Die Sonne schien am 9. April vor 20 Jahren in den Plenarsaal, als die Abgeordneten des Landtags erstmals über den Entwurf einer Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt berieten. Der Sonnenschein sei angemessen, meinte der SPD-Abgeordnete Dr. Reinhard Höppner, als er ans Rednerpult trat. Immerhin gehöre dieser Tagesordnungspunkt zu den Höhepunkten der Beratungen des Parlaments in der ersten Legislaturperiode.
Als Vorsitzender des Verfassungsausschusses ließ Höppner die Arbeit des Gremiums in den zurückliegenden Monaten Revue passieren und berichtete vom gemeinsamen Ringen um einen konsensfähigen Entwurf. Zu Beginn seiner Tätigkeit lagen dem Ausschuss vier Entwürfe vor: einer des Runden Tisches, der schon vor Bildung des Landes Sachsen-Anhalt an einer Verfassung gearbeitet hatte, ein sich daran eng anlehnender Entwurf der Fraktion Bündnis 90/Grüne sowie jeweils eigene Entwürfe der damaligen Oppositionsfraktion SPD und der Regierungsfraktionen von CDU und FDP.
Schwierige Kompromissverhandlungen
Nie jedoch wurde einfach nur der Text eines der Entwürfe übernommen. So sahen zum Beispiel anfangs alle Fraktionen beim Artikel über die Bildung der Landesregierung übereinstimmend die Bestätigung der vom Ministerpräsidenten ernannten Minister durch den Landtag vor. Im Zuge der Beratungen wurde darauf letztlich jedoch ganz verzichtet.
In zwölf zum Teil mehrtägigen Sitzungen wurde der Entwurf erarbeitet. Besonders die letzte Zusammenkunft des Verfassungsausschusses vor der ersten Lesung war von schwierigen Kompromissverhandlungen geprägt. „Alle Fraktionen haben zugunsten größerer Gemeinsamkeit auf – ihrer Meinung nach – wünschenswerte Bestimmungen verzichtet“, hob der Vorsitzende hervor. „Der Vorrat an Gemeinsamkeit war groß genug für den Antrag aller Fraktionen, der Ihnen jetzt vorliegt. Ich denke, dass es für uns alle und für unser Land sehr gut ist, dass es einen so großen Vorrat von Gemeinsamkeit gibt.“
3 335 Vorschläge von Bürgerinnen und Bürgern
Doch der Entwurf war nicht nur das Ergebnis der Abgeordneten-Tätigkeit. Bevor er seine eigentliche Arbeit begann, hatte der Ausschuss Verbände und Kirchen zur Anhörung eingeladen, um deren Grundvorstellungen für eine neue Verfassung zu erfahren. Dabei nannten Verbände vor allem Wünsche hinsichtlich der Grundrechte und Staatsziele, äußerten sich die kommunalen Spitzenverbände zur kommunalen Selbstverwaltung, unterbreiteten die Kirchen konkrete Vorschläge zu den Kirchenartikeln und zur Verankerung des Religionsunterrichtes in der Verfassung.
Und nachdem Landtagspräsident Dr. Klaus Keitel alle Bürgerinnen und Bürger von Sachsen-Anhalt aufgerufen hatte, zu dem seit Oktober 1991 vorliegenden Entwurf Stellung zu nehmen, gingen 986 Zuschriften ein. Sie enthielten insgesamt 3 335 Vorschläge zu einzelnen Teilen und Artikeln der künftigen Verfassung. Einen eindeutigen Schwerpunkt bildeten die Abschnitte „Grundrechte“ sowie „Einrichtungsgarantien und Staatsziele“.
