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Plenarsitzung

„Nicht weglaufen, sondern hierbleiben!“

Detlef Gürth ist seit 1990 Abgeordneter des Landtags in der CDU-Faktion. Foto: Wolfgang Schulz

Die gotische St.-Stephani-Kirche in Aschersleben, der damaligen Kreisstadt im Bezirk Halle, war an diesem 17. Oktober 1989 randvoll. 3 000 Menschen, darunter sehr viele Ausreisewillige, standen in dem Gotteshaus eng beieinander, hörten den Friedensgebeten und Fürbitten zu, traten an die offenen Mikrofone und redeten sich ihren Frust über den Staat, aber auch ihre Hoffnungen und Wünsche von der Seele. Sicherheitskräfte in Uniform und Zivil waren in der Stadt allgegenwärtig.

„Ich hatte die Demonstration mit vorbereitet und stand im Hohen Chor“, erinnert sich Detlef Gürth an diesen Tag. Plötzlich sei er aufgefordert worden, auch etwas zu sagen. „Ich hatte noch nie vor so vielen Menschen gesprochen, mein Herz stand fast still.“ Dann aber seien die Worte nur so aus ihm herausgesprudelt. „Ich habe einfach das gesagt, was mich bewegte und was für mich das Wichtigste schien: Nicht weglaufen, hierbleiben und für Veränderungen eintreten!“

Demonstration gegen das SED-Regime und für eine gewaltfreie Veränderung des Landes im Oktober 1989 in Aschersleben. Foto: privat

Das Land vor dem Ausbluten bewahren

Dreißig Jahre später ist sich der heute 57-Jährige immer noch sicher, das Richtige in dieser Situation gesagt zu haben. „Die DDR-Wirtschaft lag am Boden, die Menschen waren höchst unzufrieden, Zehntausende hatten die ungeliebte DDR schon verlassen, viele andere wollten auch in den goldenen Westen.“ Das Land wäre noch mehr ausgeblutet, den Menschen wäre es noch schlechter gegangen. „Deshalb habe ich den Demonstranten zugerufen, dass sie hierbleiben sollten, damit wir gemeinsam für ein freies und gerechtes Leben in Aschersleben und anderswo kämpfen können.“

Detlef Gürth hat in seiner Geburtsstadt Aschersleben Klempner und Installateur gelernt und als Lehrausbilder im VEB Kreisbaubetrieb gearbeitet. In seiner Freizeit engagierte er sich in der Kirche und war 1984 der CDU beigetreten. Vier Jahre später gab er dem Drängen seiner Partei nach und wurde Mitarbeiter der CDU-Kreisgeschäftsstelle. „Schon damals hatte ich die Hoffnung, dass ich durch die Politik Veränderungen, wenn auch nur kleine, bewirken könnte.“ In der Wendezeit und natürlich in den Jahren danach habe sich diese Hoffnung erfüllt.

In Aschersleben mit seinen rund 40 000 Einwohnern 1989 kannte man sich. Im Spätsommer und im Herbst kam es im ganzen Stadtgebiet zu Demonstrationen und zu Dialog-Gesprächen mit den sogenannten Bürgeraussprachen in der ehemalige Stadthalle als Höhepunkt. Im November 1989 gründete sich nach rund 43 Jahren wieder die erste sozialdemokratische Ortsgruppe (SDP). „Sehr viele Leute engagierten sich in kleinen Gruppen, redeten miteinander und machten sich gegenseitig Mut, damit die zum Greifen nahe Chance auf Freiheit und Gerechtigkeit nicht vertan wurde“, sagt Gürth rückblickend. Er selbst sei in die politische Debatte hineingewachsen und habe sich mehr und mehr im Bürgerdialog und am Runden Tisch engagiert.

Demonstration gegen das SED-Regime und für eine gewaltfreie Veränderung des Landes im Oktober 1989 in Aschersleben. Foto: privat

Wahlkampf bis spät in die Nacht

„Dann standen die ersten freien Wahlen vor der Tür, die Volkskammerabgeordneten sollten am 18. März 1990 zum ersten Mal demokratisch bestimmt werden.“ Gürth bekam den Listenplatz 15 und habe eigentlich angesichts der Umfragen von nur 12 Prozent für die Allianz für Deutschland (Wahlbündnis aus CDU-Ost, Deutscher Sozialer Union und Demokratischer Aufbruch) kaum Hoffnung gehabt. „Da komme ich nie rein“, dachte er damals. Innerhalb von wenigen Wochen habe er jedoch einen „leidenschaftlichen und wilden Wahlkampf“, oft bis in die Nachtstunden hinein,  geführt, der „zu den schönsten Wahlkämpfen für mich überhaupt zählt“. Große Unterstützung habe es von der CDU aus Peine und Pforzheim gegeben. „Wir erhielten Büroartikel, Wahlplakate, Broschüren, Kugelschreiber und haben alles verteilt, wo CDU draufstand“, so Gürth heute. Der Lohn: Die CDU erhielt in Aschersleben 50,2 Prozent. Gürth wurde Abgeordneter der 10. und letzten Volkskammer der DDR und arbeitete im Auswärtigen Ausschuss und im Ausschuss Deutsche Einheit mit.

Die Erfahrungen in der parlamentarischen Arbeit, die er in der Volkskammer gesammelt habe, so Gürth, seien prägend für seinen weiteren beruflichen Weg gewesen. Am 14. Oktober 1990 kandidierte er für den Landtag von Sachsen-Anhalt. Detlef Gürth gewann mit deutlichem Abstand das Direktmandat im Wahlkreis Aschersleben. Auch bei den folgenden sechs Wahlen wurde er in den Landtag wiedergewählt. Heute ist er der einzige Abgeordnete, der seit 1990 ununterbrochen Mitglied des Landtags von Sachsen-Anhalt ist.

„Die Freiheit, die wir heute so selbstverständlich genießen, haben wir denen zu verdanken, die im Herbst 1989 bereit waren, ein enormes Risiko einzugehen und sich gegen den verhassten Staat zu stellen“, sagt Gürth. 400 000 Sowjetsoldaten, 90 000 hauptamtliche und bewaffnete Stasi-Leute, dazu ungezählte Volkspolizisten und Mitglieder der Kampfgruppen hätten im wahrsten Sinne des Wortes Gewehr bei Fuß gestanden. „Im Oktober und November 1989 hätte das Rad der Geschichte, das sich für uns langsam in Richtung Freiheit und Gerechtigkeit zu drehen begann, angehalten und wieder zurückgedreht werden können.“ Zum Glück sei das nicht passiert. „Die friedliche Revolution ist für mich ein Wunder und zugleich das schönste und beglückendes Ereignis des 20. Jahrhunderts.“