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Plenarsitzung

Sachsen-Anhalt und der 30. Landesgeburtstag

16. Okt. 2020

Deutschland feierte am 3. Oktober den 30. Jahrestag der Wiedervereinigung. Dies zum Anlass nehmend, hielt Ministerpräsident Dr. Reiner Haseloff eine Regierungserklärung zum Thema „30 Jahre Deutsche Einheit – 30 Jahre Sachsen-Anhalt“. Im Anschluss hatten die Vertreter*innen der Fraktionen die Gelegenheit, zum Gesagten Stellung zu beziehen und eigene Aspekte in die Debatte einzubringen.

Foto-Collage mit Bildern aus der Ausstellung

Anlässlich des 30. Jahrestags der Wiedervereinigung zeigt der Landtag von Sachsen-Anhalt derzeit die Ausstellung „Umbruch Ost“. Foto (Plakat): Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur

Krisenfestere kleinteilige Wirtschaft

Der Tag der Einheit sei und bleibe ein Tag großer Freude, betonte Ministerpräsident Dr. Reiner Haseloff. Die deutsche Einheit habe viele Mütter und Väter, und das nicht nur in Deutschland. Den Hundertausenden Menschen, die im Herbst 1989 auf die Straße gegangen seien, schulde man noch immer Dank. Sie hätten die Rechte eingefordert, die uns heute selbstverständlich erscheinen, darunter Meinungsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit, demokratische Wahlen, Religionsfreiheit und Reisefreit. Es gelte, jenen Politiker*innen zu danken, die die Einheit im Jahr 1990 mitgestaltet hätten, aber auch jenen, die in den Jahrzehnten davor niemals von dieser Vision abgelassen hätten, sagte Haseloff.

Bereits zwei Wochen nach der ersten freien Landtagswahl habe sich der Landtag von Sachsen-Anhalt konstituiert. „Die Erwartungen am Neustart waren ohne Zweifel groß“, erinnerte sich Haseloff. Viele Menschen hätten ihre Arbeit verloren, Helmut Kohl sei für seinen Ausspruch von den „blühenden Landschaften“ im Nachhinein gescholten worden. „Aber ich hätte mir niemals träumen lassen, das meine Heimatstadt Wittenberg heute so aussehen würde, wie sie sich entwickelt hat“, so der Ministerpräsident. 30 Jahre nach der Verwirklichung der deutschen Einheit solle man nicht an der Legendenbildung mitarbeiten. So sei etwa die Treuhand trotz ihrer Fehler nicht der Kardinalfehler der deutschen Einheit gewesen, sondern die sozialistische Planwirtschaft in der DDR, die dafür gesorgt hätte, dass die Wirtschaft des Ostens von vornherein nicht habe mithalten können.

Haseloff erinnerte an die Chancen, die die Einheit für den Osten eröffnet habe. Es habe einen Riesenfortschritt in der Verbesserung der Umwelt gegeben, die Flüsse seien wieder sauber geworden, in den Chemiegebieten könne man wieder frische Luft atmen. Es sei massiv in Sachsen-Anhalt investiert worden, das Land habe sich durch die innerdeutschen Transfers und die Mittel der EU entwickeln können. Seit 1990 seien demnach unter anderem 1,5 Milliarden Euro für die Altlastenentsorgung, 3,9 Milliarden Euro für die Krankenhäuser und 3,5 Milliarden Euro für die Städtebauförderung nach Sachsen-Anhalt geflossen.

Die kleinteilige Wirtschaft habe sich als krisenfester erwiesen, konstatierte der Ministerpräsident. Der Osten gewinne zunehmend an Attraktivität, dies zeige sich auch an den Studierendenzahlen an den Hochschulen in Sachsen-Anhalt. Das Land sei in Wissenschaft und Forschung gut aufgestellt, beispielsweise in der Chemie und in der Elektromobilität. Nun müsse der Strukturwandel in der Braunkohleindustrie bewältigt werden.

