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Plenarsitzung

So sicher sind die Justizvollzugsanstalten

23. Jun. 2020

Die Fraktion DIE LINKE hatte eine Aktuelle Debatte beantragt, in der sie mit den anderen Fraktionen die Situation in den Justizvollzugsanstalten des Landes Sachsen-Anhalt in den Fokus rücken wollte. Besonderer Schwerpunkt sollte dabei der Fluchtversuch des Attentäters vom 9. Oktober 2019 in Halle (Saale), Stephan B., aus der Justizvollzugsanstalt Roter Ochse in Halle (Saale) und dessen Folgen sowie Konsequenzen sein.

Der mutmaßliche Attentäter aus Halle hatte kürzlich versucht, aus der JVA Roter Ochse in Halle (Saale) auszubrechen. Foto: Catatine/wikipedia.de

Ein Mix aus Fehlverhalten und Versäumnissen

Nach dem Anschlag in Halle (Saale) sei mehr als deutlich: „Deutschland hat ein Antisemitismus- und Rechtsextremismus-Problem“, konstatierte Eva von Angern (DIE LINKE). Der Fluchtversuch des mutmaßlichen Attentäters am 30. Mai 2020, aber auch schon dessen unbehelligte Vorbereitung und Durchführung des Attentats bedeuteten das politische Versagen auf mehreren Ebenen. Der ganze Vorgang sei ein Mix aus Fehlverhalten, Versäumnissen und Desinteresse der Verantwortlichen im Ministerium für Justiz und Gleichstellung, so von Angern. Der in den Ruhestand verabschiedete Staatssekretär sei wahrlich kein Bauernopfer; die Justizministerin sei ihrer Informations- und Auskunftspflicht gegenüber dem Landtag nicht nachgekommen.

„Wir erwarten ab sofort absolute und ausschließliche Transparenz“, so von Angern gegenüber der Justizministerin; nur so habe diese ihre Zukunft in der Landesregierung in ihrer eigenen Hand. Auf eine Entschuldigung vom Ministerpräsidenten warte man noch, auch auf seinen Beitrag zur Aufklärung der aktuellen Situation. Von Angern drängte darauf, die strukturellen Defizite im Justizvollzug in Sachsen-Anhalt anzusprechen: die hohe Anzahl an Suiziden, die vergleichsweise geringe Arbeitsquote der Insassen, die wenigen Bildungsangebote, die wenigen Möglichkeiten zur Resozialisierung.

Verlorenes Vertrauen zurückgewinnen

Der Fluchtversuch des mutmaßlichen Attentäters habe einen tiefen Einschnitt in die jüngere Geschichte des Justizvollzugs des Landes hinterlassen. Justizministerin Anne-Marie Keding (CDU) bat um Entschuldigung: „Es hätte nicht passieren dürfen!“ Die Ministerin betonte: Unter oft nicht einfachen Rahmenbedingungen leisteten die etwa 1 000 Vollzugsbeamten im Land in der Regel eine wertvolle und verlässliche Arbeit für die Sicherheit der Bevölkerung.

Für die Unterbringung während der Untersuchungshaft sei die JVA Halle (Saale) sachlich für den Gefangenen zuständig gewesen. Zwar seien alle Sicherheitsmaßnahmen nach außen und innen zu berücksichtigen, aber auch die Freiheiten der Straftäter, so auch die sogenannte Freistunde. Eigentlich hätte Stephan B. außerhalb seines Haftraums ununterbrochen beaufsichtigt werden müssen. Diese Handlungsmaxime seien am betreffenden Tag nicht vollständig berücksichtigt worden. Mit einem externen Expertengremium würde nun die Organisation der Sicherheit in der JVA Halle auf den Prüfstand gestellt. „Wir werden hart daran arbeiten, das verlorengegangene Vertrauen zurückzugewinnen“, versicherte Keding.

Juristische und politische Aufarbeitung

In einem Monat beginne der Prozess gegen den mutmaßlichen Attentäter von Halle; die Welt schaue nach Sachsen-Anhalt, „wie wir mit der juristischen und politischen Aufarbeitung diese Tat umgehen“, sagte Silke Schindler (SPD). Der Fluchtversuch von Ende Mai 2020 sei zum Glück nicht erfolgreich gewesen. Man müsse sich fragen, warum ein solcher Fluchtversuch überhaupt habe passieren können; das Vertrauen in den Justizapparat sei dadurch schwer beschädigt worden.

