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Plenarsitzung

„Tod hätte verhindert werden können“

28. Aug. 2020

Der Ausschuss für Recht, Verfassung und Gleichstellung hat sich in seiner Sitzung am 28. August 2020 unter anderem mit der Aufklärung im Todesermittlungsverfahren des aus Sierra Leone stammenden Oury Jalloh (im Bericht Jallow) beschäftigt. Sonderberater hatten in den letzten Monaten den Fall selbst und die Ermittlungsakten noch einmal geprüft. Es gebe derzeit keine Ansätze, um wegen Mordes oder Mordversuchs zu ermitteln, so das Fazit der Berater.

Der Rechtsausschuss des Landtags hatte im Vorfeld beschlossen, sich nicht nur die Ermittlungsakten vorlegen zu lassen, sondern auch Sonderberater für eine Prüfung des Falls und der Ermittlungen zu beauftragen. Der Rechtsanwalt und ehemalige Grünen-Bundestagsabgeordnete Jerzy Montag und der ehemalige Münchner Generalstaatsanwalt Manfred Nötzel wurden mit der Untersuchung beauftragt, diese begann am 13. Januar 2020. Beide stellten ihren Bericht während der Ausschusssitzung und anschließend in einer Pressekonferenz vor.

Die Sonderberater präsentierten auf einer Pessekonferenz ihre Untersuchungsergebnisse über die Ermittlungen um den Tod von Oury Jalloh in einer Gewahrsamszelle der Dessauer Polizei. Foto: Stefan Müller

Langjährige parlamentarische Beschäftigung

Der Landtag beschäftige sich seit dem 2. Februar 2005 mit dem Fall „Oury Jalloh“, so Detlef Gürth, Vorsitzender des Ausschusses für Recht, Verfassung und Gleichstellung. Allein in der aktuellen Wahlperiode habe es schon 20 Vorlagen und Berichte gegeben, zudem zehn Behandlungen im Rechtsausschuss des Landtags. Der Fall sei juristisch an sein Ende gelangt, abgeschlossen sei er deswegen aber noch lange nicht. Der Tod Oury Jallohs im polizeilichen Gewahrsam sei unentschuldbar und beschämend, so Gürth. Möglicherweise sei ein juristischer Frieden hergestellt worden, einen Seelenfrieden für die Familien und Freunde Oury Jallohs werde es wohl kaum geben.

Mehrfache Missachtung geltenden Rechts

Der nicht-natürliche Tod Oury Jallohs hat alle Menschen in Sachsen-Anhalt nachhaltig betroffen gemacht, zitierte Jerzy Montag den früheren sachsen-anhaltischen Ministerpräsidenten Prof. Dr. Wolfgang Böhmer aus dem Jahr 2008. In einem Fall, der fünfzehn Jahre alt und durch fünf Gerichtsinstanzen gegangen sei, sei die Aufklärung allein mit Sichtung von Akten nicht möglich gewesen. Daher habe es viele offene Gespräche gegeben, die dabei geholfen hätten, vieles aufzuklären, was aufgrund der Akten noch nicht ganz klar gewesen sei. Verschiedene Personen hätten ein aufklärendes Gespräch aber auch abgelehnt, so der Berater. „Der Bericht ist sehr umfassend und beruht ausschließlich auf den Akten und den geführten Gesprächen“, betonte Montag. Alle Namen seien zum Schutz der jeweiligen Persönlichkeitsrechte im Bericht anonymisiert worden.

Der 36-jährige Oury Jalloh habe sich am 7. Januar 2005 von kurz nach 8 bis etwa 12 Uhr in Haft befunden, während der er in seiner Zelle verbrannte. Seit 15 Jahren ist noch immer nicht geklärt, ob Jalloh selbst das Feuer legte oder ein Zweiter, und warum er nicht gerettet werden konnte oder wollte. Eines stehe allerdings fest, so Montag: Von den Polizeibeamten seien fortwährend Fehler begangen worden, alle einzelnen Maßnahmen seien von Unkenntnis oder Missachtung geltenden Rechts geprägt und damit auch rechtswidrig gewesen. Darunter zählen:

  • die Personenkontrolle auf offener Straße (Grund muss benannt werden, ist nicht erfolgt),
  • die Anwendung unmittelbaren Zwangs (nicht angedroht worden, sondern gleich umgesetzt),
  • die Ingewahrsamnahme (Freiheitsentziehung bedürfe richterlicher Genehmigung, diese einzuholen ist allerdings nicht einmal versucht worden; eine Erklärung für die Ingewahrsamnahme habe es nicht gegeben),
  • auch die Blutentnahme sei nicht richterlich genehmigt oder angefragt worden.
  • Für die Fixierung – deutlich mehr als eine Fesselung – habe es keine gesetzliche Grundlage gegeben, dafür sei eine gesonderte richterliche Genehmigung erforderlich gewesen. Diese sei nicht einmal angefragt worden. Die Fixierung sei zudem völlig untauglich gewesen, um Selbstverletzungen zu verhindern, sie sei also rechtswidrig gewesen.

„Tod hätte verhindert werden können“

Eine gewichtige Frage bei der Untersuchung des vorliegenden Materials sei gewesen: Hätte der Tod Oury Jallohs verhindert werden können, wenn die polizeilichen Maßnahmen ordnungsgemäß abgelaufen wären? Im Kurzen: Ja.