Zwischen 1990 und 2018 habe es einen deutlichen Rückgang bei Parteimitgliedschaften gegeben, monierte Haseloff. Offenbar habe das Vertrauen in Parteien und deren Arbeit gelitten. Es dürfe kein Ausblenden und Negieren von Problemen geben, so Haseloff, der für „gute Sacharbeit und gute Argumente“ einstehe. Dabei müsse man aber auch Befürchtungen ernst nehmen, die selbst nicht geteilt würden. Wenn diese aber in Rassismus, rechte Hetze und Angriffe auf Menschen gipfelten, sei dies nicht hinnehmbar: „Hier endet die Toleranz, denn hier wird die Demokratie direkt bedroht.“ Haseloff warb dafür, im weiteren Einigungsprozess „nicht so stark darauf zu schauen, was uns trennt, sondern was uns eint und was wir gemeinsam bereits erreicht haben“. Das Land, das unter dem Markenzeichen „#moderndenken“ agiere, solle seine Erfolgsgeschichte weiterschreiben.

„Viele haben den Beitritt so nicht gewollt“

Oliver Kirchner (AfD) erklärte, der 9. November 1989 sei ein Wendepunkt von weltweiter Bedeutung gewesen, der 3. Oktober 1990 dagegen eher ein festgelegter Stichtag, bei dem es darum gegangen sei, möglichst schönes Wetter zu haben. Noch immer würden viele Deutsche den Einheitstag nicht als Feiertag empfinden, was genau an dieser zufälligen Auswahl liegen könnte. Seiner Ansicht nach wäre in dem Zusammenhang der 9. November als Gedenktag für alle Deutschen besser gewesen, aber dies hätten die Verantwortlichen wahrscheinlich bewusst nicht gewollt, weil er historisch zu aufgeladen sei. Kirchner erinnerte zudem daran, dass viele Menschen die Wiedervereinigung 1990 oder besser gesagt: den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik – so wie er passiert sei –  gar nicht gewollt hätten.

Er selbst sei „selbstverständlich froh, dass es 1990 so kam“, dabei habe er jedoch nicht vergessen, was er im Unrechtsstaat DDR erlebt habe. Dass der Osten auch 30 Jahre später immer noch anders ticke als der Westen zeigten nicht zuletzt die vergangenen Wahlen. Ein Grund: Sachsen-Anhalt habe in den vergangenen 30 Jahren viel Federn lassen müssen, insbesondere die „Treuhandwunde“ wirke nach. Noch immer trage Sachsen-Anhalt in vielen Lebensbereichen „die rote Laterne“, so Kirchner weiter. Als Beispiele nannte er unter anderem Bildung, Wirtschaft, Fachkräftemangel, Renten, Lohnniveau und vieles mehr.  Außerdem kritisierte er, dass es noch immer zu wenige Führungskräfte aus dem Osten in großen Unternehmen und in Regierungsposten auf Bundes- und Länderebene gebe.

Zum Abschluss seiner Rede bezweifelte der AfD-Fraktionsvorsitzende, dass sich die Konstrukteure der Wiedervereinigung die Zukunft des Landes so vorgestellt hätten, wie sich die heutige Situation darstelle. Noch immer sei das Land gespalten zwischen Ost und West. Daher sein Fazit: „30 Jahre Wiedervereinigung sind kein Grund zum Feiern, unser Land hat Probleme zuhauf.“ Anstatt diese zu lösen, klopften sich die Politiker allerdings heute lieber auf die Schultern.

„Sachsen-Anhalt kann mehr“

Die Wiedereinführung der Länder und des Föderalismus sei eine demokratische Entscheidung der letzten DDR-Volkskammer gewesen, erinnerte Dr. Katja Pähle (SPD). Zur Neugliederung der Republik seien zuvor über 2 000 Vorschläge eingereicht worden. „Ich mag unser Land, ich mag meine Heimat – aus vielen Gründen“, es sei ein vielfältiges Land mit vielfältigen Lebensentwürfen, bekannte Pähle. Man habe die Möglichkeit, Sachsen-Anhalt mit Bürgernähe zu gestalten, „das ist ein Wert für Demokratie in unserem Land“. Das Land werde gerne unterschätzt, aber das biete ihm die Chance, positiv zu überraschen. Wie gut Sachsen-Anhalt durch die Corona-Pandemie komme, sei dafür nur das aktuellste Beispiel.