Neben der Ahndung der Pflichtverletzung und des Fehlverhaltens einzelner Beamter sei es vor allem die Bearbeitung der offenbaren strukturellen Probleme, die in den Fokus rücken müsse. „Konnte die Anstalt mit ihrer personellen und sachlichen Ausstattung wirklich der Verwahrung eines solchen Inhaftierten gerecht werden?“, fragte Schindler. „Es gibt viel zu tun, um die Situation im Justizvollzug zu verbessern.“

Einer Justizvollzugsanstalt unangemessen

„Der Ablauf des Tagesgeschehens am 30. Mai erinnert eher an eine 68er-Blümchen-WG, aber nicht an eine Justizvollzugsanstalt“, konstatierte Mario Lehmann (AfD). Man wolle sich nicht ausmalen, was noch alles hätte passieren können. Es sei ein Desaster. Die AfD habe in der Vergangenheit bereits mehrfach auf vermeintliche Fehlleistungen des Justizapparats aufmerksam gemacht und entsprechende Konsequenzen gefordert, so etwa im Herbst 2018 und im Herbst 2019. Täter „unterschiedlicher Couleur“ würden unterschiedlich behandelt, der Aufschrei im Fall „Fluchtversuch Stephan B.“ wirke unglaubhaft. Es scheine, vermeintliche Straftäter mit Migrationshintergrund erhielten dagegen einen juristischen Freifahrtschein, mutmaßte Lehmann. Der „Heuchelei“, den Rücktritt der Justizministerin zu fordern, schließe sich die AfD-Fraktion nicht an.

Mehr und besser ausgebildetes Personal

Am 9. Oktober 2019 habe die Welt nach Sachsen-Anhalt und Halle (Saale) geblickt, in wenigen Wochen werde sie es wieder tun, wenn der Prozess gegen den Verantwortlichen beginne, sagte Sebastian Striegel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN). Im Untersuchungsausschuss des Landtags werde der Einsatz der Polizei an jenem Terrortag untersucht, es gehe aber auch darum, den Morast trockenzulegen, aus dem heraus solche Taten geschähen. Die Strafverfolgung müsse hier konsequenter werden.

Es sei ein ungeheuerlicher Vorgang, dass der Straftäter Stephan B. während seiner Freistunde unbeaufsichtigt geblieben sei, so Striegel. Hier liege ein Organisationsversagen auf höherer Ebene vor, das aufgeklärt werden müsse; die Justizministerin befinde sich nun „auf Bewährung“. Es sei unbedingt notwendig, auch die Personalsituation in den Haftanstalten in den Fokus zu rücken. Ein Grund für die Möglichkeit eines Fluchtversuchs sei auch die personelle Unterbesetzung gewesen. „Wir brauchen folglich mehr und besser ausgebildetes Personal“, sagte Striegel. Es sei noch immer richtig, im Justizwesen weiterhin auf Prävention und Resozialisierung zu setzen. Die Chancen, die sich daraus böten, ließe man zu oft verstreichen.

Fluchtversuch aufarbeiten und auswerten

Der Untersuchungsgefangene Stephan B. werde sich demnächst für seine schrecklichen Taten verantworten müssen, versicherte Jens Kolze (CDU). Seine Fraktion sei bereit, den Fluchtversuch sorgfältig parlamentarisch aufzuarbeiten, zu untersuchen und anschließend auszuwerten, betonte der CDU-Abgeordnete. Einer Aktuellen Debatte hätte es aber nicht bedurft, denn man würde sich im Ausschuss bereits umfassend mit dem Fall beschäftigen, so Kolze.

Die Justizvollzugsbediensteten leisteten oft unter schwierigen Bedingungen gute Arbeit, aber es hätte nicht passieren dürfen, dass der Schwerpunktgefangene auf dem Freistundenhof allein gelassen werde, während der Beamten einen Blick auf Malerarbeiten im Hause geworfen hätten. Die Arbeit im Justizvollzug in Sachsen-Anhalt werde im Übrigen verantwortungsbewusst wahrgenommen, erklärte Kolze. Die Entlassung des Staatssekretärs sei unausweichlich gewesen (denn er trage die Verantwortung), auch wenn dieser in der Vergangenheit einen wichtigen Dienst für das Land Sachsen-Anhalt geleistet habe.

Routine und Machtspielchen

Die Entlassung des Justizstaatssekretärs sei eine logische und richtige Konsequenz gewesen, erklärte Jens Diederichs (fraktionslos). Der Fluchtversuch von Stephan B. sei eine Folge von Gleichgültigkeit, Routine und Machtspielchen in der Führungsebene gewesen. Verschiedene andere gelungen und misslungene Fluchtversuche würden einfach so hingenommen. Auf die Einhaltung der Sicherheitsvorkehrungen müsse allerorten gleichermaßen geachtet werden, so Diederichs.

Beschlüsse zur Sache wurden am Ende der Aktuellen Debatte nicht gefasst.