Nicht verwunderlich, so die Väter der Verfassung, denn diese Artikel betreffen ganz direkt die Interessen der Bürger, sind vergleichsweise leicht verständlich und in der öffentlichen Diskussion um die Grundgesetzänderungen bereits vielfach erörtert worden. Die PDS (heute: DIE LINKE) indes bemängelte an dem Verfassungsentwurf „seine Einfallslosigkeit in der Sprache“ ebenso wie den mangelnden Mut, soziale Grundrechte durchzukämpfen. Dafür aber gebe es breiten Konsens in der Bevölkerung, meinte Fraktionsvorsitzende Dr. Petra Sitte, widmeten sich diesem Teil doch die meisten Vorschläge aus den Zuschriften.
Hitzig diskutiert: die Präambel
Allein 112 Zuschriften aus der Bevölkerung kamen zur Präambel und befassten sich insbesondere mit der Frage, ob eine Berufung auf Gott in die Landesverfassung gehört. Die Passage „in Verantwortung vor Gott und den Menschen“ war auch im Verfassungsausschuss umstritten. Die Landesregierung sprach sich während der ersten Lesung für die Beibehaltung dieser Formulierung aus. „Sie soll unserer Auffassung nach zum Ausdruck bringen, dass die Verfassung nicht allein auf einer wertfreien Staats- und Volkssouveränität beruht, sondern an eine vorgegebene, auch einer Mehrheitsentscheidung entzogene Wertordnung gebunden ist“, sagte der damalige Ministerpräsident Prof. Dr. Werner Münch.
„Die Kirche besitzt genug Selbstverständnis, um ihre Rolle allein zu finden“, meinte der FDP-Abgeordnete Gerry Kley. Aus liberaler Sicht schade es nicht, wenn die Artikel zu Gott und Kirche nicht in der Landesverfassung enthalten sind. Nach Ansicht des Pfarrers und Bündnisgrünen Abgeordneten Hans-Jochen Tschiche habe der liebe Gott „in der Verfassung nichts zu suchen“, sei er doch größer als alle staatlichen Präambeln und jenseits von Verfassungen. Dem SPD-Abgeordneten Dr. Reinhard Höppner gab zu denken, dass gerade aus kirchlichen Kreisen Protest zu dieser Formulierung kam. „Wir leben in einem Land, in dem sich 80 Prozent der Bevölkerung nicht zu Gott bekennen, für die Gott bestenfalls eine Metapher für irgendein höheres Wesen ist.“
Doppelter Verantwortungsbezug
Letztlich aber blieb Gott in der Präambel der Verfassung von Sachsen-Anhalt. Die CDU-Fraktion setzte sich nachdrücklich dafür ein, den doppelten Verantwortungsbezug – Gott und Mitmensch – zu erhalten. Allerdings wurde die Formulierung im Ergebnis der Diskussion aktualisiert. „In Achtung der Verantwortung vor Gott und im Bewusstsein der Verantwortung vor den Menschen“, hieß es nun. In dieser Formulierung können sich alle wiederfinden, meinte zur dritten Lesung der CDU-Abgeordnete Dr. Christoph Bergner. Insgesamt stehe Sachsen-Anhalts Landesverfassung durch klare Sprache und nüchterne Regelungsinhalte in der Tradition des Grundgesetzes. Mit dem für die Präambel gefundenen Kompromiss wurde auch den Zuschriften zu dieser Textstelle entsprochen.
Am 15. Juli 1992 war es dann so weit. Alle Änderungswünsche, Anträge und Vorschläge zur neuen Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt waren im Ausschuss gründlich beraten und im Plenum in drei Lesungen intensiv debattiert worden. Auf der 35. Sitzung des Parlaments, für Landtagspräsident Dr. Klaus Keitel „ganz sicher eine denkwürdige Sitzung“, wurde die Verfassung mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit der Abgeordneten verabschiedet. Mit ihrer am Tag darauf folgenden Ausfertigung ging für Sachsen-Anhalt die Periode des Neuanfangs verfassungsrechtlich zu Ende. Der Landtag hatte in seiner Funktion als verfassunggebende Versammlung eine seiner wichtigsten Aufgaben abgeschlossen.