast, Zachhuber und ihre Mitstreiter mit der Stadt abgesprochen. Die Polizei sperrte die Straßen für die Demonstranten ab, Straßenbahnen fuhren nicht, und der erste Marsch rund um den Dom verlief ebenfalls absolut friedlich.
Am 4. und 6. November folgten tagsüber machtvolle Zusammenkünfte auf dem Domplatz und dem Alten Markt, auf denen die politischen Forderungen nach Erneuerung vorgetragen wurden. Nach dem Mauerfall am 9. November folgte an dem nebligen Montag, dem 13. November, auf dem Domplatz eine Kundgebung, auf der inzwischen entlassene Häftlinge über physische und psychische Folter in den Stasi-Gefängnissen berichteten.
Schweigemarsch Zehntausender zum Stasi-Quartier
Den nächsten Höhepunkt der noch bis ins neue Jahr andauernden Montagsdemos bildete ein beeindruckender Schweigemarsch Zehntausender am 22. November vom Domplatz bis zum Stasiquartier an der Walther-Rathenau-Straße. „Dort haben die Stasi-Mitarbeiter mit schussbereiten Waffen im Dunkeln gesessen und nur auf eine Provokation gewartet, um losschlagen zu können. Aber auch dazu haben es die verantwortungsbewussten Magdeburger nicht kommen lassen“, ist Giselher Quast heute noch froh.
Nach den Erfahrungen des einstigen Dompredigers waren etwa 80 Prozent der Dombesucher im Herbst 1989 keine Christen. Für ihn ist klar, dass der Geist der Kirche während der Gebete um gesellschaftliche Erneuerung auf die Nichtchristen übergegriffen und so dazu beigetragen hat, dass die Demos seitens der Demonstranten mutig, besonnen und ohne Blutvergießen über die Bühne gegangen sind.