Pähle frischte die Erinnerung an jene auf, die 1990 die Entscheidung getroffen hätten, hierzubleiben und bewusst nicht in die industriellen Zentren im Westen Deutschlands wegzugehen. „Für viele schien es damals aber die einzige Alternative zu sein.“ Diejenigen, die geblieben seien, hätten sich selbst neue Chancen erarbeitet. „Wertschätzung verdient diese Generation doppelt und dreifach“, so Pähle.

Sachsen-Anhalt könne mehr, betonte Pähle, zum Beispiel beim Thema Einkommenssituation: Der Durchschnittsbruttolohn liege 500 Euro unter dem schlechtesten Wert im Westen, aber auch 50 Euro unter dem von Sachsen. In der Gesundheitsversorgung komme Sachsen-Anhalt zwar gut durch die Krise, aber der Investitionsstau sei nicht zu übersehen. In der Bildungspolitik fehlten neue Lehrer und digitale Unterrichtsmöglichkeiten. „Wenn wir 40 Jahre Sachsen-Anhalt feiern, dann soll das Land so stark und so leistungsfähig, gerecht und lebenswert sein, wie es seinen Potenzialen entspricht“, wünschte sich Pähle. Politik und politische Entscheidungen seien schon immer dynamische Prozesse gewesen, davon müsse  es in den kommenden Jahren noch viel mehr geben.

Neue Perspektiven entwickeln

Die deutsche Wiedervereinigung sei eine Geschichte von Erfolgen, Niederlagen, Ungerechtigkeiten und gelungenen wie gescheiterten Neuanfängen, resümierte Eva von Angern (DIE LINKE). Sie erinnerte an die Milliardentransfers, die Ostdeutschland verändert hätten, und die Agenda 2010, die zu vielen Brüchen geführt habe. Ihre Fraktion erkenne an, dass die sozialistische Idee gescheitert sei, in vielen Bereichen wegen eines dauerhaften Machtanspruchs der SED-Führung. Die Fraktion DIE LINKE bekenne sich zu ihrer Verantwortung, rief aber auch die Mitschuld der anderen Parteien in der DDR wach. Insbesondere die CDU habe hier einen blinden Fleck.

„Mut kann die Verhältnisse zum Tanzen bringen“, das habe die Wendezeit gezeigt, so von Angern. Die letzten 30 Jahre seien nicht für alle einfach gewesen. „Alle hofften auf gleiche Chancen, für viele Menschen haben sich diese Erwartungen nicht erfüllt.“ Die Linken-Abgeordnete verwies auf die hohe Zahl der Kinderarmut in Sachsen-Anhalt, die geringeren Löhne, sein offensichtliches Rassismusproblem.

Mit dem Strukturwandel durch den Kohleausstieg drohe die systematische Verarmung weiterer Menschen, durch schlechter bezahlte Jobs und schlechtere Lebensbedingungen. Mit den Betroffenen müssten gemeinsam neue Perspektiven entwickelt werden, forderte von Angern. Die Corona-Pandemie habe die Schwachstellen des Gesundheitssystems aufgezeigt und wie falsch die massenhafte Privatisierung der Krankenhäuser gewesen sei. Einschnitte in die Grundrechte (durch Corona-Maßnahmen) müssten im Parlament besprochen und entschieden werden.

Beim nächsten Jubiläum erwarte von Angern keinen Bericht über den Stand der deutschen Einheit, sondern über den Stand der Modernisierung des Landes Sachsen-Anhalt. Darin sollten Perspektiven aufgezeigt werden, wie sich das Land weiterentwickeln könnte, um solidarisch, tolerant und weltoffen zu sein.