Die zu beantragenden richterlichen Maßnahmen (Ingewahrsamnahme, Blutentnahme) wären wahrscheinlich genehmigt worden, so Montag. Der zuständige Dienstgruppenleiter sei aber dafür verurteilt worden, weil er Aufsichtspflichten verletzt habe: Aufgrund der Fixierung hätte eine permanente Sitzwache in der geöffneten Tür angeordnet werden müssen. So wäre der Tod – wer oder was auch immer der Auslöser gewesen sein mag – mit Sicherheit verhindert worden, konstatierte Montag.

Dass man Jalloh aufgrund einer „Identitätsfeststellung“ festgehalten habe, sei Unrecht gewesen, denn diesen Grund habe es überhaupt nicht gegeben. Die Identität von Oury Jalloh habe festgestanden, erkennungsdienstliche Informationen hätten vorgelegen. Man habe ein Dokument für dessen Duldung in Deutschland gefunden – mehrfach gefaltet, daher teils unleserlich. Der festnehmende Beamte habe allerdings dennoch fünf Vordrucke ausgefüllt – hier seien sowohl das Geburtsjahr 1983 (eigentlich 1968) als auch die Adresse korrekt eingetragen worden.

Bereits 8.47 Uhr habe aufgrund einer internen Informationsabfrage festgestanden, dass es sich um Oury Jalloh handelte; diese Information habe aber den zuständigen Beamten in der Schreibstube im Keller des Reviers nicht mehr erreicht, er war zwischenzeitlich auf Streife gegangen. Um die Identitätsfeststellung habe sich niemand mehr bemüht, obwohl das die vorderste Pflicht gewesen wäre, so Montag. Keine vier Stunden nach seiner Festsetzung sei Oury Jalloh tot gewesen. Aufgrund der Identitätsfeststellung wäre Jalloh vermutlich nach Hause entlassen worden.

Strukturelle Probleme bei der Polizei

Bei den Untersuchungen hätten sich strukturelle Probleme im Polizeirevier Dessau herausgestellt, rekapitulierte Jerzy Montag. Allein von April 2004 bis Januar 2005 habe es 150 Ingewahrsamnahmen gegeben – und in keinem Fall sei ein Richter um Genehmigung angerufen worden, das Gesetz sei „großzügig ausgelegt“ worden, so die verantwortlichen Beamten bei der Polizei, zitierte Montag. In den Jahren 2003 und 2004 habe es 6 780 Freiheitsentziehungen in Sachsen-Anhalt gegeben – und darunter nur ein Fall, in dem ein Richter um Genehmigung überhaupt auch nur gefragt worden sei.

Es habe also nicht nur in Dessau, sondern im ganzen Land weit verbreitet strukturelle Probleme gegeben – mitunter sei selbst Richtern und Gerichtsdirektoren der richterliche Vorbehalt einer Ingewahrsamnahme nicht bekannt gewesen, monierten die Sonderberater.

Wer trägt die Schuld?

Das unrechtmäßige Verhalten der Dessauer Polizei sei im Urteil des Landgerichts Magdeburg berücksichtigt worden, die sei auch vom Bundesgerichtshof bestätigt worden, erklärte Manfred Nötzel. Richtig grobe Schnitzer seitens der Staatsanwaltschaften habe es nicht gegeben, so der zweite Berater. Allen Indizien sei – wenn auch etwas mäandernd – nachgegangen worden. Sehr viele Sachverständige seien gehört worden. Die Urteile der Schwurgerichte seien nach bestem Wissen und Gewissen gefasst worden.

Hat es sich um ein Unterlassungsdelikt gehandelt? Und wer ist dann schuld? Man habe die Quasikausalität geprüft, so Jerzy Montag. Ein Richter hätte kontaktiert werden müssen, aber dies hätte voraussichtlich zum gleichen Ergebnis (die Ingewahrsamnahme) geführt. Das fehlerhafte Verhalten habe schließlich zum Tod Oury Jallohs geführt. „Es gibt momentan keine offenen Ermittlungsansätze mehr“, so Nötzel. Unstimmigkeiten und Widersprüche habe es in der Ermittlung in der Tat gegeben. Mit den Vorwürfen des Vorsatzes seien die Klageerhebenden jedoch zweimal gerichtlich gescheitert.

Noch offene Fragen

Die Sonderberater hätten im Zuge ihrer Untersuchung die gesamten Asservate von Oury Jalloh angeschaut. In einem dort archivierten Adressbüchlein sei ein Besuchsschein entdeckt worden, auf dem Geburtsdatum und Adresse vollständig notiert waren – „dieses Adressbüchlein ist in den fünfzehn Jahren Ermittlungsarbeit und auch bei der Ingewahrsamnahme nicht ein Mal überprüft worden“, monierte Montag.

„Mord verjährt nicht“, betonte Nötzel, das Verfahren könne immer wieder aufgenommen werden, wenn entsprechende Beweise vorgelegt würden.

Wie es im Rechtsausschuss weitergeht

Der Beschluss des Landtags zur Vorlage der Akten im Fall Oury Jalloh (Drucksache 7/2134) wurde vom Ausschuss als abgeschlossen erklärt. Der Antrag der Fraktion DIE LINKE „Aufklärung im Todesermittlungsverfahren Oury Jalloh muss vorangetrieben werden“ (Drucksache 7/1851) wurde im Sinne weiterer Nachfragen für noch nicht abgeschlossen erklärt. Der Bericht der Berater selbst wird öffentlich gemacht (siehe unten).