Klimafreundliches und demokratisches Sachsen-Anhalt

Für viele Menschen sei es ein schwieriger Start in ein neues System gewesen, erinnerte Cornelia Lüddemann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN). Sie sei allerdings zutiefst davon überzeugt, dass der demokratische Rechtsstaat eine historische Errungenschaft sei, den es gegen Rechtsextremisten und andere Demokratiefeinde zu verteidigen gelte. Die Demokratie wirke nur durch eine lebendige und streitbare Partizipation der Bürgerinnen und Bürger. Lüddemann schlug daher die Einführung von Bürgerräten auf regionaler und Landesebene vor, um mehr direkte Bürgerbeteiligung zu ermöglichen. Die Landespolitik müsse diese Einbringungen diskutieren und daraus Konsequenzen ziehen.

Lüddemann freute sich über die vielen jungen Menschen, die sich mit Energie und Ausdauer für den Planeten und das Leben in Sachsen-Anhalt einsetzten. Ziel der Landespolitik müsse es tatsächlich sein, ein klimafreundliches und demokratisches Sachsen-Anhalt zu schaffen. Gute Erfolge seien bereits erzielt worden. In der Mulde seien beispielsweise wieder Lachse gesichtet worden, deren Wasser habe Badequalität. Man müsse die Lust an der Veränderung reaktivieren. „Die Zukunft sind die erneuerbaren Energien, aber man muss auch auf diese Zukunft setzen.“

„Viele Hoffnungen haben sich nicht erfüllt“

Die deutsche Wiedervereinigung sei ein welthistorisches und längst überfälliges Ereignis gewesen, meinte André Poggenburg (fraktionslos). Einige historische Möglichkeiten seien verpasst worden, darunter das Generieren einer gesamtdeutschen Verfassung. Viele Hoffnungen der Demonstranten von 1989 hätten sich nicht erfüllt, so Poggenburg. Niemand hätte daran gedacht, einmal Nahrungsmittel von der Tafel zu erbitten, niemand habe sich vorgestellt, auf Obdachlose auf den Straßen zu treffen oder auf Menschen, die um ihre wirtschaftliche Existenz bangen müssten. Für Poggenburg sei die Wiedervereinigung nicht vollendet. Vielmehr gebe es eine neue politisch-ideologische und wirtschaftliche Trennung quer durch Gesellschaft und Familien.

Prinzip der Offenheit und Gestaltung

Mit Schabowskis Satz zu den neuen Reiseregelungen sei die Mauer endgültig zum Einsturz gebracht worden, konstatierte Siegfried Borgwardt (CDU). Viele Ostdeutsche hätten positive wie negative Erinnerungen an die DDR – günstige Preise und guter Zusammenhalt stünden umfänglicher Überwachung und dem unmenschlichen Grenzregime gegenüber. Die DDR sei letztlich am Urteil ihrer Bürgerinnen und Bürger gescheitert, sagte Borgwardt. Heute könnten Kinder eine ideologiefreie Schulbildung durchlaufen und ein Leben ohne Ausgrenzung und Verfolgung führen.

Die internationalen Vorbehalte gegenüber einem vereinten Deutschland hätten 1990 erst ausgeräumt werden müssen, erinnerte Borgwardt, seither baue man auf das Prinzip von Offenheit und Gestaltung. Freilich gebe es noch regionale Unterschiede, beispielsweise in der Wirtschaft und beim Altersdurchschnitt. Dies sei allerdings kein typisches Ost-West-Phänomen mehr. Die Wirtschaftsleistung Ostdeutschlands liege bei etwa 79 Prozent des Niveaus von Westdeutschland, informierte Borgwardt. Für das Jahr 2025 sei endlich die Angleichung der Renten vorgesehen.

Die Einheit Deutschlands sei auch die Geburtsstunde des Landes Sachsen-Anhalt gewesen. Zwar hätten seit der Wende über 650 000 Menschen das ländliche Sachsen-Anhalt verlassen, aber dieser Negativtrend sei mittlerweile gestoppt worden. Die schlechte wirtschaftliche Ausgangsbasis hätte das Land zum Teil hinter sich gelassen. Borgwardt warb dafür, „stolz auf das Erreichte zu sein, das Gewesene nicht zu vergessen, aber den Blick nach vorn zu richten“. Dazu gehöre auch, konsequent gegen alle Feinde der Demokratie vorzugehen.

Beschlüsse zur Sache wurden am Ende der Regierungserklärung und deren Aussprache nicht gefasst.